Geheime Kräfte: Miniaturen
Von Roland E. Koch
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Über dieses E-Book
So alltäglich und geruhsam diese Geschichten beginnen, so zügig wenden sie sich dann allerdings ins Wundersame. Es ist beinahe, als wären diese dichten, eindringlichen Prosa-Miniaturen von einem gut durchbluteten, fantastischen Muskelgeflecht durchzogen. Immer wieder überrascht der Autor seine Figuren mit sonderbaren Ereignissen und wunderlichen Vorkommnissen. Geheime Kräfte wirken in den Menschen und um sie her, denen sie sich mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit fügen. Am Ende träumt der Leser das Buch mehr, als dass er es liest, und beginnt sich zu fragen, wann sein eigenes Leben aus den Fugen gerät.
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Buchvorschau
Geheime Kräfte - Roland E. Koch
www.dittrich-verlag.de
DAS NEUE SCHNECKENHAUS
Als die Kinder aus dem Haus waren, hatte ein pensionierter Chemiker endlich ein Zimmer für sich, für seine Yogaübungen und seine Meditation. Er hatte den Raum vollkommen geleert, nur eine Matte lag dort. Es gab nichts, was ihn ablenkte. Als er noch arbeitete, hatte er lange an einem Kunststoff geforscht, der aus nachwachsenden Rohstoffen bestehen, elastisch, dünn, luftdurchlässig und billig in der Herstellung sein sollte. Doch vor dem Durchbruch war er mit einer Abfindung entlassen worden. Im Keller hatte er sich daraufhin ein Labor eingerichtet, seine Unterlagen mitgebracht und experimentierte drauflos, wenn er während einer Übung eine Idee hatte. Manchmal half ihm eine alte Laborantin, die in der Nachbarschaft wohnte. Seine Frau interessierte sich für all das nicht, sie war häufig unterwegs, und er hätte nicht zu sagen gewusst, wo gerade.
Mit einfachen Mitteln gelang es ihm schließlich, den zähen, leicht formbaren Kunststoff zu produzieren. Man konnte ihn wie Strudelteig in die Länge ziehen, kneten oder ausrollen, denn er härtete erst nach etwa einer Stunde aus. An einem Abend stellte er eine ausreichende Menge her und formte ein großes Schneckenhaus, das gerade in sein leeres Zimmer passte, und in das er sich bequem zurückziehen konnte. Es war in einem warmen Braun gehalten. Die Farbe hatte er vorab festlegen müssen, denn das Material ließ sich nicht lackieren.
Nachdem das Haus getrocknet und ausgehärtet war, kroch der Mann hinein, polsterte es mit einer Matratze aus, hängte die Fotos seiner Kinder auf, besorgte ein paar LED-Leuchten, einige Wasserflaschen, ein kleines Gefäß und meditierte in dem Schneckenhaus auf eine ganz neue, überwältigende Weise. Er sah plötzlich Dinge, die er vorher nicht geahnt hatte. Es war, als könne er jede beliebige Person beobachten, über ihr schweben, bei ihr sein, er musste bloß intensiv an sie denken. Von da an verließ er das Schneckenhaus nur noch selten und kurz, zum Einkaufen und zum Essen, blieb aber sonst Tag und Nacht darin.
GEHEIME KRÄFTE
Im Frühling, der heiß und trocken begann, glaubte ein Mann, sich in eine viel jüngere Frau verliebt zu haben. Er war verheiratet und nicht unglücklich, doch zog ihn an dieser neuen Liebe etwas derartig stark an, dass er sich nicht beherrschen konnte. Er suchte nach Gelegenheiten, sie zu treffen, was keineswegs einfach war, denn das Mädchen hatte offenbar viele Verehrer oder Freunde. Manchmal dachte er, dass er seiner Frau bloß etwas heimzahlen wollte, ihre Besserwisserei, ihre Macht und die Tatsache, dass sie fast immer das letzte Wort hatte.
An einem Sonntag war seine Frau verreist, und er hatte sich mit dem Mädchen in einem großen Forstbotanischen Garten in der Nähe ihrer Wohnung verabredet. Er spürte sein schlechtes Gewissen, als er mit dem Fahrrad an der Bank ankam, an der sie sich treffen wollten. Der Garten war voller Spaziergänger. Es war heiß, und er dachte, dass es gar nichts bringen würde, hier draußen mit dem Mädchen zu reden. Er wäre gern mit ihr allein gewesen, aber er wusste nicht, ob sie ihn in ihre Wohnung einladen würde. Manchmal war sie sehr schwierig, und es kam ihm vor, als wolle sie ihn benutzen in ihrem Spiel mit den verschiedensten Männern. Er konnte ihr nicht viel bieten, eine Affäre, ein paar Reisen vielleicht. Wie von einem Gummiband gezogen würde er wieder zu seiner Frau zurückkehren.
