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Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern
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eBook338 Seiten5 Stunden

Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern

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Über dieses E-Book

Eine kleine Abendgesellschaft, die die Gastgeberin durch einen jungen Inder nach seinem Geschmack zusammenstellen ließ, verfällt darauf, einer in die Mitte gestellten Lampe ihre jüngsten Träume zu erzählen. Der plötzlich heimkehrende Hausherr, "Professor für vergleichende Seelenforschung", gibt den in vertauschten Rollen zum Teil abgewandelt wiederholten Traumberichten überraschende Deutungen.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum28. Aug. 2015
ISBN9788711448328
Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern

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    Buchvorschau

    Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern - Max Kommerell

    K.

    Der Inder

    Das Zimmer, in dem der siebenundzwanzigjährige Doktor Nannayah Dasa frühstückte, enthielt wenig Spuren seiner indischen Heimat. Nur der Tee, der ihm über England zuging, rief ihm durch seinen Duft das üppigste Vorland vor dem ernstesten Hochland zurück. Er goß ihn aus einem gläsernen Gefäß in eine flache gläserne Tasse, der leichte, geräuschlose Teewagen bestand ebenfalls aus großen Glasflächen. Sandwichs und Teekuchen lagen darauf bereit. Der Raum war hell gestrichen, ohne Bilder; an zwei Seiten liefen niedrige Regale um. Auf einem Kanapee gewahrte man eine Decke in grellen Wollfarben, daneben eine Wasserpfeife auf einem niedrigen, schwarzen Lacktisch. Er selbst, feingliedrig, nicht groß, ganz in Grau, saß auf einem Rohrstuhl. Es war noch eine Bank da, mit schafwollenen Kissen in Naturfarbe belegt. Nichts von einem Schreibtisch; wohl aber sprang in Brusthöhe eines aufrechtstehenden Mannes eine Platte vor, verschiedene mattgefärbte Papiersorten lagen darauf, und ein Bambusbehälter barg neben anderem Schreibgerät eine Rohrfeder. Den Boden bedeckte durchaus ein Fasergeflecht. So war der Raum im Licht des schon hellen Tages nüchtern und fast schattenlos, und wäre es ebenso, wenn ihn statt dessen die künstlichen Lichtquellen an der Decke erleuchten würden, die eine viereckige Glasplatte verbarg. Auch an den Regalen waren Lichtkörper angebracht; kaum zu anderem Zweck, als damit das Zimmer abends dieselbe scharfe und gleichmäßige Helligkeit habe, die es jetzt am Morgen hatte. Diese Helligkeit ähnelte dem Denkzustand des Inwohners, und er geizte seltsam mit ihr. Man sah nämlich kaum je einen seiner europäischen Freunde diesen Raum betreten. Hier lebte er, nicht von Einheimischem umgeben, sondern als ein Auswärtiger. Womit nicht nur gesagt ist, daß er manche seiner Gewohnheiten zurückstellte, sondern daß er dem fremden Erdteil, dessen Wesen und Schicksal er sich wie ein Pensum aufgegeben hatte, seinen Alltag zu bestimmen erlaubte. Glaubte er doch, daß jeder ernste Gedanke eine Folge für das persönliche Leben habe. So verrichtete er auch vor dem Buddhakopf aus grauem Speckstein, der in der Mitte auf dem einen Regal stand und hinter dem ein sepiagrünes Tuch ausgespannt war, nichts anderes, als was jeder von uns vor einem solchen Kunstwerk tun könnte. Dieser Kopf hatte übrigens nicht den nach altgriechischer Einwirkung aufwärtsgebogenen eleganten Mund mancher solcher Figuren, sondern sehr volle Lippen, die in einem geradegezogenen Lächeln fast bis an die Nähe der Ohren reichten. Sie, übergroß gebildet, deuteten an, daß der Erleuchtete nicht spricht, sondern lauscht. Dasa liebte dieses Lächeln, das für Europäer etwas Grelles haben mußte, während ihm umgekehrt das griechische Lächeln verlegen vor dem Dasein schien. Vor dem Lachen der meisten Menschen seiner jetzigen Umgebung meinte er, daß man es ihnen höchstens verzeihen könne. Nun war sein erstes, wenn er fertig angekleidet aus der Schlafkabine in dies Zimmer trat, in dem nie die leiseste Unordnung herrschte, daß er vor diesem Antlitz seine Gedanken zur Stille brachte. Dabei faßte er den Ausdruck desselben so tief in sich, daß seine Seele ihn ebenfalls annahm, ohne daß seine Züge sich verändert hätten, und er in einen Zustand schattenlosester Heiterkeit versetzt wurde – ein Selbstvergessen, in dem er sich zu dem freiesten Selbstbesitz erholte. Er nannte es »sich selbst durchsichtig werden«. So hatte er auch heute getan, denn seinem Gesicht war noch die vollkommen straffe Glätte davon geblieben: um die Nasenwurzel Sammlung, um den fast üppigen Mund unschädliche, wohlwollende Fülle – es war reg, aber nicht angestrengt. Man mochte angesichts des dichten, gelockten Haares über der bronzenen Stirn vermuten, das menschliche Herz sei hier auf einen volleren, dunkleren Ton gestimmt.

