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Emmi Mope und das Geheimnis des Schneckenhauses
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Emmi Mope und das Geheimnis des Schneckenhauses
eBook235 Seiten3 Stunden

Emmi Mope und das Geheimnis des Schneckenhauses

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Über dieses E-Book

Fünf Kinder verschwinden während eines Badeausflugs wie vom Erdboden, und nirgends findet sich auch nur der geringste Hinweis. Viele Monate später stößt die 12-jährige Emmi Mope, die schüchterne Außenseiterin des Dorfes, auf ein mysteriöses Schneckenhaus und entdeckt daran unerklärliche Spuren der verschollenen Kinder. Unverhofft gerät sie nun nicht nur in ein verborgenes magisches Reich, sondern auch fast in die Fänge des grausamen Königs, der dort herrscht. Auf ihrer verzweifelten Suche nach dem Ausgang kreuzen zwielichtige und gefährliche Gestalten Emmis Weg. Jedoch trifft sie auch unerwartet freundliche Wesen und findet neue Verbündete. Gemeinsam mit ihnen stellt Emmi sich mutig den vielen Aufgaben und Gefahren, bei denen ihr immer wieder ein kleiner Glücksbringer auf magische Weise hilft. Und für Emmi ist die Zeit gekommen, zu erkennen, was wirklich in ihr steckt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum27. Juni 2014
ISBN9783735765109
Emmi Mope und das Geheimnis des Schneckenhauses
Autor

Martina Temming

Martina Temming wurde 1972 in Gelsenkirchen geboren. Die Leidenschaft für Bücher und Geschichten begleitet sie bereits seit frühester Kindheit. Beruflich schlug sie mit einem Wirtschaftsstudium und Tätigkeiten im Marketing einen völlig anderen Weg ein und widmete sich erst später dem Schreiben eigener Kinder- und Jugendbücher. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Essen.

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    Buchvorschau

    Emmi Mope und das Geheimnis des Schneckenhauses - Martina Temming

    Neuanfang

    Kapitel 1

    Die verschwundenen Kinder

    Kalter, dicker Regen klatschte wie nasse Handtücher an die Fenster. Emmi fühlte sich so furchtbar, als ob gar keine Fenster die Kälte abhielten und es direkt auf ihre Haut regnen würde. Nein, sogar als ob es in sie hinein regnete. Sie kauerte in der Ecke ihres Bettes unter der Dachschräge und versuchte, an nichts zu denken. An etwas Schönes zu denken hatte sie schon längst aufgegeben, es funktionierte sowieso nicht. Bei dem, was ihr durch den Kopf ging, wäre „nichts" schon ein gutes Resultat gewesen. Aber selbst das vermochte ihr angesichts der Tage, die hinter ihr lagen, nicht gelingen. Und heute, am schrecklichen Höhepunkt der Ereignisse, war sie wie gelähmt und den dunklen, kreisenden Gedanken hilflos ausgesetzt.

    Heute, am späten Vormittag des 15. Novembers, hatte das ganze Dorf Little Aspen an einem „Begräbnis" von fünf Kindern aus Emmis Nachbarschaft teilgenommen – und das, obwohl keines der Kinder jemals tot aufgefunden worden war. Streng genommen hatte sogar niemand auch nur die geringste Ahnung, was den Kindern eigentlich zugestoßen sein könnte. Sie waren einfach wie vom Erdboden verschluckt.

    Vor inzwischen gut 15 Monaten nahm die Tragödie ihren Anfang, an einem Bilderbuchtag Ende Juli mit Sonnenschein, Schäfchenwolken und einer Luft wie samtene Schmetterlingsflügel. Am Nachmittag dieses Tages waren die fünf Kinder zum Baden in der Furt des kleinen Flusses Shanding wenige Hundert Meter südlich des Dorfes aufgebrochen. Als sie nach Einbruch der Dunkelheit noch immer nicht aufgetaucht waren, machten sich deren Familien zusammen auf den Weg zur Furt, um die Kinder zu suchen – allerdings vergeblich. Auch Zeichen für einen Unfall oder Überfall waren nirgends zu finden. Abgesehen von den Familien machten sich in Kürze auch die Nachbarn auf die Suche im Umkreis des vermutlich letzten Aufenthaltsortes der Kinder. Nur die ganz Alten und Gebrechlichen blieben zu Hause und taten das ihnen Mögliche, indem sie sich gegenseitig Mut und Hoffnung zusprachen und beteten. Als Einziger blieb wie immer der alte, stets griesgrämige und allen etwas unheimliche Mr. Brutus Blacksabbath für sich und schloss sich in seinem windschiefen Häuschen am Dorfrand ein – nicht ohne zuvor in seiner quäkenden Stimme übelste Prophezeiungen von Tod, Verletzung und Unheil hervorzustoßen, wodurch die ohnehin angstvolle Atmosphäre noch angeheizt wurde.

