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Der Stammbaum
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eBook127 Seiten1 Stunde

Der Stammbaum

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Über dieses E-Book

Paul und Stefan sind beide mit einer Frau verheiratet. Alle zwei Wochen treffen sie sich in Wien, um ihr Verlangen nach einem Mann zu stillen. Im Gegensatz zu Stefans Gattin ahnt Pauls Ehefrau Edith nichts davon. Als Edith bei einem Autounfall ums Leben kommt, bricht für Paul eine Welt zusammen. Vermehrt versucht er sich an Stefan zu klammern. Um Ediths Verlust zu verkraften, machen sich Paul und seine Kinder ans Säubern und Entrümpeln des Hauses. Pauls Sohn Philipp findet dabei im Keller einen Stammbaum aus Messing. Der unbenutzte Familienbaum lässt in Paul einen Plan keimen, der fatale Folgen hat.
SpracheDeutsch
HerausgeberHomo Littera
Erscheinungsdatum30. Juni 2014
ISBN9783902885609
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    Buchvorschau

    Der Stammbaum - Paul Senftenberg

    Stammbaum

    1

    Als seine Frau Edith bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, sah sich Paul unvermittelt in einer Situation, die er in Gedanken schon des Öfteren durchgespielt hatte; denn immer, wenn ihm seine Ehe als eine Art Gefängnis vorgekommen war, hatte er sich der Vorstellung hingegeben, wie es wäre, frei zu sein. An dem Morgen, an dem er durch einen Anruf seiner Schwägerin von Ediths Tod erfuhr, saß Paul auf einer Schaukel auf dem Kinderspielplatz in einem Park unweit des Wiener Südbahnhofes. In der Hoffnung das Koffein würde ihn wach machen, hatte er noch eine mitgebrachte Dose Kaffee geleert, doch der erwünschte Effekt war nicht eingetreten. Paul war am Eindösen, da ließ ihn das Läuten auffahren. Er versuchte, an das Handy zu kommen, kriegte es im schwankenden Sitzen aber nicht aus der Hosentasche. So rappelte er sich auf, dabei stieß er die Dose um, die er vorhin neben sich auf dem Boden abgestellt hatte. Der letzte Rest Kaffee floss in den Rindenmulch unter der Schaukel. Paul kümmerte sich aber nicht darum und fummelte das Handy hervor. Das dauerte so lang, dass er gar nicht mehr auf das Display sah, sondern sich gleich meldete.

    Die Stimme der Schwester seiner Frau klang ganz anders als sonst. Paul erkannte sie erst nach dem dritten Nachfragen, obwohl sie auch dann ihren Namen nicht genannt hatte. Sie schluchzte, ihre Verzweiflung griff über die große Entfernung, die sich zwischen ihnen befand, nach Paul und auf ihn über, sodass es ihm auf einmal vor Angst kalt über den Rücken lief. Dann, endlich, konnte er sich einen Reim auf das machen, was sie ihm unter Tränen zu sagen versuchte. Es zog ihm den Boden unter den Füßen fort.

    Zwei Stunden später war Paul daheim. Er hätte nicht sagen können, wie er dorthin gekommen war. Das Lenken geschah mechanisch, die ganze Autofahrt wie in Trance. Nicht einmal vom Spielplatz zu seinem Auto zu gelangen, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und ihn herumzudrehen, einzusteigen und zu starten war bewusst passiert. Aber Paul stieg aufs Gas, als könnte er dadurch noch etwas ändern.

    Edith war tot, und rund um ihn und in ihm drinnen war die Welt zu einem Stillstand gekommen. Jede auch noch so hypothetische Vorstellung von einem Leben ohne Edith, wie sie ihm bisweilen durch den Kopf gegangen war, eine Idee, von der er im Grunde genommen immer schon gewusst hatte, dass sie nicht wirklich etwas mit ihm zu tun hatte, war innerhalb weniger Sekunden zu den dummen und unsinnigen Gedankenspielen eines Idioten geronnen.

    Und da waren Philipp und Viola. Sie lagen einander in den Armen, und keiner von ihnen war fähig, ein Wort herauszubringen. Die Zeit lief in rasendem Tempo rückwärts, und Edith hatte gar keinen Unfall gehabt, sie war draußen im Garten auf dem Kippstuhl in der Sonne: Gib acht, Edith, mit deinen vielen Muttermalen solltest du dich besser in den Schatten legen, aber komm doch lieber herein, die Kinder haben einen Kuchen gebacken, einen Biskuitboden haben sie mit schönen reifen Erdbeeren belegt, einen Ferienfeierkuchen sozusagen, in solchen Momenten hast du doch immer gemeint, wie glücklich wir uns schätzen könnten, solch wunderbare Kinder zu haben, angestrahlt hast du mich und die Kinder dann, dass es den beiden fast peinlich wurde, und ja, dort draußen ist Edith, ist eure Mama, Kinder, wartet, ich werde gehen und sie zu uns hereinholen, wir gehören einfach zusammen, mein Platz ist hier bei euch, mein Platz ist nicht in einem Wiener Park, ganz allein am frühen Morgen, und Ediths Platz ist auch hier, nicht bei einem Klassentreffen, von dem sie mitten in der Nacht heimfährt und dabei, weil sie zu viel getrunken hat, die Kontrolle über ihren Wagen verliert, nein, das ist alles Unsinn, das ist alles nicht so abgelaufen, Edith ist nicht tot, Edith lebt, Edith …

    Alles, was Paul inmitten all dieses Wirrwarrs in seinem Kopf denken konnte, war Ediths Name. Ihr Gesicht, zu einer weißen Fratze mit blutigen Rissen verzerrt, umschwirrte ihn wie eine Heimsuchung, der zu entrinnen ihm nicht gelang. Alles, was ihn davor bewahrte, den Verstand zu verlieren, waren seine Kinder, an denen er sich festklammerte und die sich an ihn klammerten, als wäre es ihrem Vater möglich, ihnen Halt zu geben.

