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Verfolgt - deportiert - überlebt: Unvergessene Nachbarn (Band 2)
Verfolgt - deportiert - überlebt: Unvergessene Nachbarn (Band 2)
Verfolgt - deportiert - überlebt: Unvergessene Nachbarn (Band 2)
eBook709 Seiten5 Stunden

Verfolgt - deportiert - überlebt: Unvergessene Nachbarn (Band 2)

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Über dieses E-Book

Die Zeit heilte keine Wunden, sie ließ aber in den Jahrzehnten nach der NS-Diktatur die Täter weitestgehend ungeschoren davonkommen. Es gab auch keine "Stunde Null", aber eine "zweite Schuld" der Verdrängung und Verleugnung der nationalsozialistischen Verbrechen. Nahezu lückenlos wurden die NS-Täter in die Nachkriegsgesellschaft wieder eingegliedert, während die überlebenden Opfer, die angesichts des Entsetzens oft selbst schwiegen, lange Zeit ignoriert wurden.

Die Recherchen zu dieser Dokumentation haben sich über viele Jahre erstreckt, weil irrtümlicherweise angenommen wurde, dass fast alle Dokumente vernichtet oder verloren gegangen seien. Hier wird erstmals die vollständige Geschichte einer jüdischen Familie während des "Dritten Reiches" und der Nachkriegszeit umfassend dargestellt. Dazu wurden mehr als achtzig Archive in neun Ländern ausgewertet. Besonderen Stellenwert nahmen die Wiedergutmachungsakten im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden und bei der Bezirksregierung in Düsseldorf ein.

Die exemplarische "Personalisierung" des Holocaust am Beispiel der Familie Aumann soll den Lesern die unfassbaren Verbrechen stärker ins Bewusstsein rücken. Damit wir nicht die Augen vor der Vergangenheit verschließen, soll die noch immer zu beobachtende gesellschaftliche Verdrängung endlich einer kollektiven Verantwortung weichen. Dazu werden vom Autor nicht nur die Opfer, sondern auch die zahlreichen Täter genannt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum23. Sept. 2015
ISBN9783739276441
Verfolgt - deportiert - überlebt: Unvergessene Nachbarn (Band 2)
Autor

Bernd A. Weil

Dr. phil. Bernd A. Weil M. A., geboren am 28. November 1953, ist verheiratet mit Jutta Reichwein-Weil und studierte Germanistik, Politikwissenschaft, Geschichte, Diplompädagogik und Diplompsychologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist Oberstudienrat, Diplompsychologe, Sozialpädagoge, Autor, Herausgeber und Verleger, war Rezensent der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn und der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden sowie Gutachter beim Hessischen Kultusministerium und bei verschiedenen internationalen Instituten. Neben zahlreichen Buchveröffentlichungen schrieb der Publizist und Vortragsreferent viele Beiträge für Bibliografien, Lexika, Zeitungen, Fachzeitschriften, Internet und Rundfunk. Websites: www.bweil.de und: www.buddhaonline.de

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    Buchvorschau

    Verfolgt - deportiert - überlebt - Bernd A. Weil

    Register

    Vorwort

    Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst, schrieb der französische Medientheoretiker, Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard (1929–2007).² Wie sollte und soll man mit den Verbrechen des Nationalsozialismus nach 1945 umgehen, ohne sich die von Ralph Giordano (1924–2014)³ zu Recht angeprangerte zweite Schuld der Verdrängung und Verleugnung, des großen Schweigens, auf sich zu laden?⁴ Enttäuscht stellte der streitbare Journalist, Publizist und Regisseur Giordano im August 1987 fest: Wohl war Hitler militärisch, nicht aber ideologisch geschlagen. […] Kern ist das, was in diesem Buch der »große Frieden mit den Tätern« genannt wird – ihre kalte Amnestierung durch Bundesgesetze und durch die nahezu restlose soziale, politische und wirtschaftliche Eingliederung während der ersten zehn Jahre der neuen Staatsgeschichte.