    Eng beieinander durchkämmten die Dorfbewohner Stunde um Stunde die Wälder und Felder, aber nirgendwo fand sich eine nennenswerte Spur. Lediglich ein paar auf dem Weg zur Furt verstreute Stückchen roten Glanzpa piers deuteten darauf hin, dass die Kinder diesen Weg am Nachmittag überhaupt genommen hatten. Billie, die Kleinste der Fünf, fürchtete sich seit jeher davor, sich zu verirren und hatte die Gewohnheit entwickelt, jeden längeren Weg mit Markierungen zu kennzeichnen – und seit ihre Mutter ihr das Märchen von Hänsel und Gretel vorgelesen hatte, verzichtete sie wie bis dahin üblich darauf, die Brösel ihres Pausenbrots zu benutzen. Stattdessen trug sie immer einen Fetzen Papier für diese Zwecke mit sich.

    Bis in die frühen Morgenstunden dauerte die Suche, bevor die ersten erschöpften Helfer zu einem wenig erholsamen, von beängstigenden Träumen durchzogenen Kurzschlummer in ihre Häuser zurückkehrten. Von da an wechselten sich die Dorfbewohner bei der Suche ab und ruhten sich in Schichten aus. Diejenigen, die nicht mehr gut zu Fuß waren, sorgten für Getränke und Essen oder nahmen Kontakt zu Freunden und Bekannten in der Umgebung sowie Zeitungsredaktionen und Radiosendern auf, um Suchaufrufe und Personenbeschreibungen durchzugeben. In jedem Aufruf wurde neben dem Aussehen und der Kleidung der Kinder zum Zeitpunkt des Verschwindens auch auf die roten Glanzpapierschnipsel hingewiesen, die einen Anhaltspunkt zu möglichen Aufenthaltsorten oder Wegen der Kinder liefern konnten.

    Zu Beginn klammerten sich die verzweifelten Familien und die mitleidenden Nachbarn und Freunde an die Hoffnung, die Kinder seien in einer Anwandlung von Übermut zu einer Abenteuerwanderung aufgebrochen. In den darauffolgenden Tagen redeten sich alle in beschwörender Verbissenheit ein, die Kinder würden sich bestimmt erst einmal nicht nach Hause zurücktrauen, aus Angst vor Strafe. Von Tag zu Tag sank jedoch die Hoffnung, die Kinder wieder wohlbehalten aufzufinden. Keiner der inzwischen landesweiten Suchaufrufe brachte irgendwelche brauchbaren Hinweise ein. Die Gegend um das Dorf herum war inzwischen so oft und nach jedem noch so kleinen Versteck oder nach jeder noch so verborgenen Falle durchforstet worden, dass kein Fleckchen Erde mehr übrig blieb, an dem die Kinder hätten sein können. Und auch die intensive Fahndungsarbeit der Polizei blieb erfolglos.

    Stockend begann das Leben im Dorf, wieder in seine Bahnen zurückzukehren. Nachbarn und Freunde gingen wieder zur Arbeit, erledigten ihren Haushalt und schickten die Kinder in die Schule. Die Stühle der verschwundenen Kinder wurden beiseite gestellt und neue Sitzordnungen vergeben. Weihnachten, Ostern und dann auch der schmerzliche Jahrestag des Verschwindens kamen und gingen. Alle griffen den betroffenen Familien so gut wie möglich unter die Arme. Dennoch zogen diese sich immer weiter von den anderen zurück, da sie deren Wunsch nach Normalität und Alltag zwar verstanden, aber nicht ertragen konnten.

    Mehr als ein Jahr nach dem tragischen Ereignis, einem windigen Tag Anfang November mit tiefhängender Wolkendecke und trübem Licht, trafen sich die Eltern aller verschwundenen Kinder mit steinernen Mienen und vom vielen Weinen ausgetrockneten Augen im Haus von Mr. Patterson. Er hatte an diesem verhängnisvollen Sommertag seine Tochter Charlene, wegen ihres hohen gackernden Lachens auch „Chickie" genannt, verloren. Keiner wagte, das erste Wort zu sprechen, doch alle fühlten, dass sie heute eine Entscheidung treffen würden, ja, treffen mussten, um nicht den Verstand zu verlieren und vor allem, um irgendwann wieder am Leben teilnehmen und Kraft für die verbliebenen Kinder und Angehörigen haben zu können. Und als würden Ausnahmesituationen auch die üblichen Rollenverteilungen über den Haufen werfen, meldete sich als Erstes die sonst so wortkarge Mrs. Catty zu Wort.