    Eine andere Gewohnheit war dem Abend vorbehalten. Er nannte sie die »Reinschrift des Lebens«. Sie bestand im inneren Wiederholen des Taglaufs nebst anderen vergangenen Dingen, die das Gedächtnis daran knüpft. Diese Gewohnheit war ihm noch teurer, und hinderte ihn eine Veranstaltung daran, so empfand er zwar kein sündhaftes Unterlassen, aber doch ernste Trauer darüber, daß ihm das Schicksal einen Abbruch an seinem Selbst auferlegt hatte. Niemals sah oder sprach er mit jemandem in der Frühe. Darum war ihm, ehe er die Schlafkammer sommers um sieben, winters um acht verließ, das Nötige schon bereitgestellt; auch die Briefe, sofern sie in der Frühe eintrafen, wurden ihm durch den Türspalt hereingeschoben. So geschah es jetzt. Er sah hin, was es sein möge, erhob sich aber nicht, sonderbar gefesselt durch ein Erinnerungsgefühl. Er suchte nach dem Anfang des Entzückens, das noch in ihm war. Es schien von einer unerwarteten Gabe zu sagen, dann sich dunkler zu stimmen, beinahe drohend. Es war geträumt, in einem Traum dieser Nacht, wo er, so schien es, von einem anderen Wesen wohltätig berührt worden war. Er suchte umsonst. Nun erst bemerkte er wirklich das Kuvert, auf das er seit einer Weile hinblickte. Es war hellgrau, länglich. Er kannte es und hob es auf. Es durfte wahrhaftig um der Schreiberin willen fordern, daß es nicht dem Bodenstaub ausgesetzt blieb. Er hatte sie seit langem verehren gelernt, doch liebte er ihre Handschrift noch immer nicht. Ohne Schwung und Weite, ängstlich klein, aufrecht, verwirrte sie die Schleifen durch willkürliche Zacken, so daß man argwöhnte, ein Mangel an Eigenart sollte durch Betonen derselben verhehlt werden. Jetzt, da er das Blatt etwas weiter weg hielt, beruhigte er sich zum erstenmal darüber: nun war die Einheit des Eindrucks da, und zwar lag sie in einer hohen Reizbarkeit, die wenig bewußt war, aber ausreichte für feine und sehr ferne Wahrnehmungen. Im gleichen Grad leidensfähig, entzog sie sich womöglich den Anlässen. Eine Grille, sogar eine unechte Eigenheit war gut genug zum Versteck. Das sagten ihm die Züge; dann sah er körperhaft und nahe zu ihm hergebogen eine Stirn, die sich um die schon grauen Schläfen zusammenzog mit dem mühsamen Ausdruck verheimlichter Kopfschmerzen. Er spürte den Blick großer, grauer Augen, die ihn forderten und suchten. Indessen las er:

    »Mein sehr lieber Doktor Dasa! Unser Professor für vergleichende Seelenforschung wirkt, wie ich meine, mehr belehrend als heilsam, in verschiedenen Metropolen, wo er einen Vortrag über die Träume der Gehirnkranken in drei europäischen Sprachen zu halten hat, deren keine er beherrscht. Leider hat er ihn nicht ins Lateinische übersetzt. Das hätte für mich etwas Beruhigendes, denn ich verstehe kein Wort von dieser Sprache. Ernsthaft, ich vermisse meinen Mann in dieser ganzen Woche auf das schmerzlichste. Ich bin dem Gang der Gedanken und Gesichte ausgeliefert. Jene kommen, wann sie wollen, diese gehen nicht, wann ich will. Er ist mein unentbehrlicher Ferge und schifft mich jeden Morgen in das Land zurück, wo man wach ist. Was gibt es Selbstischeres als Güte? Auch ich bin gütig. Aus Güte fassen wir Umsinkende die Schulter eines Menschen und halten uns an ihm aufrecht. Er mißversteht es als eine liebe Gebärde und glaubt, er habe uns noch zu danken. Ich bedarf eines stillen Abends mit einigen wohldenkenden Menschen. Nicht solcher, die Ziehbrunnen sind, in die man den Eimer tief hinablassen und dann lange warten und gar arbeiten muß, bis er wieder heraufkommt; sondern solche, aus denen freiwillig, wenn auch sparsam, die Feuchtigkeit der guten Erde sickert. Ich meine: eines Abends mit solchen, die sprechen! Kommen Sie selbst, bitte, und bringen gute Bekannte mit! Stellen Sie – ich weiß nicht, warum ich dies haben muß, und zwar durch Sie – eine kleine Abendgesellschaft zusammen, so wie ich ein paar Blumen auf den Tisch setze. Nicht mehr, als was mir gerade im Garten wächst, aber mit Vernunft ausgewählt, so daß es einen Strauß gibt. Wenn’s geht, bringen Sie vielleicht auch noch etwas mit, worüber man spricht. Eine Handschrift oder dergleichen. Lieber nicht? Wie sie wollen. Ich verlasse mich auf Sie. Fürchte ich doch eher, daß Ihnen die kindische Bitte einer alten Frau zu wichtig, als daß Sie ihnen zu unwichtig erscheint. Gottlob teilen sich Spiel und Ernst bei Ihnen etwas anders als bei den meisten von uns in das Leben; und wenn ein Hund gerade den Kopf an Ihr Knie schmiegen will, so versäumen Sie vielleicht darüber einen gerichtlichen Termin. Ich erwarte keine Antwort. Absage ganz unerlaubt. Ansage überflüssig. Man muß Sie schätzen und liebhaben. Ihre Ursula Neander.«

    Kann man eine solche Bitte äußern, kann man ihr nachkommen? Ja, antwortete er selbst, wenn sie jenes und ich dieses tue, und wenn wir beide Glück haben! Ihm war aber, als würden sie Glück haben. Er ging aus seinem Zimmer, voll Ironie gegen das, was er zu tun hatte, und voll Gewissen gegen das Ungefähr, das ihn schon zur richtigen Wahl der Menschen anleiten würde. »Nichts dazutun ist alles, was ich dazutun kann«, und er lächelte ein wenig. In einem dunkelblauen Umhang ging er durch die Straße, die vorerst abseits vom Strom verlief. Er ging etwas anders als die anderen, weniger zielstrebend, weniger ruckweis. Er hob den Fuß kaum, setzte ihn kaum merklich auf; ein leises Wiegen pflanzte sich durch den Körper fast bis in die Schultern fort, dabei ging er nicht langsam. Die Häuser, meist stattlich und mit großen Zwischenräumen aufgeführt, hatten in der Frühe etwas Festliches. Große Rasenflächen trennten sie von den Straßen. Manche trugen auf flachen Dächern steinerne Urnen, manche hatten Vorhallen und Veranden mit stützenden Säulen; die Magnolienbäume trugen, statt der Riesenknospen, die einst nackt wie Fackeln aus dem schwarzen Holz brachen, große, fast lederartige Blätter – ein Leben ohne Rausch, wie es zu dem gesättigten, etwas faden Wohlstand dieser Häuser stimmte. Seine Gedanken glitten ab zu einer kleinen Schrift, mit der er als Zwanzigjähriger in der Heimat hervorgetreten war: Der Brunnen und die Quelle. Sie hatte von zwei Arten des Gedächtnisses gehandelt, von der vorsätzlichen Erinnerung und vom freiwilligen Einfall. Und von da aus kam er auf einen unvollständig veröffentlichten Autor des indischen siebzehnten Jahrhunderts, namens Samal, dem er seit einer Reihe von Jahren seine Sorgfalt zuwandte und dessen handschriftlich überliefertes Traktat »Die Edelsteinkette« er kürzlich herausgegeben hatte. Ohne Mühe wiederholte er sich ganze Kapitel aus seinen Schriften. Jedes tiefere Eindringen schien ihm daran gebunden, daß auswendig gelernte Sätze ungerufen im Gedächtnis auftauchten und von sich aus zu sprechen begannen. So murmelte er eben vor sich hin: »Gefährlicher als die Pflanze ist der Pflanze das Tier. Gefährlicher als das Tier ist dem Tier der Mensch. Gefährlicher als der Mensch ist dem Menschen Gott.« Und dann diese Sätze: »Der versöhnlichste Gedanke ist das Haustier. O Friede zwischen dem Sprechenden und dem Sprachlosen. O scheuer Anfang der begehrtesten Verständigung!« Er sann darüber nach, ob der Verfasser hier eigentlich sprach oder uneigentlich, die Verständigung zwischen Mensch und Gott heimlich unterlegend. Schließlich gab er sich in einer urbildlichen Vorstellung gefangen: das Tier, das mit dem Menschen lebt, kein bestimmtes Tier, erhob das Auge zu seinem Gesicht, nicht aufgestört, sondern voll Dank und bittend zugleich, als ob viel Gutes schon geschehen sei und noch viel zu geschehen hätte. Er war geborgen ...

