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Johannes Kepler: Morgenstern
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eBook260 Seiten4 Stunden

Johannes Kepler: Morgenstern

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Über dieses E-Book

Johannes Kepler, Sternenforscher und Mathematiker, Entdecker der Planetengesetze und Wegbereiter der modernen Astronomie, druckt im Jahr 1627 die Sternentafeln des Dänen Tycho Brahe in Ulm. Krieg, Vertreibung und die Wirren der Gegenreformation prägen sein Leben in den letzten Lebensjahren. Mit Witz und Geduld meistert er auch schwierige Situationen und bleibt immer auf der Suche nach der Wahrheit.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Sept. 2016
ISBN9783734547935
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    Buchvorschau

    Johannes Kepler - Eva Rita Weiser

    Kapitel Eins

    Ein Fußmarsch im Schnee; Ziegen, Engel und der Johannesbrunnen

    Eines Montagmorgens im Februar machte sich ein Mann auf den Weg von Ulm nach Tübingen, zu Fuß, durch den Schnee, sein Felleisen auf dem Rücken und seine Börse in den Gürtel eingehängt.

    Er war noch kein Greis, aber auch keiner von den Jungen. Bis zu seinem Sechzigsten Lebensjahr war nicht mehr lang hin.

    Er ging allein. Über Blaubeuren gedachte er die kurze Strecke zu bewältigen; in zwei bis drei Tagen, meinte er, müsste es hingehen. Im Blaubeurer Kloster würde er die erste Station machen, von da an weiter; vielleicht gäbe es Schlitten, auf denen er mitfahren könnte. Denn Blaubeuren und Tübingen hatten Verbindungen. Die Winter in diesen Zeiten waren lang; das Land lag tief verschneit, schon seit Oktober des vergangenen Jahres herrschte Kälte; sie hatte Schnee und krachendes Eis mit sich gebracht. Immer neuer Schnee war auf den alten vom Vorjahr gefallen. Man schrieb das Jahr 1627.

    Im ausgehenden Winter, bei Eis und Schnee, allein zu Fuß durch abgelegene Höhen und Wälder: dazu muss es doch einen Grund geben? Einen Grund und einen Anlass? Nun, es war Sorge, die ihn hinaustrieb, es war seine Aufgabe, die ihn in Bewegung brachte, und auch ein großer Teil Ärger, den er verwinden musste. Sorge um den Sohn, der ihm, er wusste nicht wie, entglitten war: ob in den Kriegeswirren, bei den Wohnungswechseln, ob er auf der Flucht ihn verloren hatte.

    Der seit Kurzem in Tübingen studierte und ihm Sorgen bereitete; Geldsorgen vor allem. Dann die Aufgabe, die vor ihm stand, die ihn schon seit fünfundzwanzig Jahren plagte: nun endlich die Sternentafeln herauszugeben, in Druck zu bringen, die Tafeln, die zu Ehren des längst verstorbenen Kaisers die Rudolfinschen heißen sollten. Auf die so viele warteten, und durch deren Verkauf er endlich einmal an ein Geld kommen könnte. Doch wie ein Fluch war es über den Tafeln gehangen: es war wie verhext. Immer wieder stieg neues Ungemach auf und verhinderte ihren Druck. Zuletzt in Linz, als die ganze Druckerei in Flammen aufging. Wie in einer Eingebung hatte er das Manuskript und die Drucklettern am Vorabend herausgeschafft.