Eine halbe Stunde nach der verabredeten Zeit saß er immer noch auf der Bank, wartete und ärgerte sich. Ständig setzten sich Leute zu ihm, standen wieder auf, neue kamen hinzu. Er wollte sich verstecken und von dort aus beobachten, ob das Mädchen kam. Die besonderen Pflanzen und Bäume des Parks hatte er noch nicht beachtet. An einer Ecke war das Gebüsch äußerst dicht, gebildet aus weichen, gummiartigen Blättern mit einem starken, moschusartigen Geruch, und er betrat einen schmalen Eingang zwischen den Büschen.
Die Pflanzen strichen weich über sein Gesicht und seine Arme, zärtlich beinahe, als wollten sie ihn einladen. Er ging weiter und kam in eine seltsam menschenleere Gegend, dunkel von den dichten Blättern, hier in der Größe von Händen. Auch hörte er keine Geräusche mehr von den Kindern, die draußen überall gelärmt hatten. Er spürte, wie gut ihm die Gegenwart der Pflanzen tat, er summte ein bisschen vor sich hin, hatte aber die Bank längst aus den Augen verloren. Das Gebüsch wurde immer dichter, der Geruch stärker, und als er sich umdrehen wollte, spürte er, dass er festgehalten wurde. Die Blätter umklammerten ihn an den Armen und Beinen, und er konnte nicht mehr gehen.
So gefangen, fühlte er sich zunächst nicht unwohl, erzählte er später. Erst gegen Abend, als der Park sich leerte, wäre er gern gegangen. Je mehr er aber zappelte, desto fester hielten ihn die Blätter, und sein Rufen wurde von ihnen erstickt. Kurz vor der Dämmerung ließen ihn die Pflanzen allmählich los, und als er, hungrig und vor allem durstig, zurück zur Bank kam, saß dort seine Frau und wartete auf ihn.
SEELENHÄUSCHEN
Eine Frau war unzufrieden mit der Gestaltung ihres Gartens und begann an einer bestimmten Stelle, zu graben und zu formen, bis sie eine kleine Sandbahn geschaffen hatte, mit Kies eingesäumt und ein paar Wiesenkräutern am Rand. Sie legte das Stück eines Baumstamms hinein und bohrte ein Loch. Dann fand sie, dass sie etwas reproduziert hatte, dass das Ganze aussah, wie ihr Inneres, wie ein Abbild ihrer Struktur, ihrer Seele. Sie baute ein schützendes Dach darüber und nannte es vor ihren Freundinnen das Seelenhäuschen.
Die begannen nun auch damit, solche Seelenhäuschen anzulegen, kleine innere Landschaften, karstige Stellen mit Steinen und Dornbüschen, üppige Töpfe mit Kletterpflanzen, einen winzigen Teich mit herausragendem Gestrüpp. Manche schaufelten in ihren Gärten, auf ihren Terrassen, im Keller, auf dem Balkon oder im Wohnzimmer, und die Idee verbreitete sich schnell. Es gab schwarze, verkohlte Landschaften und rötliche Wüsten. Jede Frau erklärte die Strukturen, die sie beim Bau in sich erkannt hatte, Geschwindigkeit, Enge, Luftigkeit.
Das Ausdeuten des Gebauten war für viele das Interessanteste, sie besuchten sich gegenseitig und ihre neu hinzukommenden Bekannten, die die Mode ebenfalls mitmachten. Die Erfinderin hatte ihre Idee nicht schützen lassen, das wäre ihr nie eingefallen, aber sie war so klug, einen Vertrag mit einem Verlag über das erste Buch zu diesem Thema zu schließen. Die anderen Medien folgten. Das Bedürfnis musste groß sein, sein Inneres nachzubauen, und das Schöne an den Seelenhäuschen war, dass sie nie fertig wurden, sondern immer weiter gebaut und verändert werden konnten.
Sein Bewusstsein so dargestellt zu sehen, sich so zu erkennen, in einer Anhäufung von Sand und Blättern, war für die meisten Menschen faszinierend. Auch Männer begannen mit der Arbeit. Da die Häuschen oft im Freien standen und lebende Pflanzen enthielten, wuchsen sie manchmal über die Grenzen eines kleinen Gartens hinaus. Es gab Firmen, die Zubehör anboten, kleine Becken, Brunnen und Fontänen, Holzstücke, die im Wasser untergingen, Glaskammern, die luftdicht verschließbar waren, doch sollte ursprünglich alles nur aus der Natur genommen werden.