    Nun mied er die sich belebende Straße und bog ab nach dem Strom, den in tieferer Lage ein schmaler Park geleitete, vom Volk Nizza genannt. Dies Nizza mit seinem Fernprunk war ihm jetzt nicht ganz unwillkommen. Neben schmalen und runden Beeten, die sich durch das trompetende Rot der Salvien und des Blumenrohrs hervortaten, standen Azaleenbäumchen, tief im hohen Moos, schöne, weingelbe, und gegen das Wasser hin zitterte das zerfaserte Blattwerk eines Edelahornes und jungfräuliche Tamarisken. Schon jetzt in dem wissenschaftlichen Arbeitsraum anzulangen, wo er sich oft aufhielt, um an einem Gujarati-Wörterbuch zu arbeiten, stimmte schlecht zu seinen Gedanken. Ihn lüstete, den Kontrast auf sich wirken zu lassen, den die freien Improvisationen der Natur über ein Thema der Gartenkunst mit diesen vorsätzlichen Blumenräuschen hier unten bilden würden, und so schritt er den kleinen Hohlweg zum alten Schloß hinauf. Obwohl steil, schien er ihm unter den Füßen wegzurinnen, und schon schied ihn ein Dickicht von Schilf und Bambus von dem freien Umblick ab. Ein schmaler Weg endete auf einen algenübersponnenen Pfuhl, der etwas eingetrocknet war, so daß der träg hingelagerte alte Neptun, der ebenfalls begrünte, mit seinem Sockel aus Backsteinen viel zu hoch aufragte. Hinter ihm lud die Pforte einer Mauer aus rötlichem Gestein in ein enges Schattenreich. Ehe er sich dort auf einer steinernen Bank niederließ, breitete er sich den Sommermantel unter zum Schutz vor der feuchten Kühle dieses kaum je bestrahlten Steins. Zwei Schächte in der Decke, aus denen das tiefblau durchgitterte Rankenwerk wilden Efeus herabhing, triefend von Sonne, schnitten aus dem teils bemoosten, teils nackten Boden zwei große Quadrate grellen Lichtes aus. Während von der Decke manchmal Tropfen niederfielen, suchte ihn eine Reminiszenz heim, die ihm mitten in einem vielfältigen und weit abgelenkten Treiben seinen Lebensgedanken zurückgab.