    Ja, Pech hatte er oft gehabt, aber manchmal auch Glück. Oder Ahnung. Die ihn auch oft getäuscht hatte. Nun, du musst es nehmen, wie es kommt, hatte er sich dann gesagt. Manchmal passt es mit den Ahnungen, manchmal nicht. Lieber einmal zu viel aufgepasst als einmal zu wenig. Doch mit dem Druckort Ulm und dem Stadtdrucker dort hatte er sich ganz vertan, meinte er. Und es ärgerte ihn insbesonders deshalb, da ihm, selbst nach eingehender Prüfung und Überlegung, die Umstände bestens geeignet schienen: Dieses Ulm direkt an der Donau, die schiffbar war nach unten und nach oben, die zudem gute Straßenwege hatte, diese freie Reichsstadt, in der man ein Vaterunser oder ein Paternoster beten konnte, wie einem das Herz stand. Wo man für einen Taler viele Tage leben konnte, und wo große Rollen seines guten Papiers bereitlagen. Die schon bezahlt waren. Grad wie so manche Fässer Wein, die er hatte herschaffen lassen, vor zwei Jahren. Konnte einer vorausschauender sein, hatte er nicht an alles gedacht? Hatte er nicht mit seinem Freund Johann Baptist alles geplant und vorbereitet? Mit dem Ortsansässigen, der stracks wie ein Brückenpfeiler in Ulm am Donauufer stand und die Strecke zwischen Linz und Tübingen verkürzte? Pass nur auf, dachte er manchmal im Stillen, das gäb noch den Goldenen Schnitt, wenn ich das ausrechne. Der Ort ist doch wie geschaffen. Im Dezember war er angekommen, hatte sich eingerichtet im Haus neben dem Stadtarzt Gregor Horst, hatte die Druckerei in Augenschein genommen, die genau wie beschrieben direkt gegenüber lag; hatte seine Zahlen- und Buchstabenlettern sortiert, sich mit dem Setzergesellen Silbernagel bekannt gemacht. Doch mit dem Drucker selbst, dem Jonas Saur, wurde er nicht warm. Der war ihm menschlich nicht angenehm; er schien ihm hinterhältig, gerissen und geldgierig, und bereits nach kurzer Zeit hatten sie handfesten Krach, die beiden Männer. Es ging bis vor den Stadtrat, zu seinem Verdruss, denn das Aufenthaltsrecht war ihm als Fremden nur für ein halbes Jahr gewährt, und selbstredend durfte er sich nichts zuschulden kommen lassen.

    Es waren allerdings nicht die Sorgen allein, die ihn hinaustrieben. Es war nicht die schwere Aufgabe, nicht nur der peinliche Ärger. Es war sein Körper selbst, sein eigener fleischlicher Körper, der in Nöten war und ihn herumtrieb. Der ihm sein Lebenlang Wochen mit Fieber, Tage von Schwäche und Übelkeit beschert hatte und ihn des Nachts aufschreckte, mit Alpträumen, mit Herzrasen, mit Atemnot. Sein Körper mit der verletzlichen Hülle, der weißen, dünnen Haut, die an vielen Stellen schadhaft war wie ein alter Flickenmantel. Die vor allem furchtbar juckte. Die außen juckte, und innen, wo er nicht kratzen konnte. Denn die Stellen auf der Haut, wo die Scabies saßen, an den Armbeugen, in den Achseln, in den Leisten, die waren schon aufgekratzt, verhornt und zugekrustet und wieder aufgekratzt, braun und lila war die Haut da. Aber es juckte ihn auch innen, in den Armen, im Hals, im ganzen Kopf. Zu schweigen von den Abszessen und Ulcera, die ihn schon seit der Kindheit plagten und die ihn niemals wieder verließen. Als hätten sie eine Heimstatt gefunden. Sogleich an die Haut gegangen waren ihm die Plagegeister, und unter die Haut, als ob sie dort die reichste Beute fänden: als kleines Kind ihn mit den Pocken fast zu Tode gebracht, dann ließen sie Geschwüre wachsen, Entzündungen, Eiter; schlechte Drüsen wucherten auf dem Leib und mussten entfernt werden. Die Totwürger gingen ihm an die Haut, an die Körperhülle, - die wollen mir an‘s Leder, spottete er. Dann trag‘ ich die mal ins Freie, pflegte er zu sagen, die bring ich an die Luft. Das schätzen sie nicht, wenn ich den Körper ventiliere, an der kalten frischen Luft. Und wirklich wurde ihm wohler, wenn er ins Freie lief, ins Offene, wo die frische Schneeluft seine Haut kühlte.

    So auch an diesem Montagmorgen. Am Sonntagabend hatte er seine Sachen gerichtet und in den Rucksack verstaut; morgens würde er nur mehr die Wegzehrung in einen Leinenbeutel packen und losziehen.

