Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Blinde Schuld: BsB_ Roman zur Zeitgeschichte
Blinde Schuld: BsB_ Roman zur Zeitgeschichte
Blinde Schuld: BsB_ Roman zur Zeitgeschichte
eBook355 Seiten5 Stunden

Blinde Schuld: BsB_ Roman zur Zeitgeschichte

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ein Mann wird wegen einer Tat erpresst, die zwanzig Jahre zurückliegt. Eine Gruppe demoralisierter Soldaten hatte das Verbrechen als harmloses Spiel getarnt – aber es war ein Spiel mit Waffen und so machte sich der Mann schuldig – wenn auch, ohne es zu wissen.
Es gibt einen Entlastungszeugen, einen, der bestätigen könnte, dass ihn lediglich „blinde“ Schuld trifft, weil er das Böse in diesem Spiel nicht kannte.
Der Mann macht sich also auf die Suche nach diesem Zeugen. Er stößt auf eine dürftige Spur und macht die enttäuschende Entdeckung, dass sein Zeuge, ohne festen Wohnsitz, ein obskures Gewerbe betreibt und schwer zu fassen ist. Seine Suche wird zur Flucht und zur Jagd zugleich. Sie führt ihn nach Veracruz, nach Mexico-City, Cuernavaca, nach Acapulco und in die zwielichtige Grenzstadt: Tijuana.
Ein Roman, der von der Hölle erzählt und vom Paradies, von Indios, Mestizen und Weißen, von tropischem Blühen und von den Spuren raschen Verfalls – und: von der kurzlebigen Liebe zwischen Menschen, die sich aus geschichtlichen Gründen missverstehen.
Das Thema Erpressung, mit aller zerstörerischen lebensbedrohenden Wirkung, macht diesen Roman für immer neue Generationen lesenswert.
Matthiesens augenfälligstes Merkmal ist dabei die suggestive Kraft seines Erzählens, die darüber hinaus das Südamerika der 70er Jahre auferstehen lässt, wie das Lübeck-Travemünde dieser Zeit.
SpracheDeutsch
HerausgeberBest Select Book
Erscheinungsdatum20. Juli 2015
ISBN9783864663512
Blinde Schuld: BsB_ Roman zur Zeitgeschichte

Mehr von Hinrich Matthiesen lesen

Ähnlich wie Blinde Schuld

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Blinde Schuld

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Blinde Schuld - Hinrich Matthiesen

    Hinrich Matthiesen

    Jahrgang 1928, auf Sylt geboren, wuchs in Lübeck auf. Die Wehrmacht holte ihn von der Schulbank. Zurück aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er und wurde Lehrer, viele Jahre davon an deutschen Auslandsschulen in Chile und Mexico. Hier entdeckte er das Schreiben für sich.

    1969 erschien sein erster Roman: MINOU. Dreißig Romane und einige Erzählungen folgten. Die Kritik bescheinigte seinem Werk die glückliche Mischung aus Engagement, Glaubwürdigkeit, Spannung und virtuosem Umgang mit der Sprache. Die Leser belohnten ihn mit hohen Auflagen.

    Immer stehen im Mittelpunkt seiner Romane menschliche Schicksale, Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Hinrich Matthiesen starb im Juli 2009 auf Sylt, wo er sich Mitte der 1970er Jahre als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.

    »Zum literarischen Markenzeichen wurde der Name Matthiesen nicht zuletzt durch die Kunst, in eine pralle Handlung Aussagen zu verweben, die außer dem aktuellen stets auch einen davon unabhängigen Bezug haben. Gedankliche Strenge, sprachliche Disziplin und ein offensichtlich unauslotbarer verbaler Fundus lassen Matthiesen zu einem Kompositeur in Prosa werden.«

    Deutsche Tagespost

    »Matthiesen ist zu beneiden um seine Fähigkeiten: Kompositionstalent, menschliche Einfühlung, scharfe Beobachtungsgabe – und vor allem um seinen Stil«

    Deutsche Welle

    »Matthiesen ist für seine genauen Recherchen bekannt. Seine Bücher weichen nicht einfach in exotische Abenteuer aus, sondern befassen sich immer wieder mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Unterhaltsam sind sie allemal.«

    FAZ-Magazin

    Werkausgabe Romane Band 2

    Herausgegeben von Svendine von Loessl

    Der Roman

    Ein Mann wird wegen einer Tat erpresst, die zwanzig Jahre zurückliegt. Eine Gruppe demoralisierter Soldaten hatte das Verbrechen als harmloses Spiel getarnt – aber es war ein Spiel mit Waffen und so machte sich der Mann schuldig – wenn auch, ohne es zu wissen.