    Hoch, schwindelnd hoch über dem eingeschnittenen Bergtal, dessen gestufter Anstieg von saftig sprossenden Riesenwäldern umkleidet war, während die oberen Wände sich senkrecht und baumlos entgegenragten wie das Schweigen dem Schweigen, hing am Felsen das Kloster, in dem ihn der Bruder seiner Mutter zurückgelassen hatte. Er sah sich eines Mittags oberhalb der letzten Zeder, die das niedrige Gemäuer des Klostergartens noch einschloß, und zwischen den ersten Legföhren sitzend, die bucklig waren vor zuviel Ewigkeit, und sein Blick schraubte sich mit den Kreisen eines Lämmergeiers in den tiefblauen Himmel hinauf. Dann wohnte sein Geist, währenddem der Raubvogel rüttelnd an der Stelle blieb, einen Augenblick lang in dessen Haupt, und schoß in der Linie des diamantenen Blicks senkrecht abwärts auf eine schattige Stelle des Gebirgsbaches, dessen geschleuderte Schäume man sah, aber nicht hörte. Er machte nicht halt über dem Spiegel, sondern tauchte mit durchdringender geistiger Kraft unter einen vorragenden flachen Stein, wo silberne Fische mit rosa Tupfen ihr Nest hatten. Er war zugleich dort oben, tief unten und dazwischen; atmete im kühlen Feuer des glänzenden Luftraumes und in der Eisigkeit des schattigen Wassers; er fühlte in sich Zenit und Nadir, und hier wie dort sprach ein Tierherz zu seinem Herzen: verbinde uns!

    Dieser Augenblick, der die Ursache einer kleinen Verspätung war, fehlte ihm bisher in der sonst lückenlosen Reihe, die er mit Sorgfalt aus seinen Gedächtnisbildern hergestellt hatte. Das Weitere, wie er nämlich eilig und doch mit behutsamem Fuß über die offenliegenden Baumwurzeln zum Kloster hinablief, war immer dagewesen. Wieder sah er seinen geistigen Vater hochaufgerichtet im einfarbigen dunkelblauen Gewand dem Diener winken, daß er gegen den Gong schlage, der die Schüler zu Bad und Reinigung vor dem Mahle berief. Da stammelte er die Frage: »Mein Vater, ist denn die Zeit? Sage es mir in der winzigen Frist zwischen dem Gongschlag und dem Herannahen der Brüder!« Er antwortete: »Ich rede dir wohl von dem Frieden Gottes, nicht aber von der Angst Gottes. Ja, sie ist!« Und wieder fragte er: »Wo aber nimmt sie ihren Anfang?« Und wieder antwortete er: »Dort, wo der dichteste Tod ist!« Es war das Wort, das, jahrelang nachhallend und wieder und wieder in seinem Inneren vernommen, ihn schließlich nach Europa trieb.

    Der Anfang in England wurde ihm leicht, da sein älterer Bruder dort studiert hatte und mit den englischen Regierungsbeamten zusammenwirkte. Erst dort lernte er Landschaft im strengeren Sinn sehen, Landschaft, die den Menschen bekennt, und sie wurde ihm durch die herrlichen schottischen Volksweisen aufgeschlossen. Weder die fast schluchzende Verlassenheit, die ein Ausschnitt der Erde annehmen kann, noch das wohlgeordnete, herrschaftliche Gehege war unter den Bildern seines heimatlichen Indien gewesen. Er selbst war in kein feindliches Verhältnis zu England hineingeboren und blieb den Menschen dieses Landes immer dankbar dafür, daß sie seinem Volke das Leichtere abgenommen hatten, das Herrschen. Denn das Schwerere allein war schwer genug. Dennoch muteten sie ihn in ihrer Diesseitigkeit verhärtet an, und er lernte sie niemals lieben. Wie ein Wunder schien es ihm, daß die herrlichste Liedkunst (ihm ein einziger Nachtigallengesang durch die Nacht eines halben Jahrtausends) diese Menschen immer wieder in die Schule des Entzückens nahm, sie mit sich selbst aussöhnend. In Deutschland sah er sich am Ziel. Ungleich einem Heimkehrenden, dem der Rauch des Herdes aufsteigt, sah er, der sich verstoßen wollte in die letzte Verstoßenheit des Menschen, hier den Rauch ganz anderer Brandstätten. Nirgends wurde die Frage schmerzlicher gefragt, von der er glaubte, daß sie, wenn beantworet, die einheimischen Traditionen ergänzen werde: die Frage nach dem Ich und die Frage nach dem Werden.