    Wie so oft, hatte er in den frühen Morgenstunden einen Traum geträumt, der ihn keuchend und schwitzend hochfahren ließ. Den Traum kannte er schon, es ging immer um die gleiche Sache: nämlich um eine Druckerpresse, in die er lebendig hineingesteckt wurde, und die seinen Leib mittels Ruckeln und Schütteln in Stücke presste und ausspie; in kleinen Wabensteinen, durchsichtig gläsern und farbig lag das Abbild seines Körpers auf dem Boden; an guten Tagen ließ ihn dies lachend aufwachen. An schlechten formten die Steine seltsame Buchstaben und Worte, die er entziffern sollte, was ihm jedoch nicht gelang, und was desto bestürzender und beschämender war, als ihm bewusst war, es müsse ganz einfach sein. Aber er kam nicht dahinter, und das Erwachen war Qual und Erlösung in einem. An diesem Morgen war der Traum besonders drückend, mit Übelkeit und Atemnot fuhr er im Bett hoch. Sein Kopf tat ihm weh. Er setzte sich auf, stellte die Füße auf den Boden, fuhr mit der Hand durch die langen Haare und warf die Bettmütze in die Zimmerecke. Grub die Stirn in die Hände und verharrte so; denn es schien ihm, als müsse er aus dem Traum etwas lesen, und als sei er kurz davor. Die Buchstaben tanzten noch vor seinen Augen. Besinnung war ihm jedoch nicht vergönnt, denn augenblicklich bollerte es leise an der Tür; er stellte sich darauf ein, dass die widerliche Magd vom Doktor Horst das Essen brächte. Fest schloss er die Augen, denn ihren Anblick vermied er nach Kräften. Sie war laut; kaum verstand er ihre Sprache, sie störte sein Empfinden; und am wenigsten ertrug er ihren strengen Geruch.

    Doch diesmal war es anders: ein Rauschen und Flattern wie von Vogelschwingen; ein zarter Geruch kitzelte seine Nase; Zimt roch er und Hafer, und zugleich den Duft eines jungen Mädchenkörpers. Er riss die Augen auf und traute ihnen nicht, denn vor ihm bewegte sich, mit dem Rücken zu ihm, eine unbekannte Gestalt: Schlank und biegsam, auf leisen Sohlen war da eine zu ihm hereingekommen, rückte und stellte geräuschlos Schüsseln und Näpfe zueinander, ordnete die Dinge, wie sie zusammengehörten, und wendete sich schließlich mit einem Drehen zu ihm. Da war es ein junges Mädchen, das lieblich nickte, mit der Hand auf die Speisen wies und sprach: „Guten Morgen, ich soll grüßen vom Doktor Horst, ich darf neuerdings das Essen bringen und den Herrn bedienen, wenn er etwas braucht". Und war mit leisem Schließen der Tür verschwunden. Ihre blonden Zöpfe waren das letzte, was er von ihr sah.

    Kopfschüttelnd warf der Mann die Decken von sich, stieg aus dem Bett und wusch sich, band seinen Zopf frisch zusammen, fuhr mit beiden Beinen in die Hose, die neben seinem Bett auf einem Stuhl lag, zog sich vollends an und stand bald angekleidet in seinem Zimmer. Ging zum Fenster, nahm die Vorhänge zurück und blickte in die kleine Gasse mit den Giebelhäusern.

    Es war noch dunkel und kaum etwas zu sehen, aber sogleich fiel ihm ein, wo er war: in Ulm, seit einigen Wochen war er hier. Und allein, ohne seine Frau, ohne die Kinder. Es war nicht anders gegangen, oder jedenfalls auf Anhieb nicht anders. Vielleicht könnte er sie nachkommen lassen. Wenn der Fluss wieder befahrbar wäre. Denn schon im Oktober, als sie abgereist waren in Linz, war die Winterkälte gekommen, und im Lauf der Schifffahrt war die Donau zugefroren. Es ärgerte ihn, dass er es nicht vorhergesehen hatte. Kaum schaffte es das Schiff bis Regensburg. Dort hatte er seine Frau und die Kinder untergebracht und war allein mit einem Wagen weitergefahren, gefährlich genug. Aufgetürmt und festgezurrt die schweren Reisetruhen, die Kisten mit den Lettern und Zahlen aus Blei; die Druckstöcke und in einer ledernen Mappe das Manuskript, das kostbare, das nun in Ulm zum Druck kommen sollte. Er hatte schon angefangen und war nicht schlecht vorangekommen; bis auf den Ärger mit dem Drucker. Es trieb ihn nach Tübingen, zu schauen, ob dort ein anstelliger Drucker zu finden wäre; ob die Kosten des Lebens dort erschwinglich wären; welcher Art Behausung es gäbe und zuletzt, ob er eine Köchin fände, ihm das Leben halbwegs annehmlich zu machen. Er war nicht anspruchsvoll, aber im Lauf seines Lebens musste er lernen, dass manches seiner Gesundheit zuträglich war, anderes nicht. Wenn er noch eine Weile am Leben bleiben wollte, müsste er darauf Rücksicht nehmen.

