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eBook276 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Richard Thorwald, Professor für Vor- und Frühgeschichte an der Universität Bonn mit einer Leidenschaft für paläolithische Kunst, bricht kurz vor Weihnachten auf, um bis Anfang Januar zu wandern. Er ist immer gewandert; im Gehen erfährt er intensiv sich selbst und seine Möglichkeiten. Er geht über den Steigerwald und durch die Oberpfalz Richtung Süden zum Bayerischen Wald hin; zu Sylvester ist er verabredet mit seinem Münchner Freund, Franz, der ein paar Tage mitgehen wird. Früher sind sie zu Dritt häufig zusammen gewandert, mit Richards Frau Miriam, die anderthalb Jahre zuvor bei einem Badeunfall ums Leben gekommen ist.
Die Bewegung, das Gehen, die Erfahrungen, die man auf Wanderungen macht, sind das Grundthema des Romans, aber auch Richards Begegnungen mit anderen Menschen in den Tagen nach Weihnachten, die ganz anderen Lebenswege, die Richard kennenlernt und die sich für einige Zeit mit ihm verbinden. Eine kurze und heftige Liebesbegegnung, von der er sich nur zögernd erhofft, dass sie etwas Bleibendes werden könnte, bleibt nur als Erinnerung; die Frau, Irene, wird sich einige Zeit später seinem Freund Franz Rosenthal, der in München ein gutgehendes Geschäft mit asiatischer Kunst betreibt, zuwenden und mit ihm ein gemeinsames Leben beginnen. Irene Damasino lebt auf einem alten Einödhof und vermietet im Sommer Ferienwohnungen. Auf ihrem Hof verbringt Richard nach einer langen und anstrengenden Tageswanderung eine Nacht.

Bei Irene lernt Richard einen katholischen Priester, Johannes Körner, kennen, der eine große Landgemeinde betreut; seine Haushälterin Octavia ist mit Irene befreundet und betrreut zeitweise Irenes kranke Mutter Helen. Mit Körner wird er auf dessen Wunsch hin eine Wanderung auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostella beginnen, die ein jähes Ende nimmt, als sie, in Moissac angekommen, die Nachricht von einer Brandkatastrophe auf dem Hof Irenes, bei der Octavia und Irenes Mutter ums Leben gekommen sind, erhalten.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Apr. 2014
ISBN9783847672609
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    Buchvorschau

    Wegbeschreibung - Bärbel Gudelius

    *

    Nachdem er sich zwei Tage in dieser weißgoldenen Barocklandschaft bewegt hatte, üppige Polster von Schnee lagen auf den Tannen und an den Bachrändern, es glitzerte bis zum Horizont hin, zwei Tage nach seinem schnellen Aufbruch also waren Angst und Verzweiflung weg, er dachte kaum noch daran, und auch darin lag ein Sinn, daß Dinge hinter ihm blieben, die sich in der geschlossenen Atmosphäre der Stadt und seiner Wohnung, an die er übrigens jetzt nur noch selten und vage dachte, potenziert und aufgeblasen hätten zu einem Ballon, in dem er gehockt hätte voller Furcht und Ekel.

    Er wünschte, er könnte eine Form finden für sein Leben.

    In dieser Form jedoch müßte er seine Krankheit, oder wie man es nun immer nennen wollte, seinen Defekt, seine Störung und Verstörung unterbringen. Und schon wäre es aus mit einer Form, welcher Art auch immer. Er hatte auch gar keine Vorstellung davon, wie so etwas wie eine Form des Lebens aussehen könnte, es gab keine Vorbilder dafür, jedenfalls nicht für ihn, die Phase bürgerlicher Ehe und Lebensform lag hinter ihm, das wollte er nun nicht mehr, und der Einsamkeit war keine Form abzugewinnen, sie war einfach, sie war da. Sein philosophisch geschulter Verstand sagte ihm, daß er die Form in sich selbst finden müsse, daß es keinen Zuschnitt des Lebens gebe, der ihm angemessen sei und der von außen komme, er müsse dieses fragile Gebilde schon selbst aufbauen. Aber es war ihm alles zerbrochen; geblieben war eine Sehnsucht, ein Verlangen nach einer anderen Zeit, einem anderen Raum. Einer bestimmten Form von Gemeinsamkeit.