    Es gibt einen Entlastungszeugen, einen, der bestätigen könnte, dass ihn lediglich „blinde" Schuld trifft, weil er das Böse in diesem Spiel nicht kannte.

    Der Mann macht sich also auf die Suche  nach diesem Zeugen. Er  stößt auf eine dürftige Spur  und  macht die enttäuschende Entdeckung, dass sein Zeuge, ohne festen Wohnsitz, ein obskures Gewerbe betreibt und schwer zu fassen ist. Seine Suche wird zur Flucht und zur Jagd zugleich. Sie führt ihn  nach Veracruz, nach  Mexico-City, Cuernavaca, nach  Acapulco  und  in die zwielichtige Grenzstadt: Tijuana.

    Ein Roman, der von der Hölle erzählt und vom Paradies, von Indios, Mestizen und Weißen, von tropischem  Blühen und von den Spuren raschen Verfalls – und: von der kurzlebigen Liebe zwischen Menschen, die sich aus geschichtlichen Gründen missverstehen.

    Das Thema Erpressung, mit aller zerstörerischen lebensbedrohenden Wirkung, macht diesen Roman für immer neue Generationen lesenswert.

    Matthiesens augenfälligstes Merkmal ist dabei die suggestive Kraft seines Erzählens, die  darüber hinaus  das Südamerika der 70er Jahre  auferstehen lässt, wie das Lübeck-Travemünde dieser Zeit.

    Titelverzeichnis der Werkausgabe in 31 Bänden am Ende des Buches

    Hinrich Matthiesen

    Blinde Schuld

    Roman

    :::

    BsB_BestSelectBook_Digital Publishers

    Werkausgabe Romane

    Herausgegeben von Svendine von Loessl

    Band 2

    Alle Rechte vorbehalten

    © 2015 by BestSelectBook_Digital Publishers München

    ISBN 978-3-86466-351-2

    1.

    Georg Kramers erster Blick an diesem Morgen erfasste das launenhafte Lichtspiel, das die Sonne mit den Gegenständen seiner Kabine trieb. Es war ein bewegtes Hin und Her, denn das Schiff schlingerte stark. Mitunter verharrte ein Lichtfleck an irgendeiner Stelle der dunklen hölzernen Wand und registrierte die Balance des Schiffes, das sein eigenes Spiel mit den Wellen hatte. Und bei einem besonders harten Schlag des Bugs gegen das Wasser, der das Licht in einen wilden Wirbel versetzte, musste Georg Kramer an seine kleine Tochter denken, wie sie einmal während einer Filmvorführung im Wohnzimmer den Projektor umgestoßen hatte, so dass das Bild von der Leinwand weg durch den Raum geglitten war und die Zuschauer es schließlich an der Decke gesehen hatten, böse verzerrt. Es waren Reiseaufnahmen vom Sommer des letzten Jahres gewesen. Ein Urlaub in Málaga.

    Georg Kramer schloss schnell die Augen. Er wollte nicht denken. Das Erwachen am Morgen eines freien Tages empfand er als einen der privatesten Augenblicke, die es im Leben eines Menschen geben kann. Es schenkte ihm auch nun ein Gefühl wohltuender Weitläufigkeit. Eine Weile gab er sich der dumpfen Vorstellung hin, ein Tier möchte so sein Dasein empfinden. Kramer genoss die wohlausgewogene Lagerung der Glieder, in denen das Taube des Schlafes noch ein wenig verharrt, dieses Zwischenstadium, das den Schlaf ablöst, aber noch keine Teilnahme erfordert.

    Er lag auf der rechten Seite, die Arme ineinander verschränkt, die linke Hand unter die rechte Achselhöhle geschoben, eine Ecke des Kissens zwischen dem rechten Oberarm und dem Kopf. Das linke Bein hatte er hoch angezogen, den rechten Fuß hinter sich ins Freie gestreckt wie einen vorgeschobenen Posten, der ihm die Kühle des Raumes mitteilte und ihn die Bettwärme doppelt empfinden ließ. Es war nun jeden Morgen dasselbe. Immer lag er, nachdem eines der vielen Bordgeräusche ihn geweckt hatte, so da und genoss die träge Indifferenz des Augenblicks. Und immer wieder war ihm, als sei dies die optimale Form eines Daliegens und wohlgeeignet für die ewige Ruhe, der man doch eine gewisse, wenn auch unerforschliche Weise des Weiterlebens nachsagte.