    Bis zum Jahr 1958 gab es eine nahezu lückenlose Wiedereingliederung der NS-Täter in die Nachkriegsgesellschaft. Der deutsche Journalist und Autor Wilhelm Freiherr Speck von Sternburg (* 1939)⁶ nannte dazu als Beispiel: Am 11. Mai 1951 beschloss der Bundestag⁷ mit Inkraftsetzung der »131er-Gesetze«⁸ die Übernahme der Nazibeamten in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik.⁹ Über die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz finden sich in Dr. jur., Dr. phil. Ingo Müllers profund recherchiertem Buch Furchtbare Juristen zahlreiche Beispiele: In Westfalen beispielsweise hatten 93 Prozent des Justizpersonals der NSDAP oder ihren Nebenorganisationen angehört. Im Oberlandesgerichtsbezirk Bamberg waren von 309 Juristen 302 Pateigenossen gewesen, am Amtsgericht Schweinfurt gleich alle. In ihrer Enklave Bremen fanden die Amerikaner ganze zwei Richter, die als unbelastet gelten konnten.¹⁰ Wie wenig sich am System geändert hatte, musste auch der amerikanische Landeskommissar von Bayern erkennen, weil dort 1949 von 924 Richtern und Staatsanwälten genau 752, also 81 Prozent ehemalige Nazis waren.¹¹

    Ignatz Bubis (1927–1999), der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, schrieb in seinem Buch über die Juden in Deutschland: Nach 1945 schwiegen Täter und Opfer. Erstere verleugneten und verdrängten das in ihrem Namen und unter ihrer vielfachen Mitwirkung Geschehene, Letztere ließ das Entsetzen verstummen. Es lebten nur noch wenige Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland, ihre einst so aktiven Gemeinden waren zerstört und vernichtet. Erst Ende der fünfziger Jahre begann eine neue Generation Fragen zu stellen, sich mit den Ungeheuerlichkeiten des Dritten Reiches auseinanderzusetzen.¹² Die zahlreichen Exilierten, die nach der sogenannten Machtergreifung Adolf Hitlers Deutschland verließen, wurden nach dem Ende der braunen Macht von vielen Medienvertretern nach wie vor sehr rüde behandelt, beschimpft und verspottet. Daher kehrte kaum ein Emigrant in das Nachkriegsdeutschland zurück¹³ und wenn, dann in der Uniform der Alliierten wie zum Beispiel Klaus Mann,¹⁴ der älteste Sohn Thomas Manns.

    Fest steht: Es gab keine Stunde Null, nicht 1945 und nicht 1989! Die Schuldfrage lässt sich auch nicht mit würdevollen Nachrufen auf die Opfer beiseite wischen. Noch immer würden allzu gerne zahlreiche Zeitgenossen – angesichts eines neu aufkeimenden Antisemitismus¹⁵ in Europa (vor allem in Frankreich und Deutschland) – das Vergessen des Holocaust praktizieren, aber den Opfern zuliebe und den Tätern zum Groll kann man dies nicht zulassen! Es gibt keine Last, Deutscher zu sein, wenn man sich zu seiner Geschichte bekennt und sie nicht zu leugnen versucht. Über die Nazis in der eigenen Region zu forschen und zu publizieren, stellt jedoch eine Besonderheit dar, denn es fällt schwerer, sich den NS-Verbrechen zu stellen, je näher das Geschehen und die Täter an die persönliche Realität rücken.

    Die von Hannah Arendt exzellent beschriebenen Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft¹⁶ können wir nicht verstehen, solange wir dahinter eine gute und eine böse Seite des Menschen vermuten. In seiner am 29. Mai 1945 in Washington, D.C. in englischer Sprache gehaltenen Rede Deutschland und die Deutschen betonte der Nobelpreisträger Thomas Mann (1875–1955), dass es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes.¹⁷ Auch sein ehemaliger Privatsekretär Konrad Kellen (1913–2007),¹⁸ der als Emigrant mit seiner Frau Patricia (* 1925) im kalifornischen Pacific Palisades lebte, betonte in zahlreichen Gesprächen mit mir, dass diese Pseudotrennung doch nur die stets gleiche Seite einer Medaille abbilde.

