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Familie Fisch macht Urlaub: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten
Familie Fisch macht Urlaub: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten
Familie Fisch macht Urlaub: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten
eBook236 Seiten3 Stunden

Familie Fisch macht Urlaub: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten

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Über dieses E-Book

Sommer des Jahres 1961: Es läuft nicht gerade rund bei der Erfurter Hausmeisterfamilie Fisch, schon das achte Kind ist unterwegs, die Wohnung ohnehin längst viel zu klein, die Versorgung insgesamt schlecht und die Schulkinder werden von ihren Lehrern bespitzelt. Als sich auch noch die egoistische Mutter von Vater Fisch bei ihnen ein- quartieren will und er es nicht schafft, sich ihr zu widersetzen, ist Mama Fischs Geduld ein für allemal zu Ende – zig- tausend DDR-Bürger hauen in diesen Tagen ab in den Westen, warum sollten die Fischs (ohne Schwiegermutter, versteht sich) das nicht auch schaffen! Mama lässt ihrem Mann keine Wahl mehr, und so planen die Eltern einen "ganz besonderen Urlaub"
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Dez. 2019
ISBN9783866382923
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    Buchvorschau

    Familie Fisch macht Urlaub - Michael Wäser

    68er-Bewegung)

    Kommt ein Wölkchen angeflogen

    Irgendwann würde Hempel fliegen, das wusste Carla ganz genau. Hempel war das allerschönste und liebste Huhn von allen Hühnern der Familie Fisch, fand jedenfalls das Mädchen, und deshalb hatte Carla ihm auch einen Namen gegeben. Sie wusste nicht, ob Hempel ein Hahn oder eine Henne war. „Das kann man bei Hühnern erst später erkennen, sagte Carlas Mutter immer. „Aber fliegen können diese Hühner nicht. Wenn man erst viele Wochen nach dem Schlüpfen sehen konnte, ob Hempel eine Henne oder ein Hahn war, warum sollte das Tier irgendwann nicht auch fliegen können? Es war ein ganz besonderes junges Huhn. Hempel kam Carla immer entgegengerannt, wenn die Achtjährige über den alten Schulhof lief, der zur Betriebsberufsschule des „VEB Hochbau Erfurt" gehörte. Dann hob Carla Hempel vom Boden hoch und herzte sie – oder ihn. Das braun-weiße, halbwüchsige Huhn fühlte sich weich an wie Seide und pickte zärtlich gegen Carlas Nase. Jeden Abend wünschte Carla Hempel eine gute Nacht, bevor sie selbst ins Bett musste. Carlas Eltern wussten nicht, dass ihre zweitjüngste Tochter ein Lieblingshuhn hatte, auch nicht, dass es Hempel hieß. Das war Carlas Geheimnis.

    Für Carlas Vater, Rainer Fisch, Hausmeister der Schule, waren die Hühner einfach gut, um die Familie mit frischen Eiern zu versorgen, ab und zu auch mal mit einer schönen Hühnersuppe oder einem Brathähnchen. Bei sieben und nun bald acht Kindern, die satt werden wollten, durfte man natürlich nicht so häufig Hühner schlachten, sonst wären bald keine mehr übrig gewesen, die Eier legen konnten. Rainer dachte da ganz praktisch. Er war Stadtkind, in Erfurt groß geworden, von seiner Mutter gleichzeitig verwöhnt und beherrscht und gegenüber den Geschwistern bevorzugt. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt, seine Mutter Lisa weigerte sich noch heute, die Identität seines Vaters preiszugeben, und falls seine Geschwister, allesamt älter als er, sie kannten, hatten sie bisher absolut dichtgehalten. Warum er nicht als Geschichtslehrer arbeitete, wie er es eigentlich wollte, verstand Carla nicht. Schließlich hatte er vom Krieg eine kaputte Hand und konnte manche Hausmeisterarbeiten nur mit Mühe erledigen. Er ärgerte sich darüber aber seltener, als es Carlas Mama tat. Sie ärgerte sich ziemlich häufig und schimpfte auf irgendwen, auf „die da". Besonders, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, schimpfte sie ganz allein vor sich hin.