    Indessen war er, ohne es zu merken, auf einem bequemeren Wege wieder auf die Ebene der Stadt gelangt und schritt einigen langen, gelben Institutsgebäuden zu. Sie gehörten zum Komplex eines früheren Fürstensitzes und standen auf einem ausgedehnten, in große Quadrate geteilten Rasen. Das sengende Licht, das aus der hellen, hohen Kuppel durch die grünen Kastaniengewölbe drang und gemildert zwischen den gespreizten Blättern auf Wege und Wiesen niederging, spielte dort unten zwischen Laub und Boden mit grünen Schatten; Menschen gingen in diesem durchsichtigen Bad hin und her und achteten es kaum, wie zärtlich ihnen die schrägen Strahlen Haupt und Schultern berührten. Er sah einige Studenten, zu denen er sich gerne rechnete und der äußeren Erscheinung nach rechnen durfte. Für sie freilich machte sein angeborenes Alter – ein Alter der Seele, das sich mit den Reife-Stufen des Körpers wenig änderte – einen deutlichen Abstand; sie mochten in seiner Nähe fühlen, daß ihnen die Jugend ebenso unveränderlich angeboren war. Er war ihnen gut, noch mehr aber dem großen, flachen Bassin aus grauem Sandstein in der Mitte, dessen Strahl nicht in der Höhe zerstäubte, sondern im beweglichen Guß einer niedrigen Glocke sogleich umkehrte, ohne sich zu teilen. Er wußte nichts Lieblicheres als diese dünne, gekrümmte, freiwillige, sich beständig erneuende Fläche aus Wasser ... In einem der Bibliotheksräume fand er auf einer an ihn gerichteten Postkarte die Vortrags- und Verhandlungsthemen vor, die der Orientklub zu seinen nächsten Sitzungen in Aussicht stellte. Er fand nie etwas »unter sich« und war sich nicht wichtig genug, um etwas abzulehnen. Da es den Klubisten natürlich schien, hatte er seine Mitarbeit zur Verfügung gestellt – warum sollten sie nicht versuchen, Indien zu denken, da er doch versuchte, Europa zu denken? Das Lächeln, mit dem er jetzt diese Themen durchlas, beschattete seine strenge Miene freilich mehr, als daß es sie erhellte. »Richard Wagner im Lichte der Indologie; indische Psychagogie und die Frauenemanzipation; Loslösungsriten und Mutterkomplex.« Bei dem Gewohnheitsgriff nach dem Haken der Garderobe merkte er, daß ihm sein Mantel fehlte. Gleichzeitig durchblitzte ihn der Gedanke, daß er jetzt den Baron von Glöckner-Goldeck aufsuchen müßte, den Vorstand des Klubs. Nicht eigentlich dies, sondern, daß dessen Gattin eine der Gesuchten sei. Der Gesuchten, um die ihn das Auge der Briefstellerin bat. Er vermißte den Umhang ungern; er war so etwas wie seine Art zu sein und sich zu gebaren, auf der Straße. Immerhin, er ließ ihn fahren. Jene Reminiszenz, die ihm in der steinernen Kammer zugeflossen war, wog viele Mäntel auf. Sie verließ ihn nicht mehr und schien ihm jetzt die Geburtsstunde seines Geistes zu beschreiben. Ihn reute der kleine Kaufpreis nicht. Auch mußte an diesem merkwürdigen Tag wohl eine kleine Unordnung sein! War es dies, oder war es anderes? Er ließ den Mantel, wo er war.

    »Das Herz ist unterwegs.« Wer hat dies gesagt? Niemand? Er hatte es doch gehört? Vielleicht innen. Ja, es war ein Gehen in dieser Stadt ... In seiner Straße. Aber er spürte es auch in den Straßen, die er nicht sah. Es konnte in der Fronackerstraße nicht anders sein als in der Geroldseckstraße, und in ihr nicht anders als hier in der Deutschherrenstraße, wo die übrigen Häuser wohl nur gebaut waren, um die Nummer hundertdreiundzwanzig zu ermöglichen. So lebhaft fühlte er dies Gehen, daß sich ihm zum erstenmal in seinem Leben, reizend ungelenk wie jeder erste Versuch des Herzens, der Anfang eines deutschen Liedes zusammensetzen wollte, etwa so: Es geht in allen Straßen – ein Gehen wie von Blinden – die ohngefähr sich finden – von Blinden, die vergaßen – in denen leis ein Schmerz rief – es geht in allen Straßen – o liebes Ziel! Das Herz rief!