    Um die vielfältigen faschistischen Bewegungen¹⁹ und die besondere Herrschaftsform des nationalsozialistischen Doppelstaates²⁰ begreifen zu können, benötigen wir die von der Psychoanalytikerin und Ärztin Margarete Mitscherlich-Nielsen (1917–2012) geforderte Erinnerungsarbeit.²¹ Diese bleibt jedoch durch die zusammen mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich (1908–1982) im Jahr 1967 beschriebene Unfähigkeit zu trauern²² im kollektiven narzisstischen Lamentieren über irgendwie geartete böse Zustände stecken. Die Unfähigkeit zur Trauer um den erlittenen Verlust des Führers ist das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst. […] Die Nazivergangenheit wird derealisiert, entwirklicht.²³ Die Beiden stellen in ihrer viel diskutierten und bewusst provokanten Untersuchung eine Abwehrhandlung des Individuums und der Masse gegenüber Schuld und Mitschuld an politischen Verbrechen fest. Die Deutschen verdrängten nach 1945 ihre Schuldgefühle aus reinem Selbstschutz. Es ist unsere Hypothese, dass wir in Massen einer Melancholie verfallen wären, wenn wir die Realität, wie sie war, »zur Kenntnis genommen« hätten.²⁴ Treffend sogar noch für unsere Gegenwart gilt: Die Zeit heilt nicht nur die Wunden, sie lässt auch die Täter sterben.²⁵

    Die Verdrängung der Schuld spielt sogar heute bei den Nachgeborenen wieder vermehrt eine Rolle. Georg M. Hafner und Esther Schapira formulierten in ihrem aktuellen Buch Israel ist an allem Schuld die These, dass es noch immer einen über Generationen weitergegebenen Hass auf Juden, gespeist aus deutscher Schuldabwehr, Ignoranz und mangelnder Empathie gibt.²⁶ Das bedeutet natürlich nicht, dass es verboten sei, jegliche Politik der israelischen Regierung kritisieren zu dürfen.

    Nach 1945, als die Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus noch bei vielen als Landesverräter galten, hat man die meisten Nazi-Verbrecher ungeschoren davonkommen lassen. In der hastig absolvierten Entnazifizierung in den drei Westzonen wurden fast 90 Prozent der Verdächtigen als Mitläufer oder Minderbelastete eingestuft. Nur 1,4 Prozent der Täter wurden als Hauptschuldige oder Belastete meistens recht mild bestraft oder sehr schnell wieder begnadigt. An den NS-Morden waren mehr als 500.000 Deutsche beteiligt, aber nur etwa 900 Täter wurden überhaupt verurteilt. Das sind nur rund 0,18%! Und dennoch machte sich bei der Mehrheit der Deutschen schnell das Gefühl breit, genug gebüßt zu haben, gemäß der Forderung des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer (1876–1967) in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949, Vergangenes vergangen sein zu lassen.²⁷

    Die Justiz, die in der jungen Bundesrepublik noch immer von braunen Seilschaften geprägt war,²⁸ wurde provoziert und teilweise entlarvt von dem großen Juristen und furchtlosen Humanisten Dr. jur. Fritz Bauer (1903–1968),²⁹ der als Generalstaatsanwalt von Hessen den ersten Frankfurter Auschwitzprozess (1963–1965)³⁰ gegen 22 ehemalige NS-Schergen und gegen erhebliche Widerstände vieler Alt-Nazis auf den Weg brachte. Die 21 Angehörigen der Waffen-SS und ein Funktionshäftling hatten bis dahin in Deutschland unbehelligt ein ganz normales Leben führen können.³¹ Die meisten Juristen hatten bis zu diesem Prozess vor dem Landgericht das Wort Auschwitz noch nie gehört! Nun musste sich auch die Bevölkerung mit dem Ungeheuerlichen und Unfassbaren auseinandersetzen. Kritisch fügte jedoch Hannah Arendt zum Auschwitz-Prozess an: Aus den ungefähr zweitausend SS-Männern, die zwischen 1940 und 1945 in Auschwitz Dienst taten und von denen noch viele am Leben sein müssen, hat man eine »Handvoll unerträglicher Fälle« herausgefischt und des Mordes angeklagt.³² Zur Zeit des Auschwitz-Prozesses war beispielsweise noch jeder dritte Abgeordnete im Hessischen Landtag ein ehemaliges NSDAP-Mitglied.³³

