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Céline
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eBook340 Seiten5 Stunden

Céline

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Über dieses E-Book

Philippe Muray, in Deutschland noch völlig unbekannt, in Frankreich in den letzten Jahren zu einem Kultautor von Jahrhundertformat avanciert, hat in diesem brillanten literarischen Langessay einen so umstrittenen wie gewichtigen Beitrag zu Leben und Werk des infernalischen Louis-Ferdinand Céline geschrieben. Es ist für deutsche Leser die erste umfassende Auseinandersetzung mit dem Phänomen Céline, der wie kein anderer Widerstände provoziert und Fragen nach dem Bösen in der Literatur, den Grenzen der Kunst und ihrer Moralität aufwirft. Diesen unlösbaren Fragen geht Muray in seinem eleganten, klugen und pointierten Essay auf den Grund und erweist sich selbst als einzigartiger Autor.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Sept. 2012
ISBN9783882210194
Céline

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    Buchvorschau

    Céline - Philippe Muray

    Inhalt

    [Cover]

    Titel

    Impressum

    I

    Der Mann, der spricht

    II

    Die Raserei des Verfolgens

    III

    Die Ameise und die Eisenspäne

    IV

    Die Offenbarungsreligion

    V

    Göttlich, allzu göttlich

    VI

    Reine-Nerven-Metro-auf-verzauberten-Gleisen-mit-drei-Punkte-Schwellen

    VII

    Wie lässt sich die Moderne überleben?

    Anhang

    Anmerkungen

    Anmerkung zum Fußnotenteil

    Literatur

    Louis-Ferdinand Céline in seinen deutschen Übersetzungen

    »Wir leben in Übersetzung« Ein Nachwort

    Anmerkungen zum Nachwort

    Dank

    Philippe Muray

    Céline

    Aus dem Französischen

    und mit einem Nachwort von Nicola Denis

    Die vorliegende Übersetzung wurde mit einem Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds e.V. gefördert.

    Mit freundlicher Unterstützung

    des Centre national du livre.

    Erste Auflage Berlin 2012

    Copyright © 2012 Matthes & Seitz Berlin

    MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

    Göhrener Straße 7, 10437 Berlin.

    info@matthes-seitz-berlin.de

    Copyright © der französischen Ausgabe

    Céline, Gallimard, Paris 2001

    Die erste Auflage von Céline erschien 1981 bei Éditions du Seuil, Paris

    Alle Rechte vorbehalten

    E-Book-Konvertierung: Fotosatz Amann, Aichstetten

    ISBN 978-3-88221-019-4

    www.matthes-seitz-berlin.de

    I

    Der Mann, der spricht

    Die Träume der literarischen Moderne sind voller Gefangener: Sade in der Bastille und in Charenton, Ezra Pound erst im Pisaner Käfig, dann im St-Elizabeth’s-Krankenhaus in Washington, Antonin Artaud in Rodez, Jean Genet in Fresnes, Solschenizyn im Gulag, Robert Desnos in Buchenwald und in Auschwitz, Dostojewski in Sibirien; Kafka, in Prag festgehalten von seinem »Mütterchen mit Krallen«, ¹ Proust hinter korkverkleideten Wänden, die Kolonne der in Lateinamerika oder Osteuropa Verfolgten und schließlich Céline, zuerst im dänischen Eis, dann zurückgezogen in Meudon.

    Nur ganz wenige sind diesem Gefangensein entkommen, das unsere Epoche Sprache und Delinquenz gleichsetzen, das Schreiben einsperren und das Wort mit dem dreifachen Fluch von Zuchthaus, Psychiatrie und tödlicher Einsamkeit strafen lässt.

    Im Laufe des 20. Jahrhunderts offenbarte sich so die neue Welt, in der wir leben müssen und zu deren einziger Historikerin sich die Literatur aufgeschwungen hat, eine Welt aus Gittern und Fron unter dem wachsamen Auge von Satelliten, Radarschirmen und Raketen, eine Welt aus Züchtigungen und Knochenbergen, in der die Politik sich künftig nur noch nach dem Rhythmus der Flüchtlingsströme, sich kreuzender Schiffe und Züge mit Deportierten sowie immer spektakulärerer Schlachthäuser richtet – ein über die Menschen hinwegtönendes Echo des tödlichen Genusses ihrer Herren.