    2

    Schon als Kind hatte Paul bewundert, wie die Mitglieder der Familien in den Fernsehserien Daktari, Flipper oder Skippy füreinander durch dick und dünn gingen. Da stand ihm eine Form von unausgesprochener Übereinkunft zwischen den Vätern und ihren Kindern vor Augen, wie er sie in seinem Leben nicht kannte. Die Schauplätze der einzelnen Episoden waren für den kleinen Paul exotisch, die Geschichten allesamt sehr aufregend; da gab es Wilddiebe, denen es das Handwerk zu legen, und verunglückte Menschen, die es zu retten galt. Das Geheimnis des Erfolges beim Meistern dieser Gefahren lag darin, dass die Familienmitglieder ohne Wenn und Aber zusammenhielten. In den Stationen des weißen Urwalddoktors in Afrika, des Park Rangers von Coral Key oder des Wildhüters des australischen Waratah National Parks herrschte ein entspanntes Miteinander, das Paul ungemein imponierte. Dass es in der Figurenkonstellation dieser Fernsehserien keine Mütter gab, ohne dass dies abgesehen von hin und wieder einem tragischen Blick der Erinnerungen groß thematisiert wurde, fiel dem Jungen besonders auf. Obwohl die Abwesenheit der Mütter für den Handlungsverlauf keine Rolle spielte, gewann sie für Paul eine Bedeutungsschwere, die ihm nicht wirklich bewusst war, die seine Sichtweise der Fernsehserien aber ebenso beeinflusste wie jene seines eigenen Lebens.

    In Pauls Lebenswirklichkeit hatten nämlich weder die Mutter noch sein Vater Zeit und Energie, sich ihrem Sohn auf eine Weise zu widmen, wie er sie in den Serien mitbekam. Ende der Siebzigerjahre kommunizierten die Eltern nur noch schreiend und mit Untergriffen aneinander vorbei, was Paul verwirrte und verstörte und dazu führte, dass er eigentlich keine Nacht durchschlief. Oft wachte er auf und lauschte ängstlich in die Dunkelheit, in der bangen Erwartung, Vater und Mutter wieder streiten zu hören. Erst als Paul zwölf war, fanden die Eltern den Mut, das einzige Chaos, zu dem ihre Ehe geworden war, zu beenden. Die wahren Gründe, die zu ihren Streitereien geführt hatten, hatte Paul nicht erfahren. Aus den Schreiduellen ging für ihn nur hervor, dass seine Mutter den Vater verdächtigte, jedem Rock hinterherzulaufen, und behauptete, Beweise für seine außerehelichen Aktivitäten in Form von verräterischen Flecken in seinen Unterhosen und seinem Desinteresse an ihr als Frau zu haben. Der Vater wiederum warf seiner Frau vor, kalt wie ein Fisch zu sein und im Bett wie ein Stück Holz herumzuliegen, was Paul erst in dem Jahr, das der Scheidung vorausging und in dem er begonnen hatte, sich für Bravo-Hefte zu interessieren, mit konkreten Vorstellungen zu verbinden wusste. Die Modalitäten der Scheidung wurden mit Paul nicht besprochen. Der Vater verschwand von einem Tag auf den anderen. Es gab diesen Moment des Abschieds, als er mit gepackten Koffern an der Wohnungstür stand und seinem Sohn, der zu ihm aufsah, ohne zu wissen, wie ihm geschah, mit einer fast unbeholfen wirkenden Geste durch die Haare strubbelte, die in diesem Sommer von der Sonne so ausgebleicht waren wie die von Sandy, einem der beiden Jungen, die an der Küste Floridas lebten und deren bester Freund der Delfin Flipper war. Dann war der Vater verschwunden, er zog nach Wien und Paul sah ihn bestenfalls einmal im Monat. Es standen ein Besuch im Prater oder im Haus des Meeres auf dem Programm, eine Pizza und anschließend ein großer Eisbecher und dazu Unterhaltungen, die Paul seltsam gestelzt und erzwungen vorkamen. Sie zogen sich mit immer längeren Pausen derart unangenehm in die Länge, dass er bereits nach dem dritten gemeinsamen Sonntag insgeheim betete, der Vater würde das nächste Treffen absagen. Denn so etwas wie echte Zuneigung, dieses Gefühl, das die ganze Zeit, die er mit dem Vater verbrachte, in seiner Brust hämmerte und hinauswollte, das sich aber in den Armen, die er ausstrecken und dem Vater um den Hals legen wollte, so verkrampfte, dass sie ihm wie gelähmt erschienen, vermittelte ihm dieser nicht.

    Hingegen entwickelte die Mutter in ihrer neuen Rolle als Alleinerzieherin auf einmal

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