    Carlas Mama Erika mochte die Gegenwart der Hühner, weil diese gleichermaßen gewöhnlichen wie urtümlichen Vögel sie an ihre Kindheit erinnerten. Sie war auf einem kleinen Bauernhof in der Nähe von Stralsund aufgewachsen, mit vielen Geschwistern und einem ewig besoffenen Stiefvater. Ihre Mutter Anna hatte in dem rückständigen Dorf als Hexe gegolten, weil sie mit ihren Tieren sprach wie mit Menschen. Vor allem, wenn ein Tier krank war, zog sich Anna mit ihm in den Stall zurück und redete mit ihrem Patienten. Meistens ging es dem Tier bald wieder besser. Vielleicht hatte sich diese Vorliebe oder Fähigkeit von der Großmutter auf Carla vererbt. Manchmal schien es Erika, als habe die kleine Carla zwischen ihren zarten, hellblonden Locken hochempfindliche Antennen für die Dinge, die in der Luft lagen. Was Erika wohl zu den intimen Gesprächen zwischen ihrer Tochter und Hempel gesagt hätte? Ihre Kinder waren ihr ohnehin manchmal unheimlich, und so war es wohl besser, dass sie nichts davon wusste.

    Carla verfügte tatsächlich über eine Art Antennen, natürlich nicht auf ihrem Kopf, sondern in ihrem sensiblen Wesen, ihrer ausgeprägten Fantasie, die immer irgendwie in Verbindung mit dem stand, was sie umgab. Carlas besonderes Gespür für die Dinge hatte das Mädchen auch veranlasst, seine besondere Freundschaft mit Hempel nicht an die große Glocke zu hängen. Ihre Geschwister hätten sie bloß gehänselt, vor allem Siegfried und Norbert. Die beiden interessierten sich überhaupt nicht für die Hühner, Norbert jagte sie sogar manchmal mit seinem klapprigen Holzroller wie ein Verrückter über den Schulhof, und Siegfried pfiff dazu auf den Fingern. Wenn Carla das sah, wurde sie immer fuchsteufelswild. Zum Glück wollten ihre Eltern auch nicht, dass die Hühner gejagt wurden. Indem sie drohte, sie zu verpetzen, konnte Carla sogar ihren frechen jüngeren Brüdern Einhalt gebieten. Sonst machte sie so etwas nicht. Petzen hasste Carla. Aber für Hempel, für ihr geliebtes kleines Huhn, würde sie alles tun.

    An diesem Abend aber würde sie Hempel später als gewöhnlich gute Nacht sagen. Dieser Abend vor dem letzten Schultag war nicht wie sonst. Heute würde etwas Besonderes geschehen. So besonders, dass Carla sich nach dem Abendessen freiwillig zu ihren Brüdern „Sigi und „Bemme auf das alte Sofa im Wohnzimmer setzte, oben in der Dachwohnung der Hausmeisterfamilie Fisch: Heute Abend, so hatte ihr Papa angekündigt, habe er eine riesengroße Überraschung für seine Familie. Er meinte damit das nagelneue Fernsehgerät, das er zusammen mit seinem Jugendfreund Otto im Wohnzimmer aufbaute. Carla hatte allerdings das Gefühl, dass der Fernseher an diesem Abend des 6. Juli 1961 nicht die größte Überraschung sein würde. Otto Schimmelpfennig und Rainer Fisch waren Freunde, seit sie sich erinnern konnten. Sie hatten in der Volksschule dieselbe Klasse besucht, hatten die Streitereien der Roten und der Nazis in Erfurt vom Fenster aus beobachtet wie ein Fußballspiel, hatten sich gemeinsam vor der HJ gedrückt, hatten ihre Lehre in den ersten Kriegsjahren absolviert – Rainer als Schlosser, Otto als Klempner. Gegen Ende des Krieges waren sie gerade alt genug gewesen, dass man sie noch in die Wehrmacht einzog. Otto hatte dabei mehr Glück und konnte wegen seiner totalen Unfähigkeit, eine Waffe zu benutzen, die Monate in Deutschland im Innendienst abreißen. Rainer schickte man nach Frankreich und Russland, wo es ihn im letzten Kriegsjahr bei einem Granatenangriff so schlimm erwischte, dass man ihn für tot hielt. Nur durch Zufall bemerkte jemand, dass sich einer der schlimm zugerichteten Körper auf der blutigen Ladefläche des Pferdewagens bewegte. Zahlreiche Splitter hatten Rainers Gesicht verletzt, seine Jacke durchsiebt und drei Finger seiner rechten Hand abgerissen – danach sah er einfach genau so tot aus wie die anderen zerfetzten Soldaten. Die anschließenden Operationen retteten zwar Rainers Leben, aber sein Gesicht und seine Hand blieben entstellt, sein Körper von Narben und eingeschlossenen Splittern übersät. Otto war danach der Einzige gewesen, vor dem sich Rainer nicht schämte, und mit ihm zusammen hatte er sich nach dem Krieg wieder auf die Straße, sogar eine Reise nach Berlin gewagt. Otto hatte auch nach dem Krieg an der alten Rollenverteilung festgehalten: Rainer produzierte die Ideen, Otto machte mit. Wie wichtig er für Rainer in Wirklichkeit war, begriff er nicht, er machte sich darüber auch keine Gedanken. Rainer war sein bester Freund, und zu seinem besten Freund hält man eben, unverbrüchlich. Für dieses Prinzip gab es nur eine einzige, heimliche und gerade deshalb so schmerzvolle Ausnahme, von der sich Otto einfach nicht befreien konnte, so sehr er es auch wünschte – jedenfalls noch nicht.