    Allerdings entschied auch bei ihm der Tag, zu dem er erwachte, über Dauer und Qualität dieses behaglichen Dämmerns. Heute war nichts. Ein Tag auf See, der achte ohne jeglichen Anspruch. Das Schiff hatte unter Nacht die Azoren passiert und würde voraussichtlich noch knapp zwei Wochen brauchen bis nach Veracruz.

    Er fiel zurück in einen leichten Schlaf. Als er eine halbe Stunde später endgültig erwachte, erhob er sich. Die Bewegungen des Schiffes erschwerten ihm das Duschen und Rasieren. Er schnitt sich am Hals, gab sich aber keine Mühe, das Blut zu stillen. Für wen, fragte er sich. Es lohnte sich nicht. Als er die Treppen hinaufstieg, musste er sich an beiden Geländern festhalten. Er ging nicht in den Messeraum zum Frühstücken, sondern trat hinaus auf das Deck. Den Blutfleck an seinem Hemdkragen hatte er beim Verlassen seiner Kabine entdeckt. Er hatte das Hemd nicht gewechselt.

    Es war kein großzügiges Promenadendeck, sondern ein schlichtes, nüchternes Arbeitsdeck, das durch ein paar Liegestühle, einige weiße Spielmarkierungen auf den Laufplanken und einen kleinen, mittschiffs errichteten, überdachten Raum in bescheidener Form die Passagiere zum Freiluftamüsement lud. Von einem viertausend Tonnen großen Kombischiff, das zwölf Fahrgästen Platz bot, konnte man nicht mehr erwarten.

    Georg Kramer hatte vierzehnhundert Mark für die Überfahrt gezahlt. Das war die günstigste Möglichkeit, einen Ozean zwischen sich und seinen Heimatort zu bringen und gleichzeitig für drei Wochen in einer gutbürgerlichen Herberge mit einer gutbürgerlichen Küche untergebracht zu sein. Nachdem er vor einer Woche in Bremerhaven an Bord gegangen war, seine Kabine bezogen und zu Abend gegessen hatte, war ihm diese Atmosphäre willkommen gewesen, obwohl er auf seinen Reisen Hotels dieser Art meistens gemieden hatte. Sie waren ihm zu langweilig gewesen. Nun war ihm dieses Ambiente recht, denn er wollte ohnehin keinen Kontakt. Er wollte um jeden Preis allein sein. Ein guter Bürger bin ich, dachte er, wenn auch nicht im Sinne der Unterkunft, Küchenqualität, Kleidung und anderer Lebensgewohnheiten, wie es jetzt scheint; nein, ich bin ein guter Bürger im Sinne des Wortes und bin nur deshalb auf diesem Schiff, weil es jemanden gibt, der daran zweifelt oder zumindest vorgibt, daran zu zweifeln.

    An der Reling schlug ihm eine Brise mit Salzwasser ins Gesicht. Er drehte sich um und zündete sich im Schutz der hohlen Hand eine Zigarette an. Noch zwanzig Minuten, dachte er, dann kann ich hinuntergehen. Dann kann ich frühstücken und brauche keine Konversation zu betreiben. Dann ist der Einzeltisch, an dem nun der deutsch-mexikanische Ingenieur sitzt, frei, und ich brauche mich nicht zu den sechs guten Bürgern an die große runde Tafel zu begeben wie am ersten Morgen. Vielleicht tue ich ihnen Unrecht. Vielleicht ist der dicke deutsche Finquero mit den rosigen Bäckchen, die beim Essen wie Hamstertäschchen auf- und abhüpfen, nichts weiter als dumm, was verzeihlich wäre, und vielleicht ist das Unverzeihliche bei mir zu suchen? Aber ich kann es nicht mehr mit anhören, wenn er immer nur von seiner Kaffeefinca spricht, wenn er immer nur über seine eingeborenen Plantagenarbeiter schimpft und mit dem ewigen Lamento über die Faulheit und Unzuverlässigkeit der Indios seinen Zuhörern beweisen will, dass er ein Patron ist. Er hat auch sonst so wenig von einem Patron. Die Städte Europas werden nach dem Kaffee beurteilt, den man in ihren Mauern trinkt. Das um jeden Preis an den Mann gebrachte Fachurteil wirkt penetrant, wenn es mit Ausschließlichkeit auf einem so schmalen Sektor wie dem der Kaffeezubereitung gefällt wird. Ja, wenn es die differenzierende Zunge eines Gourmets wäre, die zugleich auch in wohlgesetzten Worten über Austern und Weine berichten könnte! Aber nur: Da ist der Kaffee schlecht. Oder: Da ist der Kaffee, den man trinkt, nicht gut. Nun, obwohl ich lieber Tee trinke, glaube ich doch, ein paar feinere Nuancen der Kritik stünden dem Kaffee zu.