Manche der Frauen saßen tagelang vor ihren Werken, atmeten ein und aus, sahen ihr Leben, das beinahe in einem dürren Haufen Blätter geendet hätte, jetzt aber durch ein paar Knochen, ein Stück Bernstein, Tierhaare und eine Eierkohle verändert war. Die gepflegten und gesunden Frauen über 50 dachten an ihre Mädchenzeit. Eine bepflanzte eine rostige Stahlschlange mit Gras.
BEDEUTENDER FUND
An einem Atlantikstrand, im Südwesten Frankreichs, fand ein Mann bei einem Spaziergang etwas, das ihm zunächst wie eine Auster, dann wie eine große Muschel, schließlich aber immer seltsamer vorkam. Die Schale war fest geschlossen und das Ding viel schwerer als eine Miesmuschel. Er hatte sie aufgehoben, weil sie silbrig geglänzt und er ein Geräusch gehört hatte, ein feines Fiepen, das trotz der Brandung, der Schreie der Badenden und des Windes vernehmbar gewesen war. Vor seiner Frau und seinen Kindern versteckte er das Ding in einem Straßenschuh, den er hier nicht brauchte. Er vergaß es beinahe, bis er nachts wieder das Fiepen hörte, wie von einem kleinen Tier. Es klang hilfesuchend, und darum war er wohl auch stehengeblieben.
In der Nacht vor der Abreise schrak der Mann aus einem schweren Traum hoch. Eine Stimme hatte zu ihm gesagt: »Du gehst jetzt noch zwanzig, fünfundzwanzig Jahre auf deinem falschen Weg weiter, und dann bereust du es.« Sie hatte es ziemlich streng und beinahe drohend gesagt. Er sah sich um. Seine Frau lag nicht mehr neben ihm, sie war offenbar schon aufgestanden. Die Stimme schien aus dem Schuh gekommen zu sein.
Die Muschel fiel ihm wieder ein. Er nahm sie heraus und betrachtete sie. Sie fühlte sich warm an, fast lebendig, aber das Fiepen gab sie nicht mehr von sich. Er dachte angestrengt und schien kurz davor, das Rätsel zu lösen, aber da kamen seine Frau und die Kinder. Es war höchste Zeit, sie mussten packen und um zehn das Haus räumen. Er steckte das Ding in seine Hosentasche und erzählte keinem von der Stimme. Die ganze Rückfahrt über blieb er mürrisch und unzufrieden. Die Autobahn war überfüllt, alle fuhren zu dicht auf, es begann zu regnen, und an den Tankstellen bildeten sich lange Warteschlangen. Einmal meinte er, einen Stromschlag am Bein bekommen zu haben, ignorierte das aber.
Das Fiepen oder die Stimme hörte er nicht mehr. Er trug das Ding mit sich herum, auch im Büro, aber es gab kein Geräusch mehr von sich. Er zeigte es mehreren seiner Kollegen, denen er vertrauen konnte, doch deren Beiträge waren enttäuschend. Es sei aus massivem Silber, es enthalte ein riesige Perle, einen Geheimcode oder einen Minicomputer. Was es wirklich war, wusste keiner von ihnen. Wäre die Fahrt nicht so weit gewesen, wäre er am liebsten noch einmal an die Stelle zurückgekehrt, wo er es gefunden hatte.
DER GOLF VON MARSEILLE
Ein durchaus ernsthafter Mann von fast fünfzig Jahren, verheiratet und Vater, verliebte sich überraschend in eine sehr junge Frau. Sie war klein, dünn, rothaarig, ihr Gesicht voller Sommersprossen, und sie entsprach in ihrer zarten, mädchenhaften, kindlichen Art überhaupt nicht dem, was er an Frauen bisher begehrenswert gefunden hatte. Das war nun anders. Er träumte von ihren harten, dunkelblauen Augen, ihren roten Zöpfen, er stellte sich immer wieder ihren sommersprossigen Körper vor, ihre kleinen Füße. Er dachte an ihre Hände, ihre Ohrläppchen, die Stecker darin, ihre hellgrüne Jacke, ihre Turnschuhe oder Stiefel. Er sah die Leichtigkeit, mit der sie eine Treppe hinunterlief. Er wusste, dass sie einen gleichaltrigen Freund hatte, der aus demselben Dorf in Schleswig-Holstein stammte und sehr groß war, viel größer als sie. Er studierte auch nicht, sondern