    Am Abend dieses ersten heißen Julitages im Jahr 1961 bedeutete Freundschaft für Otto, mit Rainer das erste Fernsehgerät der Familie Fisch vier Stockwerke hoch ins Wohnzimmer zu schleppen, auszupacken und sich dann erschöpft und schweißüberströmt auf den Teppich zu setzen.

    „Papaaa! Weg! Weeheeeg!"

    „Weg da Papa!!!"

    „Der will nich, dass wir gucken! Das neue Fernsehn!"

    Rainer Fischs Rücken war, obwohl der gelernte Maschinenschlosser nur ein ausgeleiertes Unterhemd trug, eindeutig zu breit für die ungeduldigen Kinder auf dem Sofa, aber der Empfang haute einfach noch nicht hin, andauernd musste die Antenne neu gedreht werden, bis das Bild für kurze Zeit stimmte. Der mehrfache Vater war kein großer Mann, aber auch kein kleiner. Seine Behinderung machte er durch besondere Ausdauer wett und dadurch, dass er keine Scheu vor körperlicher Anstrengung hatte. Das konnte man seinem bis vor Kurzem noch recht hageren Körperbau immer deutlicher ansehen. Die Entbehrungen der Nachkriegsjahre hatten seine äußere Erscheinung lange geprägt, doch jetzt zeigte sich mehr und mehr, dass der Sechsunddreißigjährige eigentlich ein sportlicher und muskulöser Mann war, dessen Vitalität nicht mehr nur durch seine braunen Augen blitzte. Wenn er sich mit Freunden zum Skat traf, konnte er vollkommen die Zeit vergessen, und die Kraft, mit der er zuweilen eine Karte auf den Spieltisch drosch, flößte seinen Kindern einige Ehrfurcht ein. Auch ihm selbst entging diese körperliche Veränderung nicht, und, kurz gesagt, er genoss sie. Sein zerrüttetes Selbstbewusstsein konnte womöglich in dieses neue Volumen hineinwachsen. Eine derartige Energie wie beim Skatspielen legte er jedoch nicht überall und jedem gegenüber an den Tag, was natürlich ganz vernünftig war, doch wie sehr er sich bei manchen Gelegenheiten noch immer in Unentschiedenheit, Passivität oder auch schlichte Abwesenheit flüchtete, missfiel vor allem seiner Ehefrau und hatte keinen geringen Anteil an dem, was sehr bald auf ihn, seine Frau und seine Familie zukommen würde.

