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Ole, der Heide
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eBook178 Seiten2 Stunden

Ole, der Heide

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Über dieses E-Book

Die autobiografische Erzählung beschreibt die Kindheit und Jugend des Autors von 1954 bis 1973 am linken Niederrhein und spiegelt detailreich den Zeitgeist dieser Epoche. Immer wieder gelingt es der Hauptfigur Ole den Widrigkeiten seines Lebens zu trotzen und sich ein Gefühl des Aufgehoben Seins zu erobern.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum15. Jan. 2020
ISBN9783750220911
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    Buchvorschau

    Ole, der Heide - Uwe Holtschoppen

    Uwe Holtschoppen

          Ole

          der Heide

                        Eine Erzählung

    Duisburg

    Wenn Ole in Laune war, sich an seine frühe Kindheit zu erinnern, drängte sich als erstes ein Bild auf, bei dem er in einem Laufstall saß. Er sah durch die Gitter seine Geschwister und die Mutter rief aus der Küche, „lasst den Ole in Ruhe, hört auf ihn zu ärgern". Ole wusste sich in seinem Laufstall in Sicherheit und war dankbar für die Rückendeckung seiner Mutter. Er war wohl 1,5 Jahre alt und hatte noch drei, vier Jahre Zeit, bis zwei jüngere Geschwister auftauchen sollten. Bis dahin war er der Jüngste mit Anspruch, im Zentrum der Aufmerksamkeit und in der Nähe seiner Mutter zu sein. Ein mehrmonatiger Krankenhausaufenthalt wegen Lungenentzündung, Penicillin Überdosierung, Eiterfurunkulose und anderen Sachverhalten, die das Urvertrauen in seinem jungen Leben strapazierten, hatte ihn von seiner Familie entfremdet und alle mussten sich wieder an einander gewöhnen.

    Seine drei älteren Geschwister betrachteten ihn neugierig, stießen mit Stöcken nach ihm und riefen im Chor: „Heide, Heide, Heide, du kommst in die Hölle". Was auch immer eine Hölle sein sollte, offenbar nichts Gutes und vielleicht waren sie ja auch ein Teil davon.

    Durch seine Erkrankung und Abwesenheit war der Zeitpunkt für ein übliches Taufritual mit Paten (-Tanten) vorbeigegangen, eine Krankenversicherung gab es 1954 noch nicht und Geld war zu dieser Zeit kaum vorhanden. Jedenfalls war er ein Heide und damit bekam er eine exotische Identität, die ihn grundlegend von anderen unterschied. Nicht selbstverständlich Teil einer Gruppe zu sein, sollte ihn als Grundgefühl sein Leben lang begleiten.

    Seine Eltern waren ein halbes Jahr zuvor aus einer Kleinstadt am linken Niederrhein in eine große Stadt am Rhein gezogen. Nach Duisburg. 1954 eine sehr lebendige Stadt, es gab noch viele kriegsbedingte Trümmerlandschaften aber auch Wiederaufbau, große Geschäftsstraßen, lauter Verkehr und viele Menschen. Es strömten damals schon Menschen aus dem ost- und südeuropäischen Ausland in die Region auf der Suche nach Arbeit. Es gab Straßenbahnen, einen Zoo, meistens Strom und den Rhein. Der roch nach Fluss, Öl, Dieselabgasen und bildete in seinem ruhigen Dahinfließen einen wirksamen Ausgleich zur hektischen Betriebsamkeit der Stadt. Unzählige Schiffe transportierten Kohle und Erze, auf ihnen lebten die Schiffer, manchmal mit Familie. Ihre aufgehängte Wäsche flatterte statt Fahnen im Fahrtwind. Im Zentrum stand der Hafen, einer der größten Warenumschlagsplätze in Europa. Die Polizisten hatten Verständnis für die vielen Binnenschiffer und ließen sie gewähren, wenn die sich um Aufträge stritten, auch schon mal handgreiflich und Zerstreuung in den Hafenspelunken suchten, Prostitution war offiziell verboten.