    Setzte sich, schon im Mantel und den Wollehut auf dem Kopf, den Rucksack auf dem Rücken, an den kleinen Holztisch am Fenster, nahm den Griffel, der dort bereitlag und schrieb in eine Spalte auf eine Schiefertafel: „Montag, 5. Februar 1627, Julianisch, Ulmae, in Suebia. Malte das Zeichen für den Neumond, ergänzte: Westwind; Schneewolken/nachts stark gewindet". Stieg die kurze Treppe ins Erdgeschoss hinab und war die Tür draußen; hielt sich auf der Gasse links und stand in wenigen Schritten vor dem Münster.

    Der weite Platz vor der großen Kirche lag im morgendlichen Halbdunkel. Es war kalt, Schnee und Rauch lag in der Luft; es windete. Er roch das Eis und die starken Wasser der Donau von unten her. Geschäftiges Treiben, Lärm und Geklapper. Händler bauten ihre Buden auf, stapelten ihre Waren: Bäcker, Metzger und Fischhändler; der Messerschmied drehte am Rad und ließ die Funken sprühen. Die gesamte Fläche war vereist. Kinder liefen auf Schlittschuhen in die Lateinschule auf dem Münsterplatz; Mütter zogen ihre Kleinen auf Schlitten hinter sich her. Windgeschützt, an einer Ecke der großen dunklen Kirche brannten Jäger einem erlegten Wildschwein die Borsten ab, es qualmte beißend, und es roch nach Blut und verbranntem Horn. Heftig spürte er die Kopfschmerzen vom Erwachen wieder, und Übelkeit stieg in ihm hoch.

    Die Turmuhr am Münster schlug dröhnend Achtmal; der Marktplatz zitterte. Des Schlagens nicht versehen, blieb er erschrocken stehen, und das war sein Glück, denn ein Junge lief in großer Geschwindigkeit um die Ecke und ihm genau in die Leibesmitte; fast hätte er ihn umgerannt. Es war ein Schuljunge, nicht aus einem der reicheren Häuser, man sah es gleich an seinem dünnen Anzug. Beide strauchelten und suchten auf dem Eis rutschend ihr Gleichgewicht. Erschrocken packte er den Jungen am Kragen. Der wand sich und suchte eilig aus dem Griff zu kommen:

    „Ich muss in die Schul‘, es hat ja schon gleich angefangen, rief er, doch der Mann ließ ihn nicht frei. „Erst sagst mir, warum du so rennst, und die Leute aus der Bahn bringst. Ich hätt sterben können an dem Schrecken!. „Ich muss in die Schul‘, es geht los um Acht, und es schlägt schon! rief der Junge wieder, und zeigte mit der Hand in Richtung auf das Schulgebäude. „In die Lateinschul geh ich, wir müssen pünktlich sein, der Herr Hebenstreit hält den Unterricht, und er ist streng. „Aha sagte der Alte mit einem kleinen Lächeln, „sagst dem Herrn Lehrer einen Gruß von mir, vom Johannes aus Linz, ich hätte dich aufgehalten, hätte dir einen Spruch beigebracht, den soll er die Klasse mal übersetzen lassen. Neigte sich dem Jungen ans Ohr und flüsterte geheimnisvoll: „Kurentum Seerum, rennte lamentum – und wenn ich dich nächstes Mal seh‘, will ich wissen, wie‘s richtig übersetzt wird, aber Müh müsst ihr euch schon geben. Und gab dem Jungen einen Stups, so dass dieser erneut fast wieder ins Rutschen und Fallen kam. „Sag nochmal, wie heißt die Sentenz? „Kurentum seerum, rente lamentum keuchte der Junge, hob seine Mütze auf, packte seinen Ranzen, der ihm von der Schulter gerutscht war, und lief eilends davon.