    Aber selbst bei diesem ihm lästigen Finquero überfiel Georg Kramer die Vorstellung, wie es wohl wäre, wenn er in dessen Leben schlüpfen, wenn er dessen Rolle übernehmen könnte. Selbst wenn er an diesen Mann dachte, dessen primitive Art zu reden und zu essen ihn abstieß, verspürte er das vage Verlangen, sein Leben gegen das des andern einzutauschen. Er beging den Fehler so vieler unglücklicher Menschen, die sich in ein anderes, in ein fremdes Leben hineinträumen; er dachte nicht an die Schwierigkeiten, die vielleicht zu diesem anderen Leben gehören mochten und die es dann mit zu übernehmen gälte. Er dachte nur: Ein Finquero; Kaffeefelder in Chiapas; um mich herum nur Eingeborene, zu denen ich bestimmt gut sein würde; weit weg; unauffindbar; einsam ohne das Leid der Einsamen. Merkwürdig, überlegte er, dass man sich meistens ein sehr einfaches Leben vorstellt, wenn man an einen Tausch der Identität denkt, und meistens auch an ein naturnahes Leben. Oder vielleicht ist das sehr folgerichtig? Vielleicht will man die Natur, will Pflanze und Tier, will die Verlässlichkeit, mit der der Regen kommt und die Früchte reif werden und die Tiere sich paaren, einfach deshalb, weil man mit den Menschen nicht fertiggeworden ist? Die Intrige ist etwas so spezifisch Menschliches. Eine mäßige Ernte ist keine Intrige, und irgendwann gleicht eine üppige sie wieder aus. Ein Tropenregen, der die Erde in ein Schlammbad verwandelt und ganze Bäume wegschwemmt, ist allenfalls eine Katastrophe, aber keine Intrige, und man wird damit fertig. Und – Moses hin und Moses her – selbst der Biss einer Korallennatter hat nichts Falsches und spielt sich jenseits von Gut und Böse ab. Oder will man, so überlegte er weiter, ein einfaches Leben, irgendein primitives Dasein mit geringem Radius, weil man glaubt, dort störe das eigene, zerschundene Ich am wenigsten? Oder will man den Abstieg, um sich sagen zu dürfen, man habe ja schließlich einen Preis dafür bezahlt, dass man in ein anderes Leben eingestiegen sei? Oder ist es am Ende die Eitelkeit: Ich begebe mich nun in die Niederungen, wohl wissend, dass ich in Wirklichkeit ein ganz anderer bin? Ist es die bewusste oder unbewusste Rückversicherung, später einmal mit der bedeutenderen Vergangenheit kokettieren zu können?

    Oder zum Beispiel das Lehrerehepaar aus Koblenz, das an die deutsche Schule in Puebla geht? Nein, dachte Georg Kramer, dieser Mann möchte ich lieber nicht sein. Das Leben wäre, selbst mit dieser Frau zur Seite, nicht simpel genug. Als Lehrer an einer deutschen Auslandsschule hätte ich ein Kollegium, viele Kinder und deren Eltern, müsste Botschaftsempfänge in der Hauptstadt besuchen und hätte darüber hinaus bestimmt eine breite Brücke hinter mir, die zurückführt nach Deutschland. Ich hätte mit dem Auswärtigen Amt zu tun, das die Lehrer entsendet, und mit einer Heimatschulbehörde, die sie nur für drei oder vier oder fünf Jahre beurlaubt hat. Nein, es kommt immer auf die Umgebung an. Dann schon lieber Heizer auf diesem Schiff. Kohle ist nicht das Schlechteste. Sie ist schweigsam und macht bestimmt keine Schwierigkeiten. Sie wird mich niemals hintergehen und ist morgen noch das, was sie gestern war. Aber da fiel ihm noch rechtzeitig der Kapitän ein, den jedes Schiff hat, und die Offiziere, der Koch und der Bootsmann und natürlich der Chief und – wenn man so will – seine Kollegen, die anderen Heizer, und dass ein Schiff wie eine kleine Stadt sein kann mit Nachbarn, Freunden und Feinden, und dass ein Kapitän grausam sein kann und zu keiner Stunde des Tages und der Nacht entfernter ist als eine Rufweite. Und dass eine Schiffsbesatzung einen guten Nährboden abgibt für Intrigen. Doch lieber Finquero, dachte er. Es braucht ja nicht gerade der dicke Deutsche aus Chiapas zu sein.