    Das aber gab es nicht.

    Der Tag war ganz windstill, selbst noch gegen Abend, als er ein Dorf erreichte, in dem es, nach der Karte, einen Gasthof geben sollte, nur war der Gasthof geschlossen, schon lange, sagte der Pfarrer, bei dem er anklingelte, um sich zu erkundigen. Der Pfarrer, ein dunkelhaariger Mann ungefähr in Richards Alter, der einen einfachen schwarzen Pullover trug, war offensichtlich erfreut über Besuch, bat ihn herein, stellte einen Schnaps auf den Tisch: weil es so kalt ist. Und überhaupt. Die beiden Gläser beschlugen sofort und der Schnaps schmeckte nach Brombeeren und Wald, selbst angesetzt, sagte der Pfarrer mit einem verschmitzten Lächeln, sie saßen in der Küche des Pfarrhauses, auf dem großen Elektroherd kochte ein Gericht, dessen intensiver Geruch nach Hühnerfleisch, Nelken, Zimt und noch einigen anderen, nicht identifizierbaren Gewürzen Richard schlagartig klar machte, wie hungrig er war.

    Der Pfarrer fragte ihn nach Art der Bauern aus, woher und wohin und alles zu Fuß? Ist selten geworden. Übernachtungsmöglichkeiten? Gibt es im Dorf nicht, aber oben am Hang die Frau auf dem Oberlinhof, einem ehemaligen Einödhof, vermietet im Sommer Zimmer und Appartements. Wäre die einzige Möglichkeit.

    Und die Alternative ein Taxi in die nächste Stadt. Dazu hatte Richard keine Lust.

    Er ging im letzten Licht des Abends, in einem einzigartig goldenen, durchsichtigen Licht, den Berg hinauf und erreichte den allein dastehenden Hof mit der anbrechenden Dunkelheit. Und wie hingestreut lag noch ein Schimmer auf dem tief heruntergezogenen Dach über, so schien es ihm, einem sehr großen, alten Gebäude, die Fenster zur Straße hin waren hell erleuchtet, nach hinten verschwand alles in tiefen Schatten. Zwei wahnsinnig gewordene Hunde tobten im Hof und auf den Zaun zu, er stand am Tor und wartete geduldig. Die Frau kam mit langsamen Bewegungen über den Hof und sah ihn fragend an.

    Nein, um diese Jahreszeit vermietete sie nicht. Die Zimmer waren gar nicht geheizt. Das störte ihn nicht. Nachdenklich sah sie ihn an. Nun, man könnte schon heizen, nein, im Dorf gäbe es keine Übernachtungsmöglichkeit mehr, so? der Pfarrer habe ihn hergeschickt? Das sei etwas anderes. Sie öffnete das Tor und wies die Hunde mit einer herrischen Geste zurück. Im Zimmer stand ein großer warmer Kachelofen, und in einer Art von gläsernem Anbau oder Veranda, deren Licht er draußen gesehen hatte, ein Baum, vom Boden zur Decke reichend, mit altem Glasschmuck und roten Kerzen und einem großen Engel an der Spitze, weiß und gold. Duft nach Tannen und Kerzen. Der Tag vor Weihnachten. Überwältigt schloß er die Augen, für einen Augenblick war er nicht hier, war er zu Hause, im Wohnzimmer seiner Eltern, das war seine erste Empfindung, sonderbar, natürlich hatten sie nicht einen solchen Baum gehabt, in der Größe und mit dem kostbaren Schmuck, sie hätten ihn gar nicht bezahlen können, jedenfalls nicht, solange er klein war und in seinem blauen Bleyle-Strickanzug an der Hand der Mutter, nachdem das Glöckchen geklingelt hatte, endlich durch die Tür des Wohnzimmers treten durfte, die Tür, die einen ganzen Nachmittag verschlossen war, unter der aber jenes verheißungsvolle Licht hervorschimmerte und hinter der zuerst sein Vater und später seine Mutter verschwanden, während der andere jeweils mit ihrem einzigen Kind in der Küche saß und Plätzchen buk. In späteren Jahren, als er größer war und keinen Bleyle-Anzug mehr trug, sondern lange Hosen, Sonntagshosen, und das Geschäft seines Vaters einen ungeahnten Aufschwung nahm, gab es dann auch Gänsebraten. Derselbe Geruch wie hier, im Flur -.