    Oles Mutter sollte in Duisburg das Geld für die Familie verdienen und diese versorgen. Man wohnte in einem vom Krieg beschädigten Haus mit bröckelnder Fassade. Es gab viele Mietsparteien, die sich ein Klo im Treppenhaus teilen mussten. Oles Familie bewohnte eine Zweizimmerwohnung, es gab ein Schlafzimmer für die Kinder, die Eltern schliefen auf einer Klappcouch in der Wohnküche. Geheizt wurde nur die Wohnküche mit einem Ofen, der auch gleichzeitig der Herd war. In diesem wurde Holz verfeuert, der Kamin wurde nur unzureichend gewartet, es wurde viel gehustet.

    Um die Wäsche zu waschen, wurde heißes Wasser in großen Kübeln erhitzt, um die Familie zu waschen, auch. Samstags wurde die blecherne Zinkwanne aufgestellt und alle badeten im selben Wasser, manchmal gab es grüne Tab-ähnliche Zusätze, die nach Fichtennadeln rochen.

    Von Bedeutung war die Reihenfolge. Der Jüngste zuerst – das war Ole. Und der war zumindest anfangs nicht „ganz sauber. Seine Geschwister machten aus ihrem Entsetzen keinen Hehl, ekelten sich, beschimpften ihn, „was soll man auch von einem Heiden anderes erwarten.

    Bei aller Armut und nachkriegsbedingten zivilisatorischen Einschränkungen gab es für Ole auch so etwas wie Stallwärme. Bald machte er auch nicht mehr in das Badewasser seiner Geschwister, alle gewöhnten sich an einander. Das Gefühl, in einer dampfenden Küche frisch gebadet und mit einem frischen Handtuch trocken gerieben im Kreis der Familie gefüttert und dann in sein Bett gebracht zu werden machte klar, dass hier ein Ort der Geborgenheit war, Heide hin, Heide her.

    Oles Vater war gelernter Grafiker, arbeitslos und meist mit dubiosen Geschäftsleuten als „Vertreter unterwegs. Kaum 25, war ihm die Versorgung der Familie ein Dorn im Auge, daran änderte sich auch nichts mehr. Er richtete der Mutter ein Kaffeegeschäft im gleichen Haus ein, zeigte Improvisationstalent und dekoratives Geschick. Er malte bunte Mohrenbilder (waren sehr modern) und überall stand in großen Buchstaben „Arabica. Oles Mutter nahm ihn meistens mit in den Laden, genoss den Kontakt zu den Kunden, malte und verkaufte Kaffee. Ole mochte den Geruch und die vielen Schokoriegel, die er von begeisterten Kundinnen geschenkt bekam.

    Weniger mochte er, dass diese ihn sooo süüß fanden und ständig an ihm rummachten. Oft hatten sie schmieriges Fett auf den Wangen, schmierenden Lippenstift oder auch Maiglöckchenparfüm im Übermaß.

    Oft wurde Ole von 12-15-jährigen Mädchen stundenweise betreut. Diese übten Kinder versorgen, fanden ihn auch süß und wollten mit ihm schmusen. Sie waren aber ungeschminkt und Ole erlebte dies nicht als aufdringlich oder unangenehm, eher als besondere Zuwendung.

    Mit den Geschwistern und den anderen Kindern in dem großen Mietshaus spielte er bei gutem Wetter im Hinterhof. Dieser war eine Kraterlandschaft, Bomben und Granaten waren noch nicht restlos entsorgt und selbstverständlicher Bestandteil des Alltags, um den sich niemand sorgte.

    Hier wühlten die Kinder im Sand. Einmal fanden sie einen Ring und überbrachten diesen stolz ihrer Mutter. In ihrer Phantasie hatten sie einen Schatz gefunden, mit dem sie die existentiellen Sorgen der Eltern besiegt hätten. Die Aufregung darum wollte sich lange nicht legen, auch wenn sie erklärt bekamen, dass es sich wohl um ein wertloses Schmuckteil handelte. Zumindest im Spiel hatten sie einen Schatz gefunden wie in dem Märchen von Aladin und die Wunderlampe.