    Noch erheitert über seinen Scherz, dachte er: Das Latein lernt er grad, und Rechnen nachher auch. Wie froh ich bin, dass sie immer wieder nachwachsen, die gescheiten Buben. Wird mein Tafelwerk noch brauchen können, wenn er fertig ist mit seinem Studium. So Junge mit einem Ingenium, die brauchen wir, solche, die nicht alles nachplappern, was man ihnen vorbetet. Schön ist‘s, wenn sie anfangen selber denken. Wie man so blaue Augen haben kann, dachte er, „das ist ein Geschenk der Natur. Der hat ganz schwarze Haare gehabt, und blaue Augen dazu, das ist doch eine Gabe. Und dabei ist seine Haut ganz weiß gewest. Wie die von dem Mädchen heut in der Früh, aber die war blond. Und von der Sorte gibt’s auch Rothaarige, aber keine Braunen. Seltsam. Scheint‘s hier in Ulm gibt’s besonders viele mit blauen Augen. Da acht ich jetzt mal drauf, ob ich die Systemia dahinter finde.

    Im Gehen war er an einem Stand vorbeigekommen, aus dem Wärme und ein feiner behaglicher Duft stieg; über Holzkohlen wendete ein Alter Kastanien auf einem Eisengitter; für die nächste Fuhre schnitt er weitere mit einem Messer kreuzförmig ein. „Schau, Maroni, die habt ihr hier auch, sagte Johannes versonnen und in sich gekehrt, - „gebt mir eine Handvoll, ich nehm‘ sie in die Manteltasche, wärmen sie mir doch die Händ eine Weile. „Was Maroni, wie Maroni, Keschdte sind’s, so vornehm tut er murrte der Kastanienmann, und während er noch stand, dem Alten am Feuer einen Kreuzer gab, mit seinen Handschuhen herumfuhrwerkte und die Maroni in die Manteltasche steckte, kam der Junge von eben wieder. „Potzblitz, ist schon aus die Schul, habt ihr Feiertag heute, Lichtmess ist doch schon vorbei? fragte er, und jener antwortete: „Nein, doch, unser Lehrer ist krank, er muss das Bett hüten, er kann den Unterricht heut nicht halten, und wer in der Nähe wohnt, hat es geheißen, der darf heimgehen und um zehn wiederkommen, wenn Griechisch ist beim Lehrer Wippinger".

    Johannes gab dem Jungen zwei Kastanien und versank in Sinnen. „Da ist also doch was dran, an den Gerüchten mit dem Johann Baptist. Heut Morgen krank, aber gestern Abend war er fidel, und das Kesselfleisch hat ihm geschmeckt, und der Wein noch besser. Denn sie waren mit einigen Freunden ihrer Bekanntschaft abends zusammengesessen. „Ja, der Wein im Krug hängt bei manchen zusammen wie an einem Stück, und wenn man nicht aufhören kann, dann steigt‘s einem in die Galle und von da direkt in den Kopf, dann muss man speien und wimmern. Ich red mit ihm, wenn ich zurück bin von Tübingen. Am liebsten ging ich erst nach unten an die Donau, ob eins der Händlerschiffe daliegt. Manche bringen Grüße aus Regensburg, von meiner Hausfrau, meiner lieben Susanna. Auch Sachen gibt sie ihnen mit, Dinge die ich brauchen kann, die ich in der Eile dort hab liegen lassen. Als wir uns getrennt haben im November war es noch viel kälter als jetzt. Gradwegs steckengeblieben im Eis war es, unser Schiff von Linz her. Bis Regensburg haben wir es zusammen geschafft, ich hab sie untergebracht und eingerichtet, dann musste ich allein weiter. Auf dem hohen Wagen, mit den Lettern und dem Manuskript und der Bettwäsch und der Rüstung. Heut noch tut mir der Podex weh und bin ich noch nicht erholt. Zum Glück war in Regensburg beim Waller in der Donaustraße grad die Wohnung frei. Platz hat sie da für die Kinder und für sich, und sie ist versorgt mit dem Nötigsten. Nur mich hat sie nicht, das kommt ihr hart an. Wie sie herzbrechend geweint hat beim Abschied, wie sie gerufen hat „Wann kommst denn wieder, wann kommst denn wieder, wie ihr die hellen Tränen aus den Augen liefen, das tat mir weh. Wenigstens haben wir den Fluss und können uns verständigen. Letzte Woche hat sie mir Kuchen geschickt. Auch auf Weihnachten und auf meinen Geburtstag, wo ich ohne sie sein musste, und ich ihr auf ihren, sind ja grad vier Tage vorher. Fünfundfünfzig Jahr bin ich jetzt alt. Nein, gedacht hätt ich es nicht, dass ich so alt werde. Und sie, die liebe Gute; Siebenunddreißig ist sie geworden, am 23.12., grad einen Tag vor den Weihenächten".