    Mit einer heftigen Bewegung stand er von der Bank auf, griff nach dem Rucksack, hier konnte er keineswegs bleiben, er würde den Pfarrer bitten - aber da stand sie in der Tür und sagte freundlich, nehmen Sie doch Platz, ich habe die Heizung oben aufgedreht, möchten Sie einen Kaffee? Abendessen gibt es um acht Uhr. Ihre Schuhe können Sie in den Flur stellen.

    Sie trug das schwarze Haar über der Stirn zurückgekämmt und in einen langen lockeren Zopf geflochten, der über ihre Schulter herabhing. Ihre Augen waren dunkel und schmal über den hohen Wangenknochen, es hatte etwas Asiatisches, eine ganz winzige Augenfalte, und der Mund breit, und lang in den Winkeln auslaufend und von einem intensiven Rot. Langsam setzte er sich wieder, sie brachte einen Teller mit Weihnachtsstollen und schenkte Kaffee ein. Später hörte er sie hinten im Haus herumgehen, dann kam sie und zeigte ihm sein Zimmer, das warm und freundlich war, ein breites Bauernbett und ein paar schlichte, alte Möbel. Schon unten war ihm aufgefallen, daß es keine modernen Schränke oder Tische gab, alles war aus altem dunklem Holz und glänzte. Er liebte alte Dinge und er hielt viel von Leuten, die sich mit alten Dingen umgaben, in seinem Elternhaus hatte es, wegen Krieg und Bomben, nichts Altes gegeben, alle Möbel waren nach dem Krieg neu angeschafft worden, überhaupt hatte man altes Gerümpel, wie sein Vater es zu nennen pflegte, nicht geschätzt, die wenigen Dinge, die die Bombennächte überlebt hatten, verschwanden irgendwann, ohne daß jemand hätte sagen können, wohin; und Richard erinnerte sich auch nicht daran, wie es in den Wohnungen seiner Großeltern ausgesehen hatte, aber wenn er überhaupt darüber nachdachte, wie jetzt, inmitten dieser dunkel polierten Schränke und Tische, dem Fenster mit den weißen bodenlangen Vorhängen, so leicht, daß ein kleiner Hauch sie hin und her bewegen könnte, den Holzdielen, auch dunkel und glänzend, fielen ihm Einzelheiten ein, kleine Bilder, ein Eßzimmer mit einem großen Buffet mit geschnitzten Türen und Aufsätzen, hochlehnige Stühle um einen großen Tisch in der Mitte des Zimmers; und wohin mochte wohl das alte Fotoalbum geraten sein, das er, und das konnte er mit Bestimmtheit sagen, in der Hand gehabt, die Fotos angesehen hatte, merkwürdige Topfhüte, von den Frauen tief in die Stirn gezogen, und unkleidsame Rocklängen bei dunklen Kleidern und Tangoschuhe. Er erinnerte sich nur an die Frauen, waren denn überhaupt Männer auf diesen Bildern gewesen, er wußte es nicht mehr.

    Die Frau hieß Irene.

    Er erfuhr ihren Namen, als der Pfarrer kam, plötzlich stand er in der Tür der Stube, die Hunde hatten sich nicht gerührt, er stand als dunkle Silhouette gegen das helle Licht der Diele, stampfte die letzten Reste Schnee von seinen Schuhen. War er zu Fuß gekommen? Richard hatte kein Auto gehört. Er fahre nicht, er habe zwar ein Auto, aber keinen Führerschein, das Auto würde Octavia fahren, manchmal nehme Irene ihn mit, wenn es was zu besorgen gebe. Und hier war sie, in den Händen ein Tablett mit drei dampfenden und nach Weihnachtsgewürzen duftenden Gläsern.