    Georg Kramer wurde des Spiels mit der Identität müde. Was soll es, dachte er, einen solchen Tausch wird es niemals geben. Das Hässliche, das Widerwärtige, das Verfluchte ist nur, dass ich vor einer Woche aufgehört habe, Georg Kramer zu sein, und noch nicht weiß, wer ich jetzt bin und wer ich in Zukunft sein werde; dass ich aussteigen musste aus meinem Leben, aus meinem warmen und attraktiven Leben, und noch nicht weiß, wann und wo und wie ich in ein anderes einsteigen kann. Der Name Alexander Böhringer in meinem neuen Pass besagt noch nichts. Ich hoffe nur, der Tag ist nicht fern, an dem ich wirklich Alexander Böhringer bin. Er dachte an die anderen Passagiere, und weil er Hunger hatte, grollte er im Stillen mit der geschwätzigen Runde am großen Tisch und hoffte, dass sie sich bald auflöste. Außer dem deutsch-mexikanischen Ingenieur, dem Finquero und dem deutschen Lehrerehepaar waren drei Frauen an Bord. Die älteste war Mitte Fünfzig, zog sich wie eine Zwanzigjährige an und hatte den Verstand einer Fünfzehnjährigen. Sie erheiterte die anderen, vor allem die Männer der Besatzung, durch ein reiches Sortiment von Dirndlkleidern und hatte doch geglaubt, sie würde von den unteren bis zu den hohen Dienstgraden alle erregen. Aber selbst das Lächeln des anspruchslosesten Matrosen verriet eher Mitleid als Annäherungsbedürfnis, nicht einmal Neugier. Nicht einem einzigen anzüglichen Blick begegnete sie, obwohl sie schlanke, gut geformte Beine hatte. Schon an einem der ersten Reisetage hatte Böhringer unfreiwillig das Urteil eines der Matrosen über diesen klimakterischen Teenager mitangehört. Der raue, blondbärtige Bursche hatte, nachdem das geblümte Dirndlkleid sehr dicht an ihm vorbeigerauscht war, seinen Kollegen halblaut zugerufen: »Wenn ich mal in so ’ner Westernbar säße, und die würde draußen vor der Schwingtür stehen, bei der das Unterteil fehlt, dann würde ich bestimmt ’n flotten Pfiff ausstoßen. Aber wenn sie dann drin wäre, würde ich schnell in mein Glas kriechen.« Während der ersten Mahlzeit am großen Tisch hatte Böhringer erfahren, dass diese Frau für drei Monate zu einem entfernten Verwandten nach Mexico City reisen wollte.