    Was waren es für Begegnungen, zu denen dies Gehen unterwegs war? Ging er selbst nur mit in diesem Gehen, oder half er ihm heim? Waren vielleicht auch die Seinigen unterwegs (er nannte sie bereits die Seinigen, obwohl er nicht wußte, wer und wieviel!), und bog gleich ihrer eins um die Ecke? Oder taten sie, inniger als sonst, zu Hause ihr Tagwerk und nahmen bloß mit einem unbeschäftigten Gedanken die vorbestimmte Zusammenkunft vorweg? Er war selig. Nicht wie Vögel in der Luft, sondern umschlossener, kristallischer, wie die funkelnde Gestalt farbiger Fische in einem kühlen Wasser, wohnten die Bilder der ihm vertrauten Menschen in seinem Geist; er liebte sie ohne Absicht und Begier mit einer Art leidenschaftlicher Betrachtung, freilich sich streng dabei verbergend. Er kannte die Gebärden dieser Menschen auswendig, den Ansatz ihrer Stimme, ihr Abbrechen mitten im Satz. Er wußte, so blickten sie drein, wenn sie mit sich unzufrieden waren, so wandten sie das Haupt, wenn sie eine Freude verheimlichten. Überhaupt konnte er kein Zimmer betreten, in dem mehrere Menschen zusammen waren, ohne nicht ihre möglichen Verwicklungen, die noch gar nicht begonnen hatten, durchzuleben: eine Ahnung, die vom Schmerz begleitet war, in keinem Fall sprechen zu dürfen. Von einigen legte er liebevolle kleine Sammlungen an, ohne ihr Wissen, woselbst er Handschrift, Lichtbild, Anekdote und Beobachtung zusammentrug, nur für sich, und nichts, was irgendeinem zu nahe kam. Er hätte gern die Lebensdauer dieser ihm lieben Menschen mit der Drangabe eigener Jahre vervielfacht, wenn es angegangen wäre – so schmiegte er sich als Element um ein fremdes Wesen, und so betraf ihn die Tragik der Menschen dieses Erdteils, deren reinste und edelste es mit Blut erkauften, Fremdes abzustoßen, das Eigene zu behalten und im reinen Klang ihres Wesens schwingen zu dürfen, und dies alles nur, damit der Tod, der nur die Vergeistigung unbeschädigt läßt, gerade dies Wahrste, das eigene Wesen, achtlos beseitige. Verdiente es nicht eine Ewigkeit für sich?