    Jene in ihren Niederungen Eingemauerten, jene Überwachten, Verabscheuten, Verstoßenen, waren die Historiker einer Geschichte, die keine mehr ist, und wahrscheinlich haben aus eben diesem Grund ihre Werke nicht viel mit den friedlichen Überlegungen der historischen oder archäologischen Zunft gemein. Zum Thema des von Verstrahlung bedrohten Nuklearzeitalters, das den zu Atomwaffenlagern mutierten Nationen ausgeliefert ist, war wohl am Ende einzig von ihnen ein letzter Aufschrei zu vernehmen. Sie taten es in der Sprache der leicht spaltbaren Masse, die für diejenigen inakzeptabel klingt, die sich an die Wunschvorstellung einer auf immer und ewig von Theologie, Moral, Metaphysik, Philosophie, Politik und Psychoanalyse überdeterminierten Literatur klammern und die angesichts dieser aufflackernden Sprache, dieses tragischen Aufbäumens des entfesselten Tiers im Menschen, unversehens mit ihrem Latein am Ende sind.

    In diese Reihe der Gefangenen und Verbannten fügt Céline sich jedoch nicht ohne Weiteres ein: Obgleich sein Genie einerseits von der Gemeinschaft (communauté) fast einhellig und beunruhigend vorschnell anerkannt wird, darf man andererseits die eigentlichen Beweggründe für seine Abstrafung, die Gründe für seine nachdrückliche Verfemung gar nicht erst hinterfragen. Sade, Dostojewski, Artaud, Solschenizyn waren durchaus auf ihre Art »Selbstmörder von der Hand der Gesellschaft«, auf deren tragisches Schicksal wir uns berufen können, um uns mit einer rückblickenden sozialen Jungfräulichkeit zu schmücken. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir, selbst weder ins Zuchthaus noch als irre weggesperrt, zuweilen unsere schöne Seele zur Schau tragen können. Angesichts ihres Martyriums empfinden wir eine tiefe kollektive Erleichterung: Wir werden weder als Wärter noch als Henker gelten. Anders gesagt sind wir ganz dicht an dem Verbrechen, das gegen sie begangen wird und das wir gleichzeitig abstreiten. Nur Céline bleibt auf überwältigende Weise schuldig. Seine Schuld appelliert offenbar nicht an die Tiefen unseres Unterbewusstseins, um dort den automatischen Sympathiereflex auszulösen, mit dem wir sonst so gnädig über Verstorbene denken. Was also steckt hinter unserer Billigung des Gesetzes, das ihn verurteilt? Was bedeutet die ungebrochene Begeisterung für seinen »revolutionären« Stil sowie für das Verbot, mit dem das finstere Hauptkapitel seines Lebens belegt ist? Wie kommt es, dass wir in seinem Antisemitismus nur ein kurzes Intermezzo sehen möchten, das uns freistellt, seine »vorher« und »nachher« entstandenen Werke ebenso unbefleckt wie unschuldig zu lesen? Welche Leidenschaft erweckt in uns den Wunsch, es möge zwei Célines geben, einen tadellosen, sauberen Céline, eine für die euphorischen Paraden der Avantgarde eigens wieder aufpolierte Marionette, und einen düsteren, kontaminierten Céline, der endgültig in die Kloaken der Geschichte versenkt wird? Spricht ein gemeinsames Anliegen, der gesunde Menschenverstand, ein unbezwingbares kollektives Interesse dafür, Céline zu spalten? Welchem Konformismus wollen wir denn diese Hälfte servieren, den halbierten, in Einzelportionen tranchierten Céline? Und schließlich darf man sich fragen, welcher Nacht- und Schattenseite in uns selbst wir den (gerecht unter den Erben verteilten) unwirtlichen Teil seines Werks zum heimlichen Fraß vorsetzen wollen.