    „Wenn ich noch länger darauf warte, dass Paulus nach Hause kommt, obwohl ich eigentlich weiß, dass dies nicht geschehen wird, wird mein Herz in der Mitte durchreißen, flüsterte sie. „Dann wird Maisie nicht nur ihren Bruder, sondern auch ihre Mutter verloren haben. Und dass, wo ihr Dad sowieso schon so früh….

    Vergeblich versuchte sie, diesen Satz zu Ende zu bringen, aber ihre Stimme zerbrach wie Porzellan in kleinste Scherben. Mr. Patterson verzog schmerzlich das Gesicht. Auch für ihn war es nicht der erste schlimme Verlust. Vor knapp 10 Jahren hatte Mrs. Patterson mit der Erklärung, es würde ihr in diesem Dorf zu eng, ihn und die Kinder verlassen. Und nun hatte er auf tragische Weise das zweite Mitglied seiner Familie verloren.

    Nacheinander hoben alle Anwesenden die bis dahin zu Boden oder in die Ferne gerichteten Blicke und sahen sich an. Die Stille dehnte sich wie ein Hefeteig aus, und als die Anspannung fast nicht mehr zu ertragen war, stolperten Mr. McFinn die Worte fast ohne sein Zutun aus dem Mund.

    „Sie kommen nicht wieder, krächzte er. „Das spürt ihr doch auch, oder? Ich habe nicht die geringste Ahnung, was passiert sein könnte, aber ich fühle, das Eric…nicht mehr in dieser Welt ist.

    Einen Moment lang war es, als ob die Zeit stehen geblieben sei, dann rastete sie wieder ein und mehrere Dinge geschahen gleichzeitig. Mrs. Mirron, die Mutter der kleinen Billie, knickte in den Knien ein und stieß einen Laut aus wie ein verletztes Käuzchen. Mr. Mirron fing seine Frau auf und setzte sie dann auf dem Boden ab, da er selbst keine Kraft hatte, um sie zu halten. Mr. Patterson brüllte wie ein Löwe und stürzte sich mit geballten Fäusten auf Mr. McFinn, aber Mr. Lufferton, der Vater von Barney, packte ihn bei den Schultern und hielt ihn mit Gewalt fest. Mrs. Catty entfuhr ein erneuter Schluchzer und Mrs. McFinn wandte sich in einer abgehackten Drehung zum Fenster und drückte Stirn und Hände dagegen, als ob sie die Scheibe herausdrücken wollte.

    In dieses Durcheinander schnitt Sekunden später die schrille Stimme von Mrs. Lufferton. „Aber er hat doch recht! Er hat recht, und wir alle spüren dasselbe. Wie oft haben wir es einfach gefühlt, wie es unseren Kindern ging? Wenn sie plötzlich in der Nacht Fieber bekamen, sind wir ohne einen Laut von ihnen aufgewacht und haben nachgesehen, um sie dann glühend heiß in ihren Bettchen vorzufinden. Maureen, wandte sie sich an Mrs. McFinn, „weißt du noch, du hast mir davon erzählt, dass du einmal zur Schule gelaufen bist, obwohl Eric schon längst allein nach Hause kam. Du hast ihn mit einem verstauchten Fuß in dieser engen verlassenen Gasse am Kirchplatz gefunden, kaum fähig, noch einen Schritt zu laufen. Wir alle haben oft instinktiv gewusst, wenn es unseren Kindern gut geht und wurden unruhig, wenn etwas nicht in Ordnung war. Und jetzt spüre ich…gar nichts! Ich meine, ich spüre mein Kind nicht mehr, als ob jemand diese Verbindung durchgeschnitten hat, mit einem stumpfen, dreckigen Messer, so weh tut dieses Nichts. Und tut nicht so, als wäre es bei euch anders. Wir kennen uns alle schon lange. Wir können uns einfach nicht gegenseitig vormachen, dass einer von uns noch glaubt, das alles hier würde ein gutes Ende nehmen.

    Die letzten Worte verwehten fast mit ihrem Atem, so leise war ihre Stimme geworden. Aber jedes einzelne Wort stand noch einige Momente so klar im Raum, als hätte sie es sichtbar in die Luft geschrieben.