    Die beiden anderen weiblichen Passagiere waren Mutter und Tochter, und obwohl beide bei den Mahlzeiten nicht viel sprachen, lag auch ihr Lebensweg bereits am zweiten Reisetag wie ein offenes Buch da. Der bisherige Teil kennzeichnete ein deutsches Durchschnittsschicksal: Flüchtlingsfamilie aus Insterburg, Kriegerwitwe mit Kind, Ehemann als Feldwebel der Nachrichtentruppe ein Vierteljahr vor Kriegsende im Osten gefallen, die beiden in ein westfälisches Dorf verschlagen, wo sich die unterernährte Tochter im Laufe zweier Jahrzehnte zu einem wohlgeratenen Exemplar ihrer Gattung gemausert hatte. Der Anschluss an das Wohlstandsdeutschland hatte sich für die beiden lediglich in Form einer erhöhten Rente niedergeschlagen. Karen, so hieß die Tochter, wäre viel lieber in Deutschland geblieben, hatte dann aber doch dem Drängen der Mutter nachgegeben und sich mit Unbehagen zur Teilnahme an der großen Reise entschlossen. Das Unbehagen hatte seine Gründe. Die Mutter, Frau Lehnbach, eine rundliche Mittvierzigerin von kleiner Statur, hatte schon über zwanzig Jahre, zwanzig einsame Frauenjahre in dem westfälischen Dorf zugebracht, als sie eines Tages in einer Illustrierten unter der Rubrik ›Heiraten‹ eine Anzeige fand, die durch ihre Größe und auch durch ihren weitschweifenden Text als ungewöhnlich kostspielig angesehen werden musste und unverheirateten oder verwitweten Damen zwischen vierzig und fünfzig Jahren ein sorgloses Leben auf einer Farm bei Greenville in Südkarolina verhieß, und zwar an der Seite eines Mannes, der bislang unverheiratet gelebt hatte und sein Alter lediglich als jenseits der Fünfzig angab. Auf diese Anzeige hin hatte Frau Lehnbach, wie sie erzählte, eine sehr zögernde Zusage in das ferne Karolina geschickt, das sie, wie sie unter mädchenhaftem Erröten zugab, erst im Atlas hatte suchen müssen. Auch ihr Foto hatte die weite Reise angetreten, ein, wie sie wiederum verschämt einräumte, fünf Jahre altes Bild. Der Mann jenseits des Ozeans und jenseits der Fünfzig hatte darauf sehr schnell erwidert und ebenfalls ein Bild geschickt, das nun bei Tische herumging und im Hinblick auf die erwähnten fünfzig Jahre als weitgehend diesseits beurteilt wurde. Nun stand der Mutter wie der Tochter das erregende Ereignis der ersten Begegnung bevor. Hamilton/Bermuda war als Treffpunkt gewählt worden. Dort sollte sofort geheiratet werden. Anschließend sollten drei Ferienwochen auf den Bermudas den ermutigenden Auftakt zum Leben als Mrs. McGrace, Farmersfrau aus Greenville/South Carolina, bilden. Der Amerikaner hatte als Erkennungszeichen für die beiden Ankömmlinge zwei zitronengelbe Halstücher aus Schantungseide vorgeschlagen, die noch kurz vor der Abreise per Luftpost-Expressbrief den beiden Damen Lehnbach zugegangen waren. Für sich selbst hatte der Farmer einen breitrandigen Sombrero bestimmt, als Zunftzeichen, wie er schrieb, und wegen der Sonne. Die Tochter aber hegte eine Befürchtung und teilte sie, wenn auch in einen Scherz gekleidet, ohne Scheu und ohne Rücksicht auf die Mutter ihren Tischnachbarn mit. Vielleicht – so meinte sie – diene der Hut nur dazu, einen etwaigen spontanen Entschluss der beiden Lehnbachs zur Weiterreise nach Veracruz zu verhindern.

    Alexander Böhringer wurde aus seinen Gedanken aufgeschreckt, als der Steward an ihn herantrat und ihm meldete, dass sein Tisch frei sei. Er ging hinunter in den Messeraum, setzte sich und bestellte sein Frühstück. Trotz der Zigarette, die er auf nüchternen Magen geraucht hatte, war sein Appetit groß, und er ließ sich auftragen, was die Küche der deutschen Handelsschifffahrt in der Regel für den Morgen vorsieht: eine Mahlzeit groben, aber üppigen Zuschnitts. Sie enthielt gebratene Eier auf Speck, an Bord gebackene Brötchen, Aufschnitt, Käse. Was er üblicherweise zu Hause frühstückte, bildete hier nur den Abschluss: Konfitüre und Honig. Als einziger der Passagiere trank er morgens Tee. Es verging keine Mahlzeit, ohne dass sich bei Alexander Böhringer der Gedanke einstellte: Wie sieht meine Speisekarte aus, wenn diese Schiffsreise zu Ende ist? Und als er diesmal den zu fett ausgefallenen Speck auf den Rand des Tellers schob, überlegte er, ob es in der Zukunft wohl für einen Maiskolben oder ein paar tortillas immer reichen würde.

    Was mache ich in Mexiko, fragte er sich wohl zum hundertsten Male. Was esse ich, wo schlafe ich, wie sieht meine Arbeit aus? Und: Werde ich immer sicher sein vor denen, die mich verfolgen? Innerhalb all dieser ungelösten Fragen schien eines festzustehen: Vom Schiff aus musste seine Spur ins Nichts führen.

    Er warf einen Blick hinüber zum großen Tisch, zu dem er bei seinem Eintritt nur kurz hinübergegrüßt hatte. Sie saßen noch da und redeten und tranken Kaffee. Nur Frau Lehnbach hatte die Runde verlassen. Die Tochter unterhielt sich mit der Frau des Lehrers. Die anderen drei sprachen über ihn. Er spürte es. Sie flüsterten, was ihm besonders auffiel, da zumindest Frau Weyer und der Finquero sonst übermäßig laut waren, und manchmal huschte ein verstohlener Blick hinüber zu seinem Tisch. Sie lärmten erst wieder unbefangen, als der Steward kam und ihren Tisch abräumte. Dann gingen die fünf nach oben. Als der Steward auch seinen Tisch abgedeckt und den Raum verlassen hatte, war er allein. Doch nicht für lange. Nach etwa einer Viertelstunde trat der deutsch-mexikanische Ingenieur ein. Er kam direkt auf Böhringers Tisch zu, grüßte mit einer leichten, ein wenig abgeklemmten Verbeugung und fragte:

    »Herr Böhringer, erlauben Sie, dass ich mich für einen Augenblick zu Ihnen setze?«

    »Aber natürlich«, antwortete Böhringer und wollte aufstehen, um einen zweiten Stuhl zu holen. Aber der andere kam ihm zuvor und setzte sich ihm gegenüber.