    Schon mit seinen ersten Büchern gewann er unzählige Menschen für sich, die bereit waren, ihm zu helfen und den rechten Weg zu weisen. Dem von der Familie gefeierten Wunderkind streckten sich sämtliche Arme entgegen, um es zu seinen ersten Schritten zu ermutigen. Da sich indes ziemlich schnell alles zum Schlechten wendete, waren die Sanktionen entsprechend hart. Das verantwortungslose »enfant terrible« wurde in den Karzer gesperrt, sein Werk wurde lobotomisiert, man durchtrennte also die Fasern, die seine verschiedenen Bücher zusammenhielten, um einen Teil davon in die äußere Finsternis zu werfen. Verrät diese Doppeloperation, die darin besteht, seine zeitlichen Sünden zu beklagen und seinen enormen poetischen Beitrag zu würdigen, im Grunde nicht den doppelten Wunsch, weder von seiner künstlerischen Revolution noch von seinem Antisemitismus etwas wissen und so ihre Verbindungen ignorieren zu wollen, kurzum, seine eigenen Mystifizierungen zu wiederholen, ihm damit deutlich unterlegen zu bleiben und einen Sicherheitsabstand zu seinem blitzartigen Ausbruch zu gewinnen?

    Ihn als Ganzes zu erfassen, als eine sowohl dem Ganzen als auch der Einheit und der Teilung entkommende Vielheit, würde uns vielleicht helfen, endlich die obligatorischen Banalitäten hinsichtlich seiner Widersprüche ad acta zu legen. Doch er bleibt ein Gefangener, ein toter Überlebender im Souterrain der Geschichte, eine außergeschichtliche Leiche in unserer gegenwärtigen Un-Geschichte. Von seinem Platz aus, zurückgezogen, in seinem abgelegenen Verlies, seinem Schlossverschluss, aus der Tiefe seiner auf Bewährung ausgesetzten Identität und seines ödemisierten Körpers hat er alles Wissenswerte über die Gefängnisse seines Lebens gesagt: »’ne Festung, die Zeit aufzuheben! … allmählicher Selbstmord! …« ² Er hat seinen Zeitgenossen gegenüber verkündet, für das Recht, das Jahrhundert aus seinem Mund sprechen zu lassen, habe er vorab bezahlt: »Es bedarf eines gewissen Ernstes, um einen Untersuchungsrichter, einen französischen oder deutschen, dazu zu veranlassen … darum, Sie verstehen, nicht wahr, all diese Leute von rechts, links oder Mitte, solange sie noch nicht eingesperrt sind, und selbst dann!!! … müssen als halb übergeschnappt, halb besoldet gelten … über das Publikum werde ich später sprechen.« ³ Célines Werk ist weder übergeschnappt noch besoldet, es ist das eines Todes- und Totenarztes, genau das also, was seine Zeit verdiente. Aber wer will das schon wissen? Noch immer bleibt die Frage offen, wie er zwei sein konnte. Dabei hat er mit seiner Erfahrung vielleicht nur die Sprache in seinem aufgelösten Körper vervielfältigt, um letztlich sehr genau die vom Tod eingeforderte Summe der narrativen Sequenzen aufzustellen, diese Summe aus Literatur, über die er zu Beginn von Tod auf Kredit schreibt, dass sie das von Text durchwirkte, mit Text übersäte Leichentuch bildet, mit dem er auf die andere Seite gelangte, in den Tartarus oder Styx, in Plutons Reich, in den Scheol, in sämtliche Jenseitsregionen der Welt: »Das Krepieren ist nicht umsonst. Man muss dem Herrn ein schönes, mit Geschichten besticktes Schweißtuch überreichen.« ⁴ Man wird sehen, wie seine Bücher eines nach dem anderen diese unendliche Reise an die Grenzen des Jahrhunderts mit all ihren Unterbrechungen und Umwegen bewältigen. Seine ungewisse und erbitterte Arbeit sollte darin bestehen, seiner Zeit über die Grenzen der Zeit hinwegzuhelfen, den Realitäten seiner Zeit im Boot ihrer eigenen Äußerungen das Ruder ihrer Grenzen in die Hand zu drücken. Indem er die überlebte Stimme seiner Zeit zu Gehör bringt, überlebt er sich selbst.