    Zwar gibt es keine kollektive Schuld, aber ein kollektives Verdrängen und eine kollektive Verantwortung.³⁴ Verantwortlich für die nationalsozialistischen Verbrechen, die in ihrer Art unvergleichbar bleiben,³⁵ war nicht nur ein kleiner Kreis um Adolf Hitler, sondern eine Vielzahl an direkt oder indirekt beteiligten Volksgenossen. Der Staatsanwalt Dr. jur. Adalbert Rückerl (1925–1986), der Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, beklagte im Dezember 1978 in einer Dokumentation: Mit Ablauf des 31. Dezember 1979 verjähren nach geltendem Recht alle NS-Mordtaten, sofern nicht die Verjährung unterbrochen worden ist.³⁶ Die Vergangenheit verjährt allerdings nicht! Deshalb geht die Verantwortung für die Erinnerung und das Gedenken an die Verbrechen des Holocaust³⁷ noch heute uns alle an, und dieser Prämisse soll auch der zweite Band meiner Darstellung des Schicksals der Familie Aumann dienen. Ähnlich drückte es Bundespräsident Richard Karl Freiherr von Weizsäcker (1920–2015) im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn anlässlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1985 in seiner legendären Rede aus: Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. […] Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.³⁸

    Die Gemeinde Eisenbach (heute Selters im Taunus) liegt im Goldenen Grund zwischen Bad Camberg und Limburg an der Lahn einen Kilometer abseits der Bundesstraße B 8 (früher Reichsstraße R 8). Eisenbach war zwar kein sogenanntes Nazi-Dorf,³⁹ es gab jedoch genügend fanatisierte Einzeltäter. Außerdem beherbergte die Gemeinde während der Zeit des Zweiten Weltkrieges ein Unternehmen auf einem alten Gutshof (Hof zu Hausen⁴⁰), das von Zwangsarbeit profitierte. Das sogenannte Eisenbacher Zivilarbeiterlager wurde von den Westalliierten im Catalogue of Camps and Prisons in Germany and German Occupied Territories 1939–1945 erfasst,⁴¹ in dem Lager, Haftstätten, Außenkommandos, Orte und Arbeitsstätten sowie rund 2.500 Firmen verzeichnet sind, bei denen Zwangsarbeiter beschäftigt waren (insgesamt über 13.000 Einträge).

    Meine Recherchen haben sich über viele Jahre erstreckt, wobei ich mehr als achtzig Archive in neun Ländern (Deutschland, Großbritannien, Israel, Luxemburg, Österreich, Polen, Schweden, die Tschechische Republik und die Vereinigten Staaten von Amerika) intensiv und zum Teil erstmals ausgewertet habe.⁴² Besonderen Stellenwert im zweiten Band meiner Darstellung der Geschichte der Familie Aumann nimmt die umfassende Aufarbeitung der Bestände der Wiedergutmachungsakten im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden ein.⁴³ Obwohl sich die Begriffe Wiedergutmachung und Entschädigung in der Fachwelt durchgesetzt haben,⁴⁴ so sind sie im Zusammenhang mit dem NS-Unrecht dennoch umstritten und bedenkenswert, denn die Auflösung des Rechts in Angst und Schrecken, die bis zum millionenfachen Mord gesteigerte Verfolgung lassen sich nicht ungeschehen oder rückgängig und in diesem Sinne niemals »wieder gut« machen.⁴⁵