    Ole erinnert einen Nachmittag, an dem er mit seinen Geschwistern auf einem nahegelegenen Spielplatz war.

    Mit großem Entsetzen musste er mit ansehen, wie eine Horde Kinder und Jugendliche auf dem dort geparkten Opel Kapitän des Vaters rumhüpfte, die Scheiben einschlug, die Sitze aufschlitzte und die Technik auseinandernahm. Er schrie um Hilfe und immer wieder: „Das ist unser Auto". Seine Geschwister versuchten alles, um ihn davon abzuhalten, inklusive Würgegriff und Mund zu halten und zerrten ihn nach Hause – er verstand die Welt nicht mehr, blieb lange ratlos und verzweifelt. Dass sein Vater sein Auto kalt entsorgt, einfach die Nummernschilder entfernt hatte und nun dem Vandalismus freien Lauf ließ, war außerhalb seiner Vorstellungskraft.

    Als Ole zwei Jahre alt war, bekam er von seinem Vater die erste Tracht Prügel mit einem Stock, selbst die in dieser Hinsicht wenig zimperliche Mutter war entsetzt.

    Grund war ein autonomer Ausflug in die Stadt. Alle waren mit Renovierungsarbeiten in der Wohnung abgelenkt und keiner merkte, dass Ole spazieren ging. Eigentlich suchte er jemanden zum Spielen, suchte das Treppenhaus ab, fand aber niemanden und trat durch das Eingangstor auf die Straße. Dort gab es interessante Autos im lebhaften Verkehr, Straßenbahnen, ein geschäftiges Treiben, dem Ole sich anschloss.

    Er landete schließlich auf einem Marktplatz, schlenderte von Stand zu Stand, blieb vor einem Obststand stehen und starrte auf die Apfelsinen. Die kannte er nur vom letzten Weihnachten.

    Eine unscheinbare Frau mit grau-beigem Trenchcoat und Kopftuch sprach ihn an. Oles Konversationspotentiale waren noch nicht so entwickelt, der Kontakt gestaltete sich nur zögernd, eigentlich sprach Ole gar nicht. Man sollte nicht mit fremden Männern mitgehen, hörte er die Mutter den älteren Geschwistern immer predigen und jetzt das hier, wie war das denn mit den fremden Frauen. Solche kannte er schon aus dem Laden und meistens gab es was.

    Und auch bei dieser ihm fremden Frau löste er etwas aus. Sie kaufte ihm eine Apfelsine, Ole trug diese stolz vor sich her. Nun kam ein narrativer Schwall aus ihm herausgeflossen. Wo er wohnte und hingehörte war ihm jedoch nicht möglich zu benennen, dafür waren doch die „Großen" da.

    Nachdem er lange mit der fremden Frau die große Straße entlanggelaufen war, erkannte er zufällig den Kaffeeladen mit dem großen bunten Arabica-Schild, deutete darauf und äußerte zielgerichtet und unmissverständlich „da da da". Alle waren erleichtert, hatten große Angst um ihn gehabt und Oles Vater musste seinen Affektstau loswerden, indem er sich mit ihm in das Schlafzimmer zurückzog. Was dort passierte, hat die Zensur aus Oles Gedächtnis-Apparat gelöscht.

    Den Arabica Laden musste seine Mutter wenig später wieder aufgeben, die Einkünfte reichten nicht für die Pacht und Kaffee war ein Luxusgut, das sich nur wenige leisten konnten. Die meisten tranken - wie auch Oles Familie - Kaffee, der aus Getreide hergestellt worden war.

    Man nannte ihn „Muckefuk", später dann Caro Kaffee. Sicher fragen Sie sich als Leser gerade, was aus der Apfelsine geworden ist. Die musste Ole mit seinen Geschwistern teilen, fast die größere Strafe für seinen Freiheitsrausch.