    Doch bedeutet diese Durchdringung von Tod und Auferstehung, zu der einige wenige Schriftsteller in den Tiefen ihrer Zelle und zu ihren ungewissen »Lebzeiten« fähig sind, dass sie zwangsläufig den Rest ihres Lebens, jene aneinandergereihten albtraumhaften Bruchstücke des Alltags hellsichtig wahrnehmen? Natürlich hat auch Céline in Bezug auf sein eigenes Verhängnis nicht alles durchschaut, was seine Schuld freilich nicht mindert. Wie alle Welt muss auch er irgendwann zu dem Schluss gekommen sein, dass in ihm zwei »Menschen« koexistierten: Einer ließ sich zum versteckten Mord hinreißen, während der andere die Grenzenlosigkeit des Schreibens entfesselte. Kurz gesagt, ein archaischer Übeltäter und ein progressiver Befreier. Er war also dazu gezwungen, sich selbst zu beschränken, um seinen eigenen kriminellen Wahn zu überleben. Mithin hat er der Gemeinschaft das Ignorieren seiner Erfahrung erleichtert und ist zusammen mit ihr auf dem durch die rassistischen Bauchgefühle aufgeblähten Kopfkissen der Gesellschaft wieder eingenickt. Die gemeinschaftliche Lüge ist noch so intakt, dass Céline allgemein verrufen und teilweise verboten bleibt, obwohl er gleich zwei Mal in das kollektive Horn gestoßen hatte: vor dem Krieg, als er zur Verfolgung aufrief, und nach dem Krieg, als er sich wiederholt zu seinem »Faux-pas« bekannte. Verständlicherweise brachte ihn das selbst einigermaßen durcheinander.

    Letztlich waren seine Zeitgenossen zu zeitgenössisch, um sein schreckliches Geheimnis zu ergründen. Daher dieser beispiellose Verneinungsmechanismus, der ihn bis ans Ende seines Lebens begleiten sollte und noch heute munter fortwirkt. Wirft man einen Blick auf die Kommentare und Kritiken vom Erscheinen der Reise ans Ende der Nacht (1932) bis zu seinem Tod (1961), dann stößt man auf eine ganze Palette von eigennützigen Missverständnissen, eifersüchtigen Kleinlichkeiten, katastrophalen Elogen, plumpen Schnitzern, beschränkten Erklärungen und verworrenen Vereinnahmungen. Daran lässt sich ablesen, wie geschwätzig, unbedarft und ignorant der Boden war, auf dem sich sein Werk entwickelte. Ich will mich hier auf drei exemplarische Einwände beschränken.

    Zunächst stellt sich die berühmte Frage der Sprache, der »Céline’schen« Sprache, jenem ausführlichen musikalischen Aufstoßen, mit dem er angeblich so wirkungsvoll das kollektive Rumoren zum Sprechen brachte, diesem Stil, der sich unmittelbar aus den Emotionen von Bistro, Bett, Tisch, Revolte, Vergnügen, kurz, aus dem volkstümlichen Gegurgel speist. Alle haben sich begeistert damit beschäftigt, weshalb man sich fragen darf, was sie so dringend überspielen oder ausblenden wollten, indem sie Hals über Kopf in die riesige Grube sprangen, die Céline da für sie gegraben hatte (»Ich habe so geschrieben, wie ich spreche«, sagt er in seinem allerersten Interview). In seine Nachfolge stürzten sich wild durcheinander Nizan, Léon Daudet, Deleuze, Trotzki, Kerouac, Pound, Drieu La Rochelle und andere. »Eine gesprochene, muskulöse, kecke und nackte Syntax wie ein Mädchen des großen Courbet.« ⁵ (Léon Daudet) »Die Literatursprache Célines transponiert die gesprochene Sprache des Volkes.« ⁶ (Paul Nizan) »Céline schreibt so, als würde er sich als Erster mit der Sprache anlegen. Der Künstler mischt von Grund auf den Wortschatz der französischen Literatur durch.« ⁷ (Trotzki) »Das zur Vollendung gebrachte Exklamative.« ⁸ (Deleuze-Guattari) »Quai des brumes (Hafen im Nebel) in der über-göttlichen Version.« ⁹ (Kerouac) »Jetzt ist Leben auf der Seite.« ¹⁰ (Ezra Pound) »Er hat die französische Literatur zu einem ihrer sichersten Fundamente geführt, dem mittelalterlichen, tiefsten, hellseherischen Fundament.« ¹¹ (Drieu La Rochelle) Gehen wir darüber hinweg, wie komisch manche dieser eingeschränkten Lobesworte anmuten: Der eine sagt, die Reise sei um zweihundert Seiten zu lang (Nizan), ¹² andere urteilen, Céline habe nach Guignol’s Band nichts mehr vorzubringen gewusst »außer seinem Unglück, also hatte er keine Lust mehr zu schreiben, er brauchte lediglich Geld« ¹³ (Deleuze-Guattari). Das sollte auch Malraux, allerdings noch negativer, in einem Interview mit Frédéric J. Grover 1973 wiederholen: Nach der Reise habe Céline nichts Wichtiges mehr zu sagen gehabt, Tod auf Kredit sei unleserlich, Märchen für irgendwann II »ein Buch für Psychiater«, sein Werk sei nichts als bloße Schmähung, seine Politik gleiche dem »Anarchismus der Musikbars« und seine Weltanschauung der eines »Taxifahrers«; letztlich läuft also alles auf den Abbé Prévost heraus: Ein einziger kleiner Roman überlebt siebzehn ebenso dicke wie angeblich überflüssige Bände.