    Sie wandern also, sagte der Pfarrer und ließ sich neben ihm auf die Bank nieder, rieb sich die kalten Hände und legte sie um das dampfende Glas, das hat mich doch interessiert; wenn man in einem Dorf lebt wie wir hier, da wird man neugierig. Und außerdem war ich zum Essen eingeladen.

    Die Frau lächelte, ihr Gesicht war anders geworden mit der Ankunft des Pfarrers, weicher und offener. Richard hatte für einen kurzen Moment, und obwohl er den Gedanken sofort als absurd verwarf, den Eindruck, sie sei seine Tochter, es lag so viel vertraute Selbstverständlichkeit in der Art, wie sie miteinander umgingen.

    Es gibt Semmelknödel, sagte sie und sah Richard an, richtige bayrische Knödel. Mögen Sie das? Und Gänsebraten. Doch, antwortete er und dachte überrascht darüber nach, daß er diese süddeutsche Spezialität lange nicht mehr gegessen hatte. Um diese Zeit kämen Fremde nie hierher, also seien Knödel und Gänsebraten etwas, was sie für sich selbst und für ihren Pfarrer mache. Unter anderem. Und warum er zu Fuß ginge, bei dem Wetter.

    Das Wetter ist gleichgültig. Richard machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Das Gehen ist wichtig. Und die Erfahrung.

    Was für Erfahrungen? Die Augen des Pfarrers waren wach und blank. Neugierig.

    Richard zögerte etwas und meinte dann, es gehe um den Raum: Der Raum sei etwas völlig Abstraktes, solange man sich nicht durch ihn hindurchbewege. Durch ihn hindurch gegangen sei. Es geschehe mit dem Gehen dann eine eigenartige Umwandlung des Abstrakten, eine Konkretion. Der Raum gerate in der Erfahrung des Gehens und der Zeit, die man dazu benötigte zu etwas wie einer inneren Wirklichkeit, die man nur dadurch erfahren könne, sonst sei sie nicht vorhanden.

    Ich bin - er rührte gedankenverloren in seinem Kaffee - ich bin vor einiger Zeit einmal in Mecklenburg gewandert, da erreicht die Vorstellung von Raum eine ganz neue Dimension, die man sich hier überhaupt nicht vorstellen kann, der Blick, der über die östliche Grenze, imaginär, versteht sich, über die russischen Steppen geht, höchstens einmal am Ural hängenbleibt, gewinnt für die Vorstellung den Eindruck eines erdrückenden Raumes, eines wahnsinnigen Raums, eines unvorstellbaren Raums, überhaupt nicht begehbar, nicht auf die Weise, wie wir - äh, wie ich gehe. Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: Bei mir entstand damals die Vorstellung eines archaischen, bedrohlichen Schlundes, vor dem das Individuelle nicht existiert, in den der Einzelne hineinfallen kann wie eine Gräte und darin liegenbleibt, ohne daß der Schlund sich verschluckt. Selbst wenn es mir, als diesem Individuum, gelänge, zu gehen und diesen Raum in einem winzigen Teilbereich zu durchmessen, wäre er keine Erfahrung geworden, sondern bliebe immer noch nur eine Vorstellung. -

    Und doch - Irene stützte den Kopf in ihre linke Hand und blickte an ihm vorbei aus dem Fenster - wäre es eine Erfahrung, wenn auch nur in der Phantasie. Denn das, was wir in unserer Phantasie erleben, sind doch ebenso Erfahrungen. Das ist wie mit den Büchern. Wir lesen von fremden Leben, fremden Entscheidungen, die wir selbst niemals so treffen würden, fremden Gedanken und Phantasien - und haben dabei das Gefühl, daß das alles uns doch etwas angeht. Daß es Erfahrungen sind, die wir auch machen könnten und die wir ja doch dann gemacht haben, wenn wir sie lesend für uns in Anspruch nehmen.