    Da stand denn das Haus, das reinste seiner Bauart in der ganzen Stadt. Es lag weit zurück von der Straße. Zwischen frischgeschorenem glänzendem Rasen führte ein gepflegter Weg zu ihm, der mit hellen Steinplatten regellos ausgelegt war. In den Ritzen saß Sternmoos. Die Pforte sprang etwas vor, mit flachem Dreiecksfeld und Halbpfeilern im Relief. Das zweite Stockwerk hatte fast quadratische Fenster, das erste sehr hohe. Kein Zierat störte die ruhige Vorderwand, über die ein niedriges Dach kaum vorsprang. Sie war hellrosa getüncht, nur die Einrahmung der Fenster blieb weiß. Jener Weg, der gerade lang genug war, daß ein herzlich begrüßter Gast vom Gartentor bis zum Haustor geleitet die ersten Fragen befriedigen konnte, war gekreuzt von einem schmaleren, der quer durch den Garten lief, diesem entlang rann ein Wasser, das entsprang auf einem erhöhten Feld der linken Gartenhälfte, in einem dem Boden eingelassenen Quellbecken. Um dies runde Becken standen, licht und weit gepflanzt, so daß jede der vollendeten Rosengestalten für sich betrachtet werde konnte, edle Rosenstöcke mit gelbroten Blüten und setzten sich in Zeilen bis zur Straße fort. Und auf der tieferen rechten Seite hoben mehrere Reihen schlanker Rosenbäume ihre weißen und dunkelroten Kelche um so höher hinauf. Dort bildete Buchs und Hasel einen Saum, während links eine gerade Reihe junger, hochgewachsener Pappeln den Garten begrenzte und genau an die Ecke des Hauses stieß. Die Maße dieses Hauses waren Musik, und indem der Stein in seinem eigenen Recht war, ließ er den Menschen zu sich kommen, und selbst zur Blume stand er in keinem Widerspruch. Wer auf die Rosen sah, dachte an Hände; an solche Hände, durch die die Rose nur mehr Rose wird. Der Duft war hier Gesetz, das Gesetz war ein Mensch – so dachte er, und versank in derselben grundlosen Geborgenheit, die er vorher beim Gedanken des Haustieres empfunden hatte. Wenn sich jetzt die Klinke bewegen wollte! Und sie bewegte sich! Und wenn dies gar geschähe durch sie – das Geheimnis, von dem hier alles schwieg und glänzte! Es hätte auf Dasa wie ein Wunder gewirkt. Denn wenn alle Dinge sich freiwillig zu ihrem rechten Herrn bekennen, da wird das Einfachste, und nichts anderes als das Einfachste wunderbar. Und sie war es wirklich, obwohl er sie zuerst verkannte. Denn er hatte sie noch nie in dem hellen Salzburger Leinenkleid gesehen, das blau bestickt war und Theresientaler als Knöpfe trug. Auch die Schuhe und ihr mit einer roten Kordel umschlungener Filzhut waren blau. Sie war noch vornehmer als sonst, weil sie ihrem Kleid aufgetragen hatte zu sagen, sie sei nicht vornehm. Als sie Dasa erblickte, streckte sie mit einem leisen Hervortreten ihrer überblauen Augen die Arme aus und hielt ihm lächelnd ein Papier entgegen. »Hier, sehen Sie!« Wie gern sah er sie schreiten! Sie war sehr groß, hielt die Schultern frei und aufrecht und bewegte dabei die Arme auf eine eigene Art: die Handflächen, ziemlich weitab vom Körper stehend, drehten sich von innen nach außen, von außen nach innen, während der ruhigen Schwingung des Arms. Dies gab ihrem Gang Melodie und Gesetzlichkeit. Jetzt floß das kleine Wasser an ihr vorbei, und am liebsten hätte er die Spitzen seiner Finger in dies Wasser getaucht und sich die Stirn damit besprengt, wer weiß warum. Zwar unterließ er es, aber er schien doch den Widerschein der Rosen auf dem Gesicht zu haben, denn sie fragte ihn sogleich: »Nicht wahr, meine Rosen sind jetzt schön?« Er erkannte auf dem Briefumschlag seine Adresse, zierlich auf das graue Papier gesetzt. Die Schrift war liegend, hatte den Willen zur Sorgfalt, aber doch auch etwas heimlich Atemloses. Starke Verkürzungen zeigten eine Lust, verborgen zu bleiben. Er nahm das Blatt, das sie ihm gar nicht geben wollte. Und sie dachte nicht nach, warum sie es ihm ließ. »Es ist ja nicht mehr nötig; wie hübsch, daß Sie kommen, ich war auf dem Weg zu Ihnen!« Daß dies mehr bedeute als eine Besorgung, dachte er weder, noch wünschte er es, so wenig er von dem kleinen Wasser erwartete, daß es etwas anderes spiegle als tags eine Rose, nachts einen Stern. Sie wollte das Blatt auf ihren Ausgängen für ihn abgeben, das ihn für morgen zum Mittag bat. »Sie wissen: der Orientklub ...« Was waren Gründe an diesem Tag? Sie schienen vorhanden, damit sich dies Gehen in den Straßen, damit sich dies Zueinanderstreben nicht bekennen, nicht rechtfertigen mußte. Und ihr Grüßen, leise Überraschung, errötende Freude – all dies, was ihm an einem anderen Tag nur ein geselliges Verhalten gewesen wäre, schien ihm heute ein Gedicht. Er dachte: Ist hier nicht etwas Verlorenes gerettet, die Wahrhaftigkeit der Zeichen? Wußte sie das? Hätte sie gestaunt, wenn ...? Er scheute sich, die Hecke solcher Gedanken auseinanderzubiegen, und trat, eingeladen, in den Empfangsraum.

    Er glaubte noch nie in diesem ihm wohlbekannten Raum gewesen zu sein, so beklommen wurde ihm zumut. War da draußen nichts gewesen, was nicht sie verheimlichte oder verriet, so stimmte hier kaum ein Ding zum anderen, und alle Dinge hatten auch darin ihre

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