    Noch einmal in wenigen Worten: Für alle hat Céline, dies scheint unangefochten, die Emotion der gesprochenen Sprache in die geschriebene Sprache eingeführt. Fazit: Er hat einen natürlichen Stil. Übersetzung: Indem er den antiken Fluch überwindet, die Trennung der Geschlechter, die Verbote, die Unangemessenheit zwischen Sache und Wort, offenbart er uns mit seinem von triebhafter Glückseligkeit stammelnden Körper lebendiger als je den Traum der verängstigten Menschheit, ihren Durst nach verbaler Versöhnung der Geschlechter, nach dem Androgynen, nach der allgemeinen Rückkehr zu einer prägenitalen Sexualität. Alle scheinen ein Interesse daran zu haben, dass Céline nur gesprochen hat – dass er auf der Couch seiner Mama lebendig war.

    Fast ist man versucht, der hellsichtigen Abneigung eines Léautaud zuzustimmen, der wiederholt betonte, es handle sich im Gegenteil um einen »absichtlich konstruierten« ¹⁴ Stil, oder dem Scharfsinn Bernanos’, der ebenso, allerdings positiv gewendet, den komplexen Entstehungsprozess der Céline’schen Prosa hervorhebt, »diese unerhörte Sprache, gewachsen aus der Natur und aus dem Künstlichen, Erfindung, Schöpfung bis ins Letzte wie die Sprache der Tragödie, so weit wie nur möglich von einer unterwürfigen Reproduktion der Sprache der Armen entfernt, aber gerade dafür geschaffen, das auszudrücken, was die Sprache der Armen niemals auszudrücken vermag, ihre kindliche und düstere Seele, die düstere Kindheit der Armen.« ¹⁵

    Es versteht sich, dass Céline 1936 höchstpersönlich die Lösung des Problems in die Hand nimmt: »Eine Sprache ist wie alles andere auch, sie stirbt permanent. Sie muss sterben. Damit muss man sich abfinden. Die Sprache der üblichen Romane ist tot, Syntax tot, alles tot. Auch meine [Romane] werden fraglos in nicht allzu ferner Zeit sterben. Aber sie werden sich eine gewisse Überlegenheit gegenüber so vielen anderen bewahren, denn sie werden ein Jahr, einen Monat, einen Tag lang gelebt haben¹⁶

    Es gibt keine ewige oder natürliche Sprache, und Céline hat auch keine lebendige Sprache geschrieben, sondern eine Sprache, die gelebt hat: Man sollte den immensen Abstand ermessen, zu dem er damals bereits fähig ist. Als hätte er sich immer schon von dem ganzen Betrieb distanziert. Als hätte er, immer schon, gelebt gehabt. Damit gewinnt die Frage wenigstens eine andere Dimension als mit dem üblichen Gerede über seinen Argot-Wortschatz. Die Gemeinschaft wollte glauben, dass Céline sprach, wollte, dass er die mythische Ursprache verkörpert, den in der mütterlichen Schallwolke planschenden Fetus; nicht denjenigen, der beim Schreiben unaufhörlich das überlebte Wort enthüllt, das die Sprechhemmung der Sterblichen zur Sprache bringt.