    »Das Spazierengehen an Oberdeck ist heute ein bisschen beschwerlich«, hörte Böhringer den Ingenieur sagen und dachte im Stillen: Was kommt jetzt? Was will er? »Man muss sich immer irgendwo festhalten. Es ist Windstärke acht. Das reicht für dieses Schiff.«

    »Windstärke acht sollte die männlichen Passagiere vom Rasieren entbinden«, erwiderte Böhringer und zeigte auf den Blutfleck an seinem Hemd. »Ich rasiere mich elektrisch«, sagte der Ingenieur, »es geht nicht mehr anders.« Er fuhr sich leicht mit der Hand übers Kinn. Böhringer war das zernarbte Gesicht des Deutsch-Mexikaners schon bei der Begrüßung am ersten Abend aufgefallen. Er hatte sich an den Anblick gewöhnt. Es waren Verbrennungen, deren vernarbte Wunden die ganze rechte Gesichtshälfte bedeckten und neben der roten Färbung hier und dort einen leicht bläulichen Schimmer aufwiesen. Nun sah Böhringer, dass die Hände des Mannes in gleicher Weise stark vernarbt waren, an der rechten fehlten zwei Finger. Er wusste, dass der Mann Hochfrequenztechniker war, und führte die Verletzungen auf einen Betriebsunfall zurück. Aber er fragte nicht.

    »Herr Böhringer«, begann nun der Ingenieur, »ich habe in der Passagierliste gelesen, dass Sie aus Kiel kommen. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so direkt darauf anspreche, aber ich versichere Ihnen, ich möchte wirklich nicht wissen, ob Sie eventuell auf eine Zeitungsannonce hin auf den Bermudas eine Amerikanerin heiraten wollen, im Gegenteil, ich empfinde es als wohltuend, dass es hier an Bord ein Schicksal gibt, das mir nach acht Tagen noch unbekannt ist.« Er lächelte und lehnte die Zigarette, die Böhringer ihm hinhielt, ab. »Dabei würde mich Ihr Leben – verglichen mit dem der anderen – besonders interessieren.«

    Er legte eine kleine Pause ein, um seinem Gegenüber Gelegenheit zu geben, ihn zum Weiterreden zu ermuntern. Böhringer benutzte sie, um sich zu sammeln und sich auf das zu konzentrieren, was er nun sagen musste. Er hatte es viele Male in Gedanken durchexerziert, manchmal sogar laut und vor dem Spiegel. Aufgepasst, sagte er sich nun. Um Himmels willen keinen Fehler machen! Es muss nicht gefährlich sein. Es muss nicht, aber es kann. Das offenkundige Interesse an meinem Leben ist verdächtig, andererseits sieht die Direktmethode nicht nach den Usancen eines Kriminalisten aus. Nun, wie es auch kommt: Ich bin nicht Georg Kramer und stamme nicht aus Lübeck, ich bin nicht verheiratet, habe keine Kinder und bin nie Soldat gewesen. Ich stamme aus Kiel, wohnte in der Holtenauer Straße und war leitender Angestellter einer Fischkonservenfabrik. Ein zweistöckiges weißes Haus in Lübeck, am Ostufer der Wakenitz gelegen, kenne ich nicht, habe ich nie gesehen.

    »Bitte«, sagte er, »bedienen Sie sich, aber ich glaube, mein Leben ist halb so ergiebig wie beispielsweise das eines Mannes, dessen Kaffeefelder unübersehbar weit in Chiapas blühen, dem ein Heer von Indianern und Indianerinnen so gut wie leibeigen ist und der an beiden Küsten Mexikos ein Ferienhaus besitzt, in Ciudad del Carmen und in Salina Cruz, und der zu alledem ein Deutscher ist.«