    „Immer wenn sich jemand bewegt, geht alles wieder zum Teufel", brummte Rainer, fast ebenso ungeduldig wie die drei Zwerge auf dem Sofa. Er war allerdings der Einzige im Raum, der sich wirklich bewegte. Der lange, schmale Otto saß völlig erledigt auf dem Teppich und wischte sich abwechselnd den Schweiß von der Stirn und den Dunst von seinen beschlagenen Brillengläsern, damit er überhaupt eine Chance hatte, etwas zu sehen. Jenseits des Sofas fütterte die zwölfjährige Maren, älteste Tochter der Fischs, am Esstisch die Jüngste, Manuela, die schon in wenigen Monaten nicht mehr das jüngste Kind der Familie sein würde, mit Brei. Am anderen Ende des Tisches las Marens älterer Bruder Franz in einem uralten Hans-Dominik-Abenteuer, das er unter dem Dach gefunden hatte, und kümmerte sich kaum um den neuen Fernseher. Beide waren große Talente im Kunstturnen und besuchten statt der Regelschule die Erfurter Kinder- und Jugendsportschule. Wer auf eine solche Schule ging, musste nicht nur ein außergewöhnlicher Sportler sein, sondern jetzt gute Noten schreiben. Sie hatten sich vor Kurzem sogar beide für die Jugend-Spartakiade im nächsten Jahr in Moskau qualifiziert. Man sollte meinen, dass man als Schüler dieser Schule und mit solchem Erfolg im Rücken über ein gesundes und begründetes Selbstvertrauen verfügen konnte, doch zu Maren war diese Erkenntnis offenbar noch nicht durchgedrungen. Während Franz trotz seiner buchstäblich aus allen Poren hervordringenden Pubertät gänzlich in sich zu ruhen schien, war Marens Ego so empfindlich wie eine Pusteblume im Hochsommer. Und nicht nur das. Sie zog Missgeschicke geradezu an, steckte in einem wahren Teufelskreis von banger Erwartung und realem Unglück, das nicht selten aus ihrer Unsicherheit resultierte, welche wiederum Folge ihrer Erwartung war … Nur beim Turnen verflog ihre Angst und verwandelte sich in konzentrierte, ja verbissene Hartnäckigkeit, die sie über Rückschläge hinwegtrug und Maren zur Musterschülerin ihrer Turntrainerin machte. Den Flick-Flack auf dem Schwebebalken absolvierte Maren mit verblüffender Selbstverständlichkeit. Am Boden jedoch, mit Anlauf und in Verbindung mit einem hohen Schraubensalto, der sie wieder mit dem Gesicht in ihre Lauf-, beziehungsweise Flugrichtung und mit den Füßen sicher auf den Boden bringen sollte, verlor sie ihre Kontrolle und Form irgendwo vor dem Scheitelpunkt ihres Fluges, verwandelte sich von einem elegant springenden Fischlein in ein grotesk verrenktes, panisch nach Halt suchendes Insekt und landete vorzeitig und meist schmerzhaft auf irgendeinem Körperteil, das nicht Maren, sondern der Zufall bestimmte. Was ein atemberaubend hoher und weit gespannter Bogen werden sollte, brach immer wieder in einem verzagten Purzeln zusammen. Doch sooft deswegen übte Maren diesen Sprung, wann immer sie Gelegenheit – und genügend Polster am Boden – dafür fand. Momentan machte sie dabei zwar keine Fortschritte, aber das war ein rein mentales Problem, das sich irgendwann würde lösen lassen. Nicht mehr lange, und sie würde bei großen, internationalen Wettkämpfen antreten, da war die Trainerin sich ganz sicher. Was Franz’ Karriere anging, war sich dessen Trainer nicht ganz so sicher. Franz hatte unbestreitbar großes Potenzial und sichtlich Spaß am Turnen, aber er nahm die Sache nicht immer ernst, kasperte lieber herum, als sich an einem Problem festzubeißen und sich zu stellen. Seltsamerweise schien das Kaspern manchmal, nicht immer, zu helfen. Franz konnte plötzlich einfach, was andere nur durch mühsames Training erreichten. Aber verlassen wollte und konnte sich sein Trainer darauf nicht. Er war einer der alten Schule und hatte einen ebenso einfachen wie fantasielosen Grundsatz: Ohne Schweiß kein Preis.

    So viel Prinzipientreue konnte sich Erika Fisch nicht leisten. Die momentan sieben Kinder, die sie mit ihrem Mann großzog, sorgten schon dafür, dass sich sowohl die Anzahl der eisernen Regeln als auch ihre Gültigkeitsdauer in überschaubaren Grenzen hielten. Erika hatte im Laufe der Jahre zu einer stillen, aber bestimmten Art gefunden, wie sie das alltägliche Chaos in praktikable Bahnen lenkte, und meistens funktionierte das ganz gut. Große Sprünge hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht machen können, das erwartete sie auch nicht. Sie wollte einigermaßen zurechtkommen, ihre Kinder gut versorgen, das nächste Kind gesund zur Welt bringen und es nicht wieder wenige Wochen nach der Geburt verlieren, wie sie schon einmal eines verloren hatte. Was sollte man denn groß anstreben? Jetzt besaßen sie sogar ein Fernsehgerät. Das hatte sie ihrem Mann kaum zugetraut. Niemand in der Nachbarschaft hatte einen Fernseher, jedenfalls keinen neuen. Richtig stolz war sie an diesem Abend auf ihren Rainer. Ein regelrechtes Geheimnis hatte er daraus gemacht, und auch jetzt noch rückte er nicht damit heraus, wie er an dieses funkelnagelneue Gerät gelangt war und woher er so viel Geld übrig hatte. Beim Abwaschen des Abendbrotgeschirrs lugte sie immer mal wieder ins Wohnzimmer, um den kollektiven Fortschritt bei der Sicherstellung des TV-Empfangs zu verfolgen. Gerade schien das Fernsehbild klar zu sein, und die Kinder starrten elektrisiert auf das kleine Männchen, das ihnen eine Gutenachtgeschichte erzählen wollte.

    Nun, liebe Kinder, gebt fein Acht! Ich hab euch etwas mitgebracht.