    Richard nickte. Lesen sei tatsächlich dem Gehen ähnlich. Fremde Leben, fremder Raum - zwei intensive Formen des Reisens, dabei sei die zu erfahrende Landschaft in Wahrheit nicht erfahrbar, sie sei, so oft man durch sie hindurch- und über sie hingehe, in allen vielfältigen Erscheinungen etwas außerhalb unserer selbst, diese intensive Empfindung von Fremdheit manchmal, oder sie sei erfahrbar auf eine besondere Weise, die er sich versuche anzueignen, die er sich noch aneignen müsse; Erfahrung, sagte er langsam, hat auch etwas mit Erinnerung zu tun, wenn ich mich nicht täusche, denn Erinnerung ist etwas, womit ich die Dinge und Ereignisse aufnehme, sie in mich hineinnehme, sie mir anverwandle, sodaß sie ein Teil meiner selbst werden.

    Sie meinen, ohne Erinnerung ist auch Erfahrung nicht möglich?

    Der Pfarrer begann ihn zu interessieren. Diese Art des Verständnisses erfuhr er sonst nicht von Fremden, die meisten betrachteten ihn als ein Relikt, also so etwas wie einen Dinosaurier, ausgestorben, aber konserviert. Insofern interessant. Dieser Mann hier jedoch wußte etwas von zentralen und ungewöhnlichen Erfahrungen, wieso lebte er hier in einem so abgeschiedenen Teil des Landes, oder war es vielleicht umgekehrt, verstand er eben darum etwas vom Abseitigen, Seltsamen?

    Die Frau, Irene, stand auf und ging hinaus. Und Bücher, fuhr Richard fort, ja auch die; das Lesen eines Buches kann wie eine Reise sein, in gewisser Weise gleichen sich die Reisen zu Fuß und die Reisen durch ein Buch; man braucht Zeit, Geduld, Anstrengung.

    Irene kam wieder herein und ging an ihnen vorbei in den Raum, in dem der Baum stand, deckte dort den Tisch und zündete Kerzen an. Wir beide, der Pfarrer und ich, sagte sie lachend zu Richard, feiern Weihnachten immer einen Tag zu früh. Von Morgen an hat er viel zu tun, drei Tage lang, er muß nicht nur hier den Gottesdienst halten, sondern auch noch in drei anderen Kirchen. Ich werde dann dauernd unterwegs sein, weil ich ihn fahre. Das machen wir schon seit Jahren so. Und wieder kam Richard der Gedanke, die beiden seien verwandt, vielleicht Geschwister? - bei dieser Vertrautheit. Oder handelte es sich um etwas ganz Anderes? Er genierte sich vor seinen eigenen Gedanken und stand auf: Kann ich Ihnen helfen?

    Oh nein. Sie wehrte ab. Oder doch. Sie könnten die Gans hereintragen. Feierlich trug er die Gans in ihrer Schüssel auf, kross und knusprig gebraten, sofort zog der Duft durchs Zimmer. Der Pfarrer schenkte einen dunklen Rotwein ein.

    Erzählen Sie, sagte er, erzählen Sie von Ihren Wanderungen! Ich habe mit einemmal das Gefühl, auch ich hätte Lust dazu.

    Padre! Du? Irene lachte. Was wird Octavia dazu sagen?

    Sie kommt mit. Wird ihr auch gut tun.

    Wer mochte Octavia sein? Richard ging der Frage jedoch nicht weiter nach; der Raum, sagte er, Zeit und Raum fallen nicht mehr auseinander, nicht so, als wenn man mit dem Auto fährt, vom Fliegen ganz zu schweigen.

    Irene stützte den Kopf auf ihre rechte Hand, den Ellbogen auf den Tisch gestützt und hörte ihm mit weit geöffneten Augen zu.

    In der Nacht kam sie zu ihm, das lange schwarze Haar verschmolz mit der Dunkelheit hinter ihr, nur ihr weißes Hemd und ihr weißes Gesicht waren zu sehen, sie öffnete fast lautlos die Tür und stand vor ihm, es wunderte ihn nicht, aber neben dem müden Zug von Resignation war auch sofort die Erregung da, oder vielmehr, die Erregung war schon den ganzen Abend in ihm gewesen, niedergehalten, aber wirksam und spürbar als etwas Atmosphärisches zwischen ihnen, etwas Hin- und Herschwingendes, das die Konturen verwischte wie die heiße Luft über der Kerzenflamme. Sie war von einer geradezu atavistischen Schönheit, schon das war dazu angetan, ihn zu verführen, und diese Situation im Dunkeln, bei der man das Gesicht nicht sehen konnte, er wollte überhaupt nichts sehen, er konzentrierte sich auf sein Zentrum, sie schlüpfte aus dem Hemd und ihr schwarzes Haar fiel über die Brüste, die weiß waren wie ihr übriger Körper, alles war ganz weiß außer ihren Haaren. Außer dem Dreieck unten.