    Wieder sagte ein paar Sekunden lang niemand etwas. Aber dann ließ Mr. Lufferton die Hände von Mr. Pattersons Schultern rutschen, sackte in sich zusammen und sah mit einem Mal fast durchsichtig aus, als er mit gebrochener Stimme anfing, zu reden. „Ich wusste es vom Tag des Verschwindens an, dass Barney nicht zurückkommen wird. Es war, als ob ein Wind ihn von der Erde weggeweht hätte, keine Spur von ihm, kein Zentimeter seines Körpers war mehr da. Mein Verstand kann dies nicht fassen, es gibt auch keine passenden Worte hierfür, aber ich spüre es mit absoluter Sicherheit: Er ist fort, oder zumindest an keinem Ort, den irgendwer von uns kennt oder erreichen kann. Selbst den Zwillingen sehe ich an, dass sie so denken, und dabei sind sie erst 9 und haben sicherlich noch nichts Schrecklicheres in ihrem Leben erlebt als Zahnweh."

    Die nach wie vor am Boden kauernde Mrs. Mirron hob den Blick zu Mrs. Catty, mit der sie seit der Schulzeit eng befreundet war. „Ellen…?", hob sie fragend an, einen Augenblick später nickte Mrs. Catty erst leicht, dann immer heftiger.

    Die nächsten Bewegungen machten alle wie auf ein geheimes Kommando, und Sekunden später hielten sich die von ihrer Trauer und ihrer gemeinsamen Erkenntnis bis ins Mark erschütterten Männer und Frauen in einem wilden Knäuel umfangen. Sie wussten nun: Sie alle waren nun Waiseneltern und würden einen Schlussstrich unter die Suche nach ihren Kindern und damit unter ihre Hoffnungen ziehen.

    In den folgenden Tagen wurde zunächst die Polizei beauftragt, die Suche nach den Kindern aufzugeben. Auf jegliches Drängen der Polizisten, die Fahndung noch eine Zeitlang aufrechtzuerhalten, reagierten die Eltern übereinstimmend mit entschiedener Ablehnung, so dass die Suche eingestellt wurde. Auch sämtliche Hilfsaufrufe wurden gestoppt und Plakate mit Fotos der Kinder abgehängt. Im Gespräch mit dem Dorfpfarrer wurden die Möglichkeiten einer „personenlosen" Beerdigung diskutiert. Dieser versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun und zur Not jede geltende Kirchenregel außer Kraft zu setzen oder schlicht zu ignorieren, um den Eltern eine Begräbnisfeier nach ihren Wünschen zu gewähren.

    Nachdem der Termin für die Trauerfeier auf den 15. November festgelegt war und auf Wunsch der Eltern das ganze Dorf hierzu eingeladen wurde, bereitete sich in den Tagen davor jeder in Little Aspen auf dieses schmerzliche Ereignis vor. In den Schulen wurden schwarze Tücher aus den Fenstern gehängt, und plötzlich nahmen alle wieder die Leere wahr, die die verschwundenen Mitschüler hinterlassen hatten. Die Lehrerinnen und Lehrer rangen erneut vergeblich um Erklärungen und begnügten sich schließlich mit dem Einzigen, was sie tun konnten: sie hielten Hände, streichelten über Köpfe und tupften Tränen – und saßen dann selbst wie entsetzte Gespenster beisammen im Lehrerzimmer und teilten stumm ihre Trauer.

    Für Emmi waren diese Wochen und Monate noch aus anderen Gründen besonders schwer. Ohnehin war sie eine Außenseiterin, da sie erst vor zwei Jahren mit ihrer Mutter ins Dorf gezogen war. Ihre Eltern hatten sich kurz zuvor getrennt. Ihre Mutter trieb bei dem Umzug das Bedürfnis, nach dieser aufreibenden Zeit Ruhe und Frieden außerhalb der gewohnten städtischen Umgebung auf dem Land zu finden. Für die sowieso eher stille Emmi bedeutete dieser Schritt noch mehr Einsamkeit und das Gefühl, völlig entwurzelt zu sein. Die Kinder in der Schule konnten mit ihr nicht viel anfangen. Emmi interessierte sich so gut wie gar nicht für Spiele oder Beschäftigungen, die die anderen Kinder so begeisterten wie Schwimmen, Fußball oder Radfahren. Sie zog es vor, allein stundenlange Spaziergänge zu unternehmen, oder sie verlor sich beim Lesen, Puzzeln oder Basteln aufwändiger Steinchenmosaike.