    Dieser ästhetischen Inbesitznahme folgt automatisch die moralische und politische. Neben den Vereinnahmungen durch die Rechten, denen er sich, wie hinlänglich bekannt, in ebenso entgegenkommender wie komplexer Weise ausgeliefert hat, wurde er in der ideologischen Landschaft des 20. Jahrhunderts auf zwei weitere Arten instrumentalisiert. Zunächst mit der christlichen Vereinnahmung, für die Robert Poulet und Bernanos stehen. Ersterem hat Céline am Anfang seines letzten Buchs, Rigodon, ein grausames Denkmal gesetzt: »Schließlich ging er mir mit seinem Um-den-Brei-Herumgehen auf die Nerven! … sind Sie sicher, dass Ihre Überzeugungen Sie nicht zu Gott zurückführen!« ¹⁷ Auch Bernanos ist der Versuchung des Bekehrens erlegen. Davon zeugt ein Abend bei Daniel Halévy, an dem Céline beweisen wollte, dass »der Wahn seiner Figuren die Sehnsucht des Autors nach Übersinnlichem verrät.« ¹⁸ Ähnlich einer der letzten Sätze des glänzenden Artikels, den Bernanos 1932 zur Reise verfasste: »Das Ende der Nacht, das ist das milde Erbarmen Gottes …« ¹⁹

    Auf der »anderen Seite«, der linken, gab es, mit Aragon als Wortführer, ein regelrechtes Wetteifern, um ihm die Mitgliedskarte für die Revolution aufzudrängen: »Im Grunde entscheiden Sie sich nicht, ob Sie sich auf die Seite der Ausbeuter oder der Ausgebeuteten schlagen wollen (…) es ist an der Zeit, Céline, dass Sie Partei ergreifen.« ²⁰ Halten wir uns nicht an der gehörigen Prise Scharfsinn auf, die aus dieser Erklärung spricht, und sehen uns lieber das fromme Bedauern anderer an. Trotzki etwa: »Eine aktive Revolte ist mit Hoffnung verknüpft. In Célines Buch gibt es keine Hoffnung.« ²¹ Derselbe Tenor bei Nizan, der bekanntlich befand, dass die Reise um zweihundert Seiten zu lang sei, während die Revolution unter den Tisch falle: »Es fehlt ihm die Revolution, die wahrhaftige Erklärung des angeprangerten Elends, der bloßgelegten Krebsgeschwüre, und eben jene Hoffnung, die uns vorantreibt.« ²² Wären die zweihundert überflüssigen Seiten eher berechtigt, wenn Brecht sie umformuliert hätte? Simone de Beauvoir erwähnt die Begeisterung, mit der Sartre und sie die Reise entdeckt hätten: »Sein Anarchismus schien dem unsrigen verwandt.« ²³ Wer jagt nicht heute noch alles der Wunschvorstellung eines idealen libertären und fahnenflüchtigen Céline nach, eines »widerspenstigen Bardamu« ²⁴ (Glucksmann)? Eigentlich trifft meines Erachtens nur Georges Bataille hinsichtlich der aufkommenden Céline’schen Erfahrung unmittelbar ins Schwarze: »Der bereits berühmte Roman von Céline lässt sich als Beschreibung des Verhältnisses lesen, das der Mensch zu seinem eigenen Tod unterhält (…), er unterscheidet sich nicht grundlegend von der klösterlichen Meditation vor einem Schädel.« ²⁵ Und Bataille fügt jene Worte hinzu, die leider die Rechtfertigung vorwegnehmen, die später von Céline für sein eigenes ideologisches Engagement übernommen werden sollte: »Die Größe von Reise ans Ende der Nacht besteht darin, dass nie an das Gefühl des unsinnigen Mitleids appelliert wird, das die christliche Unterwürfigkeit mit dem Bewusstsein von Elend assoziiert hatte.« ²⁶ Besser lässt sich vorausschauend nicht beschreiben, was Céline während des epochalen Umbruchs der Vorkriegsjahre fehlte, um nicht in die Falle des Antisemitismus zu tappen.