    Und sie nahm ihn, überwältigte ihn mit einer Wildheit und Ungezügeltheit, vor der erschrak, zurückzuckte, die weibliche Fähigkeit zur Wildheit, Gewalttätigkeit, Destruktivität, die schlummernde, ewig unterdrückte, entsetzende Urkraft, die im Liebesakt an die Oberfläche kommen kann, und die männliche Angst vor einem dunklen und unbegreiflichen Wissen, blind und zerstörerisch, von dem frühere Zeiten noch mehr gewußt haben mochten als wir heute, diese Frauen waren es, die Geheimnisse hatten, Geheimnisse, die sie hüteten, bedingungslos und ohne je die Absicht zu haben, sie zu mitzuteilen, ein eifersüchtiges Behüten und Bewahrenwollen, unbewußt oder verdeckt oder unaussprechlich. Es war eine Art alchimistischer Substanz, eine im Inneren eines Menschen wie in einem Glaskolben wirbelnde Materie, vielleicht würde eines Tages das Gold ausgeschieden, wer weiß, aber auch das Gold würde noch ein Geheimnis bleiben, die Art, wie es entstanden wäre und wie es genutzt würde. Denn diese Wildheit war auch seine eigene Gewalttätigkeit, seine in ihm hockende Destruktivität, und seine Angst davor und sein Grauen galt auch ihm selbst, das Grauen vor der Begegnung mit dem Furchteinflößenden im Leben, der anderen, der dunklen Seite, der Negativität, aber auch dies Wilde barg ein Geheimnis, vielleicht war es eine Art von Weisheit, es zu akzeptieren, was ihm bisher nicht gelungen war, aus Furcht. Dann kam die Erregung und schwemmte alle Gedanken und Bedenken fort, er hatte anderthalb Jahre lang keine Frau mehr gehabt, die aufgestaute Energie entludt sich rasend schnell, alle Wahrnehmung war ausgeblendet, als habe jemand, vielleicht der Henker, ein schwarzes Tuch über seine Augen geworfen, er nahm keine Rücksicht, konnte keine Rücksicht auf sie nehmen, alles war fortgeschwemmt, sein Ich, seine Gedanken, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, geblieben war die eine Spitze Lust, ein einziger scharfer schmerzhaft-lustvoller Augenblick.

    Nachdem sie gegangen war, stand er auf und ging ans Fenster und blickte hinaus, mit einem intensiven Empfinden für das Universum, in dem er sich drehte mit dieser Erde, auf der er stand, für den Kosmos, dessen Teil er war, eine ungeheure schwarze Hülle, die die sich darin drehende Erde und ihn selbst umgab, gerade jetzt ein tröstlicher Gedanke, umhüllt und geborgen im unendlichen Raum, gehalten von der Gravitation, einem Gesetz, das freischwebende Körper in ihrer Bahn hält und das verhindert, daß sie stürzen; aber warum das so ist, warum das funktioniert, er wußte es nicht. Ein bleiches Licht vom vollen Mond lag über dem Berg vorm Haus. Und auch das Haus umschloß ihn, dieses Haus, das er eigentlich verlassen wollte, jetzt, sofort, er wollte dort draußen gehen, über die weißen Felder, irrsinnigen schwarzen Raum um sich spüren, das Schwarz-weiß von Schatten und Mond, das Knirschen des Schnees unter den Schuhen, die Kälte. Sie nicht noch einmal sehen müssen, geschweige denn umarmen, diese Nacht war diese Nacht, dieses Zimmer war dieses Zimmer, und draußen war etwas Anderes, er würde ein Anderer sein, ziellos, Wanderer im Unendlichen

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