    Ihre größte Leidenschaft war jedoch das Sammeln von Schneckenhäusern. Sie verfügte bereits über eine stattliche Sammlung, die sie in zahllosen Kartons aufbewahrte und alle paar Tage neu sortierte – nach Farbe, nach Fundort, nach Größe und noch nach vielen anderen Merkmalen, die sie sich immer wieder einfallen ließ. Die schönsten Exemplare standen und lagen verteilt auf ihren Regalen, ihrem Schreibtisch und ihrer Fensterbank. Oft schon war sie gefragt worden, was sie denn so an diesen Schneckenhäusern faszinierte. Sie hatte immer nur geantwortet, dass sie sie einfach schön fände. Doch insgeheim spürte sie manchmal eine fast körperliche Sehnsucht nach einem Schneckenhaus für sich selbst. Nach einem Zufluchtsort, in den sie sich – sollte das Leben zu schmerzlich oder gefährlich werden – jederzeit zurückziehen könnte. Dafür würde sie es sogar gern auf sich nehmen, ständig eine Last mit sich herumzutragen, wenn sie dadurch nur über einen stets zugänglichen Schutzraum verfügen würde.

    Mit ihrem Aussehen konnte sie zu ihrem Leidwesen auch nicht wirklich punkten. Zwar war ihr Gesicht recht hübsch. Allerdings war sie für ihre 12 Jahre sehr klein und zart und alles andere als sportlich, elegant oder sonst irgendetwas. Ihre glatten dunkelblonden Haare waren auch nichts Besonderes, und ihre grauen Augen hatten seit den familiären Problemen einen noch niedergeschlageneren Ausdruck als es ohnehin schon immer der Fall gewesen war.

    Und als sei dies alles noch nicht genug, um zum Außenseiter abgestempelt zu werden, gab es da noch ihren neuen Nachnamen. Obwohl sie sich mit ihrer Mutter ansonsten gut verstand, hasste Emmi sie fast dafür, dass sie und damit auch Emmi selbst nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen Mope angenommen und den schönen, unauffälligen Namen ihres Vaters – Paisley – abgelegt hatte. Mope – Trauerkloß – passte leider wirklich zu gut zu ihr. Vor allem für den Dorfanführer Barney Lufferton und seine Freundin Chickie Patterson war dies ein gefundenes Fressen, um sie so oft wie möglich aufzuziehen und zu verspotten. „Mopey – Dopey – Trauerkloß" riefen sie hinter ihr her und lachten sie aus, wenn sie daraufhin unbeholfen und mit rotem Gesicht fortstolperte.

    Oft hatte Emmi inbrünstig gewünscht, alle diese fiesen, mitleidlosen, in heilen Familien aufgewachsenen Kinder mögen einfach verschwinden oder es möge ihnen etwas Schreckliches zustoßen…

    …Und nun war es so gekommen, und Emmi verzehrte sich in Schuldgefühlen. Konnte man etwas so sehr wünschen, dass es tatsächlich geschah? Aber dann wäre ihr Vater noch bei ihnen und sie würde in einer heilen Familie leben. Denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemals jemand einen stärkeren Wunsch gehabt haben könnte, als sie sich dies wünschte. Außerdem war sie – wenn das überhaupt auf irgendjemandem im Dorf zutraf – so etwas Ähnliches wie befreundet mit dem ebenfalls verschwundenen Eric McFinn, für den sie sicher niemals etwas Schlimmes erhofft hatte. Er war der Einzige, der Emmi ein paar Mal gegen die Aufrührer verteidigt und diese aufgefordert hatte, etwas weniger rüde mit ihr umzuspringen. Manchmal hatte sie sich mit Eric auch unterhalten, zum Beispiel über Bücher, seltener auch über Schneckenhäuser, denn auch dafür hatte er immerhin ein kleines bisschen Interesse gezeigt.

    Billie Mirron und Paulus Catty kannte Emmi kaum. Sie hatten ihr nie etwas getan, allerdings hatten sie – vielleicht um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden – des Öfteren über die Scherze von Chickie und Barney auf ihre Kosten gelacht.

    Eric ausgenommen – um den sie ehrlich trauerte – schwankte Emmi somit in Bezug auf alle anderen verschwundenen Kinder zwischen Schuldgefühl und einem – wenn auch klitzekleinen – Fünkchen Schadenfreude, dass all diese verwöhnten Gestalten endlich mal die Realität kennenlernten. Eine Realität, die für Emmi schon viele Schmerzen bereitgehalten hatte und für die sie aufgrund ihrer melancholischen Natur offenbar besonders empfänglich war.

    Das heutige Begräbnis verstärkte nun noch einmal all diese widerstreitenden Gefühle, und es drückte sie innerlich schier zu Boden, als die Bilder der Beerdigung erneut an ihrem inneren Auge vorbeizogen:

    Zusammen mit ihren Klassenkameraden, die wie jede andere Klasse aus jeder Schule im Dorf geschlossen zum Begräbnis gekommen war,

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