    Er hat den von der Linken entgegengereichten »Mitgliedsausweis« also nicht angenommen. Ebenso wenig hat er sich auf den Betstuhl gekniet, den ihm die Christen unterschieben wollten. War er also der ideale, der »lebensfähige Atheist«, von dem Lacan einst sprach, »das heißt jemand, der sich nicht ständig widerspricht«? ²⁷ Natürlich nicht. Er sollte bis zum Schluss ein Atheist der durchschnittlichsten Sorte sein, ein Kranker »des Gottesglaubens«, ²⁸ ein Kranker mit dem unheilbaren Glauben daran, dass Gott nicht in seine Krankheit eingreift. Und natürlich hat er sich selbst permanent in Widersprüchen verfangen und es damit seinen Getreuen, die sein Schwanken zu entschuldigen versuchten, nicht leicht gemacht. Dieser dritte Einwand äußert sich in erbaulichen Erklärungen seines Antisemitismus. Gide nimmt mit seinem unsäglichen Urteil dabei einen der vorderen Ränge ein: »Er spricht in Bagatelles von den Juden genauso wie in Tod auf Kredit von den Maden, die es ihm gerade heraufzubeschwören gelungen war.« ²⁹ Dominique de Roux sieht seinerseits gar nicht, wo eigentlich das Problem liegt: »Für Céline hat das Wort Jude nicht den üblichen Sinn. Es meint keine besondere ethische oder religiöse Gruppe: Der Beweis dafür ist, dass er unter dieser Vokabel alle Menschen, sich selbst eingeschlossen, hätte zusammenfassen können. In seinen Augen haftet diesem Wort etwas Magisches an. All seine Angst überträgt er darauf.« ³⁰ Schon eher horcht man bei der faschistischen Freimütigkeit eines Rebatet auf, der die göttliche Überraschung erwähnt, die für die Rechtsextremen das Erscheinen von Bagatelles (dt. Die Judenverschwörung in Frankreich) bedeutete, ein umso wunderbareres Buch, als Céline seiner Ansicht nach »derjenige Atheist war, der am wenigsten der Reaktion verdächtigt werden konnte«. ³¹ Daraus ziehen wir den Schluss, dass es »normalerweise« keinen Antisemitismus ohne Religion gibt. Céline aber war Atheist und Antisemit. Insofern stellt sich die Frage, in welchem Namen wir, die wir uns als Atheisten verstehen, die undurchsichtige, aber unwiderrufliche Logik des Céline’schen Atheismus verurteilen, der mit seinem Antisemitismus den Platz der Religion beansprucht.

    Gleichen die Schwierigkeiten, die wir bei der Einschätzung seiner Ungeheuerlichkeit empfinden, schließlich nicht jenem Unvermögen, das wir beim Begreifen dieses, seines Jahrhunderts, unter Beweis stellen, dieses Zeitalters des absoluten Mordens, der er eine Literatur hinzuzufügen wagte? Denn letztlich hatte er alles schonungslos vorausgesehen, hatte sich das ganze Negative der Epoche zu eigen gemacht und es mit seinen überempfindsamen Sinnen erfasst. Hinter dem Optimismus, der Fortschritt und Revolution registriert, das betonte er immer wieder, gebe es nur Niederlagen und Ruinen. Denen, die ihre Hoffnung auf den radikalen Gegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus setzen, hat er tausendfach geantwortet, dass im Gegenteil beide harmonisch ineinandergriffen und nur gemeinsam und solidarisch reibungslos funktionieren könnten. Er hat die kühne Behauptung gewagt, das Proletariat sei nichts als eine Wunschvorstellung des Bürgers und der Klassenkampf ein Scheinbild, hinter dem sich die Wahrheit eines anderen uralten Krieges verstecke. Die Dialektik hat er frech als »Geschwätz« ³² abgetan. Unsere dem technikorientierten Denken unterworfene, verwüstete Realität hat er unvorsichtig einen »Dekor aus elektrischen Stühlen« ³³ genannt, statt wie alle Welt ihren herrlichen Komfort zu genießen. Kurz, er hat Anstoß erregt, erregt immer noch Anstoß und wird es vermutlich bis in alle Ewigkeit tun: bei den Vertretern des Akademismus, die ihm stets Drieu oder Aragon vorziehen werden, wie bei denen des Progressivismus, die unaufhörlich gezwungen sind, sich aus dessen Trümmern einen analen, perversen, vielgestaltigen Avantgarde-Céline zurechtzubasteln, der die bedeutende epistemologische Zäsur mit schweren, triebhaften Stößen rhythmisch vertieft.