    Rainer stemmte die Arme in die Hüften.

    „Na, Kinners? Erika? Is das ’n Ding? Hat noch keiner in der ganzen Straße! Otto! Otto?"

    „Was? Ja, doll, ja, keuchte Otto blinzelnd und war eigentlich mit der Frage beschäftigt, welcher Sandmann da aus dem Gerät, auf dem „Patriot stand, zu ihnen sprach, ob es der erwünschte, der patriotische Sandmann war oder der unerwünschte. Besser, man ging kein Risiko ein. Mit einem Risiko zu leben, strengte die Nerven wahnsinnig an, das war ihm nur allzu klar.

    Die Wohnungstür sprang auf. Markus, der Älteste, wusste genau, dass er das Abendessen verpasst hatte, obwohl er gerannt war. Daher tat er lieber so, als habe er etwas ganz Dringendes zu tun, und wollte das Wohnzimmer so schnell er konnte durchqueren. Sein Vater, der die Prinzipien in der Familie gerne auch mal lautstärker und auffälliger durchzusetzen versuchte, baute sich vor ihm auf, was ihn wieder in ungünstige Position für den Fernsehempfang brachte und die Kinder hell aufschreien ließ.

    „Weg, Papa!"

    „Psssst!"

    „Blödi."

    „He Markus! Papaaa!"

    Rainer gab den Durchgang für Markus frei. Das flimmernde Fernsehmöbel entging dem Fünfzehnjährigen mit Elvis-Tolle natürlich nicht.

    „Da guckste, was? Wo kommst du her jetzt? Kriegst du woanders besser zu essen?, fragte Rainer. Markus schickte seinem Vater ein leidlich anerkennendes „Hey! Hast du den beschafft? entgegen, bevor er seine Schultasche auf einen Stuhl schmiss und das Badezimmer ansteuerte.

    „Klar hab ich. Euer Vater tut was für die Familie!", rief Rainer ihm hinterher. Das sollte ruhig die ganze Familie hören, jetzt waren ja alle beisammen.

    „Markus, ’s gibt noch Brot in der Küche", ließ Erika ganz schlicht vernehmen, als sie aus der Küche ins Zimmer trat. Markus war einfach anders als ihre anderen Kinder, er verbrachte seine Zeit lieber außerhalb der Familie. Das war inzwischen für alle seine Geschwister ganz normal, auch wenn sie nicht wussten, warum er anders war. Erika wusste es. Rainer wusste es. Dabei sollte es auch bleiben. Ob Markus selbst es wusste? Manchmal kam es Erika so vor, zumindest erschien er ihr dann so, als wisse oder ahne er es. Von ihr hatte er jedenfalls nichts erfahren. Besser gar nicht darüber reden.

    „Wir haben noch wegen der Russischarbeit morgen gesessen!", rief Markus aus dem Bad.

    „Bei deinem Kumpel oder bei seiner Schwester?", parierte Rainer.

    „Leise! Papaaa!", zischten die Kinder vom Sofa, denn die unglaubliche Geschichte, die das Sandmännchen ihnen präsentierte, erforderte ihre volle Aufmerksamkeit.

    „Bei Manni!", kam es aus dem Bad.

    Rainer öffnete Markus’ Schultasche und fand darin neben dem Schulzeug zwei Elvis-Singles:

    „Russischarbeit, am letzten Schultag vor den Ferien!" Erikas Hand senkte sich auf Rainers Schulter und verhinderte, dass er sich wieder in Spott hineinsteigerte.

    „Bin stolz auf dich", sagte sie und lenkte den Blick ihres Mannes wieder auf den Fernseher, das neue Familienmitglied. In diesem Moment schrie Maren auf, als habe sie eine tote Ratte im Babybrei gefunden. Alle drehten sich zu ihr um. Der Brei hatte ihr Gesicht gefunden, direkt aus Manuelas Mund. Das kleine Mädchen quietschte vor Vergnügen.

    „Mama, die Manuela … hat mir … den ganzen Brei …"

    „Kann sie doch wieder ablecken!", grölte Sigi.

    „Iiiih!", schrie Maren, hilflos und gelähmt vor Scham. Schon wieder war ihr etwas passiert. Immer nur ihr. Norbert nahm seinen Bruder beim Wort und leckte ihm eine volle Breitseite über die Backe.

    „Ääääh, du Sau!", schrie der, stieß den kleinen Bemme von sich weg direkt auf Carla, die kicherte, und rieb seine Backe wie wild an der Sofalehne trocken. Bemme und Carla lachten sich krumm.

    „Du stinkst vom Mund!", ächzte Norbert

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