    Bei schönem Wetter fuhr man sonntags bis zur nächsten Autobahn, um diese als Wunderwerk des Straßenbaus zu besichtigen. Da stand man dann auf Brücken und winkte den schnell fahrenden Autos, die unter einem fuhren. Schon damals gab es Menschen, die wegen mangelndem Selbstwirksamkeitserleben Steine schmissen.

    Oder es ging in den Zoo, wo man Enten und Schwäne fütterte, die einen schon mal in den dargereichten Finger bissen.

    Am Ostersonntag ging es in einen Park, in dem zahlreiche Väter vorher Eier und Nester ausgelegt hatten, die wegen der Vielfalt dann nicht mehr eindeutig zugeordnet werden konnten. Dies führte dann zu Gerangel und dem Recht des Stärkeren – Darwin eben.

    Samstags fuhr man an den Rhein zum Picknick, Schwimmen und noch wichtiger: Auto waschen. Oles Vater hatte längst seinen nächsten Opel Kapitän, weitere sollten folgen. Der Rhein hatte einen starken Flussgeruch. Bei entsprechendem Wind mischte er sich mit den Chemiegerüchen der Leverkusener Chemiewerke. Wegen der starken Strömung durfte Ole nur in Begleitung seines ältesten Bruders Diethelm und auch nur kurz ins Wasser. Schien auch noch die Sonne, war es eine angenehme Möglichkeit, mit der Familie zusammen zu sein.

    Einfach nur auf einer Decke hocken, dösen, in die Wolken gucken und mit den Geschwistern über die sich ständig neuformierenden Gebilde am Himmel zu spekulieren, gefiel Ole gut. Bei einem Spaziergang am Rhein kam man an einer Werft vorbei. Ein größeres Schiff wurde aus dem Wasser geholt und man bekam einen freien Blick auf die sonst verdeckte, untere Schiffsseite. Ole reagierte auf diese unverhoffte „Verdrehung der Welt", die die Sicht auf Verborgenes freilegte, mit Panik. Er schrie und verlangte, dass die Welt sofort wieder in ihre gewohnte Ordnung gebracht wurde und das schallende Gelächter seiner Familie trug nicht zu seiner Beruhigung bei.

    Zu dieser Zeit war sein jüngerer Bruder Theo auf der Welt und er musste seine Position als besonders Begünstigter aufgeben. Dass die für ihn sich daraus entwickelten Verlustängste sich einen Raum suchten, der sich beim Anblick des Schiffrumpfes anbot, verstand niemand, Ole am wenigsten.

    Für Ole hatte das Auftauchen seines jüngeren Bruders und ein Jahr später seiner jüngsten Schwester auch Vorteile. In der Hackordnung stieg er auf und machte Punkte durch anfangs vergebliche Anstrengungen, Schuhe zu binden oder Pfeifgeräusche mit seinem Mund zu erzeugen. Von seinen älteren Geschwistern wurde er beständig damit konfrontiert, was er noch nicht konnte – die aber schon.

    Sein ältester Bruder Diethelm war 8 Jahre älter und souverän liebevoll, die zwei Jahre ältere Schwester Katrin und der drei Jahre ältere Bruder Werner hatten nicht vergessen, dass sie einst von Ole aus der Pole-Position vertrieben wurden. Auch mussten sie in der Aufmerksamkeit der Mutter wegen der langen Erkrankung von Ole zurückstehen. So zeigten sie eine größere Freude daran, Ole zu hänseln und ihre Überlegenheit zu zeigen. Beliebt war auch, sich wirksam zu fühlen, in dem man Angst erzeugte. Etwa mit dem Hinweis, dass man platzen würde, wenn man nach dem Verzehr von Gurken Wasser trinkt oder dass es wahrscheinlich sei, vom Blitz erschlagen zu werden.

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