    Es fragt sich nur noch, wie er, der so einhellig Anstoß erregt, auf weitaus heimlichere Art und Weise doch auch Anklang findet mit seinem kriminellen Delirium, das die Gemeinschaft offenbar im eigenen Interesse verbirgt und unter Verschluss hält, um es wie einen verschwiegenen Garten weiterhin kultivieren zu können.

    Nur wenige konnten es mit einem Werk aufnehmen, das es vielleicht als Einziges mit diesem Jahrhundert aufzunehmen vermochte. Céline hat mit literarischen Mitteln beispielhaft vorgeführt, wozu die Entfesselung der befreiten Negativität führte, deren albtraumartige politische Konsequenzen wir zur Genüge kennen. So wie dieses 20. Jahrhundert nach der Tabula rasa für die Kunst verlangte und er diesem Wunsch nachkam, so wollte es auch den gemeinschaftlichen Mord, und er lieferte dazu die passende Form der schriftlichen Ergötzung. Beide Vorgänge sind ein und dasselbe. Folglich verläuft auch die Trennlinie nicht an dieser Stelle, wie ich versuchen werde nachzuweisen. Es gibt keine zwei Célines, da es nur einen gibt, und wenn dem so ist, ist er zwangsläufig vielschichtig. Von wem ist die Rede? Vom Verfasser der Reise oder von dem der anderen Bücher, die die Leute nicht gelesen haben und die sie gar nicht lesen können, weil sie angeblich unlesbar sind? Von Céline, dem schelmischen Komiker, oder von Céline, dem Propheten des Unheils? Geht es um den kleinbürgerlichen Céline oder den Wikinger, der von den Des Touches de Lentillière abstammt? Um den fäkalen oder den »feinen« Céline? Den gräko-keltischen Céline oder den messianischen Propheten? Um Spitzen oder Nudeln? Um Märchen oder Massaker? Sämtliche Differenzierungen erübrigen sich, sobald es sich um einen Schriftsteller handelt, um diese vage und immer schon abhandengekommene Person, die von einer beunruhigenden Aura umweht wird. Sie entspricht in etwa der, die den Jünger Johannes verwandelt, als der Auferstandene diese rätselhaften Worte zu ihm sagt (»Jesus antwortete ihm: ›Wenn ich will, dass er bis zu meinem Kommen bleibt, was geht das dich an? Du aber folge mir nach!‹ Da verbreitete sich unter den Brüdern die Meinung: Jener Jünger stirbt nicht. Doch Jesus hatte zu Petrus nicht gesagt: ›Er stirbt nicht‹, sondern: ›Wenn ich will, dass er bis zu meinem Kommen bleibt.‹« (Johannes, 21,22–23)). Angesichts dieser nie kontrollierbaren Wirbelstürme, deren Abfolge die unmögliche »Geschichte« der Literatur konstituiert, ist ein befriedetes Wissen undenkbar.

    Die Frage ist vielmehr, wie es Céline gelungen ist, der Epoche zu geben, was sie ihm abverlangte, und zugleich so allein, absolut allein zu sein, dass er fanatisch versuchte, sich von dort fernzuhalten, wo wir am ehesten unter Unsresgleichen

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