    Er rieb seine Hände in den Handschuhen. Er vermisste seine Frau sehr. Die Frau und die Kinder fehlten ihm unsagbar. Er war nicht gern allein. Es war ihm ein Graus, wenn das Haus leer und kalt war. Er vermisste ihre weiche Wärme, ihr Lächeln, ihren Blick. Ihren Duft, wenn sie von hinten an ihn schlich, ihre Arme um ihn schlang und seine Wange küsste. Für ein halbes Jahr plante er den Aufenthalt in Ulm; vielleicht konnte er sie im Frühjahr zu sich holen. Die Genehmigung vom Magistrat war da. Wenn erst das Eis weg wäre, und die Donau wieder zu befahren.

    Tief versunken in Gedanken war der Fremde weitergelaufen, und der Junge stand und sah ihm nach. Er wusste schon, wer das war: Der Mathematikus vom Kaiser war es, ein ganz berühmter Mann, hatte es geheißen, und er hatte sich gewundert, dass er gar nicht danach aussah. Vom Kaiser in Prag. Schon als die Pferdewagen gekommen waren mit den Kaufleuten aus Linz war ein rechtes Zusammenlaufen auf dem Platz gewesen. Gezittert und geschnaubt hatten die Rösser und mit den umwickelten Hufen gescharrt auf dem glatten Eis, dampfend aus ihren Mäulern.

    Er hatte zugeschaut, bis der Alte abgestiegen war vom hohen Wagen: Umständlich, wacklich, zittrich und langsam, in einem langen schwarzen Mantel und Stiefeln, die Haut im Gesicht hell wie Buttermilch, und als er endlich heruntergeklettert war, fast hätte er sich mit dem Absatz verheddert auf dem Tritt, war es ein älterer Mann, kaum größer als er selbst, so kam es ihm vor. Wie lang die Burschen gebraucht hatten, um alles abzuladen. Kisten und Kasten trugen sie herunter; waren anscheinend schwer wie Blei. Laut geflucht und gespuckt hatten sie beim Schleppen. Und der berühmte Mann war jetzt hier in Ulm, wohnte in der Rabengasse gleich beim Doktor Horst um die Ecke, und ging über den Marktplatz und aß heiße Kastanien. Hatte aber einen Rucksack auf und sein Brotbeutel am Gürtel und sein Wehrgehäng mit der Pistol um, als ob er für länger verreisen wolle. Ging er am End schon wieder fort aus Ulm?

    Ohne viel zu überlegen – bis zur Schule um Zehn war noch Zeit -, ging der Junge dem Alten nach, in einigem Abstand, fast wie zufällig und war neugierig, wohin dieser seinen Weg lenken würde. Sah, dass er über die kleine Blau ging, bis hin an den Wachturm am Westtor, sah ihn kurz mit dem Wächter sprechen und dann aus der Stadt hinausgehen.

    Unschlüssig stand der Junge an der Mauer und blickte auf seine Schuhe. Die waren vom Schnee dick vermatscht und seine Zehen eiskalt. Er hüpfte auf den Zehenspitzen. Ihn fror, und er wendete sich, um in die Schule zurück zu gehen. Wenigstens war es dort ein bisschen warm, und in der großen Stube brannte ein Feuer.

    Der berühmte Mathematikus indessen begab sich auf den Weg, auf eine Wanderung wie schon so viele, zu Fuß, was ihm das Liebste war, in der frischen kalten Luft, versorgt mit allem, was er brauchen würde. Kaum war er aus der Stadt, nahm er den Weg in Richtung Eselsberg, der Aufstieg war nicht lang, und er würde über einen schönen Höhenweg gehen; wenn sich der Tag hob, könnte er vielleicht weit schauen, wie er es liebte.

    „Allemal lohnt sich das, den Buckel hochzusteigen, sagte er sich. „Unten am Wasser krieg‘ ich vielleicht noch nasse Füß‘, da oben werde ich schön ventiliert, der Weg ist eben, ich hab eine Aussicht, und ich verlauf mich nicht. Ich bin zeitig dran, redete er sich zu. „Bis zur Vesper bin ich in Blaubeuren. Dort in der Klosterschul nehmen sie mich gern auf. Der Oheim, der Ziehvater vom Wilhelm Schickard ist dort Abt, schon seit vergangenem Mai; grad neulich haben sie‘s mir gesagt. Ich freu mich auf Blaubeuren, kenn‘ es, seit

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