    »Herr Böhringer, Sie halten wohl nicht viel von den Deutschen?«

    »Aber, Herr Kröger! Ich bin doch selbst einer.«

    »Sie wissen, dass das nichts besagt. Aber das wollte ich Sie auch gar nicht fragen. Ich wollte gern etwas über die Stadt Kiel hören. Ich bin Mexikaner deutscher Abstammung, habe im Distrito Federal, Verzeihung, das ist Mexico City, zwölf Jahre als Elektroingenieur gearbeitet und werde zum ersten Januar kommenden Jahres einen dreijährigen Vertrag mit einer Hamburger Firma abschließen, deren Niederlassung in Kiel meine Arbeitsstätte sein wird. Ich habe mir Kiel angesehen. Ich habe mit den Menschen dort gesprochen, nach einer Wohnmöglichkeit Ausschau gehalten, mich im Ganzen vierzehn Tage dort herumgetrieben. Sie sind Kieler. Verzeihen Sie bitte, dass ich das weiß. Es hat mir gefallen, Ihr Kiel, obwohl es viel dort regnete und oft Nebel über der Förde lag, so dicht, dass man nicht zur anderen Seite hinübersehen konnte. Wie lebt es sich – auf Dauer gesehen – in Ihrer Stadt?«

    Das kann natürlich alles wahr sein, dachte Alexander Böhringer. Das klingt alles sehr normal. Das klingt so normal wie all diese Geschichten, die fremde Leute im Plauderton erzählen über ihre Herkunft, ihr Leben, ihre Pläne. Man hört sich das an und vergisst es wieder. Aber es klingt auch so verdammt normal wie das Gespräch, das ein Feind mit einem Feind beginnt, um ihn auszuhorchen, um ihn zum Reden zu bringen, damit er redet bis hin zu dem Punkt, wo er unsicher wird, wo er etwas nicht weiß, was er eigentlich wissen müsste, und wo er sich verrät. So ist seine Geschichte, überlegte Alexander Böhringer, aber seine Augen sind nicht so. Wenn seine Augen nicht wären, würde ich jetzt viel mehr an eine Gefahr denken.

    Der Ingenieur war ein kleiner Mann mit schmalen Schultern und knabenhaft zarten Gliedern, was in Verbindung mit dem zernarbten Gesicht und der verstümmelten Hand besonders auffiel. Zerschundene Köpfe und demolierte Gliedmaßen findet man eher bei rauen und robusten Typen. Bei Boxern zum Beispiel. Kröger aber wirkte vornehm und gefährdete diesen grundlegenden Eindruck, den man sofort von ihm gewann, in keinem Augenblick, ob er nun dasaß und sprach, sich an Deck erging oder im Messeraum sein Glas hielt. Selbst beim Tischtennis, zu dem er sich trotz aller Sparsamkeit im Kontakt mit seiner Umwelt gern überreden ließ, hatte Böhringer das beherrschte Maß seiner Bewegungen bemerkt und bewundert. Nicht, dass Krögers Spiel lässig wirkte oder müde, das Gegenteil war der Fall. Er spielte mit der seinem ganzen Auftreten eigenen Disziplin, die es ihm ermöglichte, jeden überflüssigen Bewegungsaufwand zu vermeiden, und die man nur bei genauem Hinsehen erkannte. Er spielte mit dem Gehirn, und er gewann immer.

    Diese Disziplin nun hätte in Böhringer die Ahnung einer Gefahr verstärkt, wenn nicht die blauen Augen des Mannes gewesen wären. Es war nicht das leicht verwaschene Blau, das man häufig bei nordischen Menschen findet, das keinen Glanz hat, sondern nur die Helligkeit und hinter der Helligkeit nur Leere. Es war ein dunkles Blau, das so viel seltener ist als das helle. Ein Blau, das bei einer gewissen Lichteinwirkung ins Violette hinüberspielte, ein Blau, an dem man sich freute und das darüber hinaus eine grenzenlose Verlässlichkeit widerspiegelte. Ja, es lag eine solche Ehrlichkeit in den Augen Werner Krögers, dass Böhringer, wenn er auch nicht vergaß, auf der Hut zu sein, nun doch mit Lust ins Gespräch einstieg und beschloss, den Mann über Mexiko auszufragen, natürlich unverdächtig in Maß und Richtung.

    »Kiel gewinnt von Jahr zu Jahr mehr an Gesicht«, begann Böhringer. »Die Zerstörung der Stadt durch den zweiten Weltkrieg ergab die Möglichkeit eines neuen Anfangs, und die Männer, die die Stadt wieder aufbauten, hatten eine glückliche Hand. Wo ist die Niederlassung Ihrer Firma?«

    »In der Wik.«

    »Die allerdings ist nicht so erfreulich.«

    »Ich weiß, es

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1