    Das zentrale Ziel der beiden Bände über das Schicksal der jüdischen Familie Aumann ist die exemplarische Personalisierung des Holocaust. Damit sollen die zahlenmäßig unfassbaren und anonymisierten Verbrechen stärker in das Bewusstsein der Menschen gerückt werden. Diese Intention teilen mit mir auch die noch lebenden Mitglieder der Aumann-Familie: Jeany und Michael Udoff (New York) sowie deren Kinder.⁴⁶

    Der israelische Finanzminister Yair Lapid (* 1963)⁴⁷ sagte am 20. August 2014 bei seinem Besuch der Gedenkstätte Gleis 17 am Bahnhof Berlin-Grunewald:⁴⁸ Die Shoah stellt uns alle vor dieselbe Frage: Was hätte ich getan? Was hätte ich getan, wenn ich als Jüdin oder Jude 1933 in Berlin gelebt hätte, als Hitler an die Macht kam? Wäre ich geflohen? Hätte ich mein Haus oder mein Geschäft verkauft? Meine Kinder mitten im Schuljahr von der Schule genommen? Oder hätte ich mir gesagt: es wird vorbeigehen, das ist nur ein vorübergehender Wahn, Hitler sagt all diese Dinge nur, weil er Politiker ist und eine Wahl gewinnen will. Ja, er ist ein Antisemit, aber wer ist das nicht? Wir haben Schlimmeres durchlebt als das. Besser, wir warten ab und halten uns still. Es wird vorbeigehen. Und er ergänzte in seiner international viel beachteten Rede, auf die mich Michael Udoff aufmerksam machte,⁴⁹ den kritischen Satz: Ich denke, ich kenne die Antwort. Ich denke, Sie auch.⁵⁰ – Wir alle sind heute wieder aufgerufen, wachsam zu sein, um Zeichen und Entwicklungen von Intoleranz, Gewalt und Verfolgung wahrzunehmen. Michael Udoff schrieb mir dazu aus New York: Hopefully, speeches as this, and books such as yours will contribute to this vigilance.⁵¹ (Hoffentlich tragen Reden wie diese und Bücher wie Ihres zu dieser Wachsamkeit bei.)

    Die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main,⁵² wo ich vor mehr als vierzig Jahren vor allem bei dem renommierten Zeithistoriker Professor Dr. Klaus Hildebrand (geb. 1941)⁵³ mit meinen Studien zum Nationalsozialismus und zum Zweiten Weltkrieg begann,⁵⁴ wurde durch das Nazi-Regime in den 30er Jahren sehr schnell in den braunen Sog gezogen. Bereits 1933 wurde ein Drittel der Professoren verjagt – so viele wie an keiner anderen Hochschule des Reiches. Im Jahr 1935 wurde unter der Leitung des Mediziners, Humangenetikers und Zwillingsforschers Otmar Freiherr von Verschuer (1896–1969)⁵⁵ in Frankfurt ein neuer Lehrstuhl für Erbbiologie und Rassenhygiene eingerichtet. An diesem Institut promovierte Anfang 1938⁵⁶ mit der Höchstnote der Mediziner und Anthropologe Josef Mengele (1911–1979),⁵⁷ der vom Mai 1943 bis zum Januar 1945 Lagerarzt des Vernichtungslagers Auschwitz war (Spitzname Todesengel).⁵⁸

    Zum Schluss meines Vorworts noch eine wichtige Anmerkung: Sämtliche Einnahmen vom Verkauf dieses Buches (wie auch des ersten Bandes) sowie aus Lesungen, Interviews und Präsentationen etc. werden in vollem Umfang ohne jeden Abzug jüdischen Hilfsorganisationen wie zum Beispiel dem 2010 eröffneten israelischen Altenheim für verarmte Holocaust-Überlebende in Haifa zur Verfügung gestellt, um diesen Menschen zu helfen, ihren Lebensabend in Würde zu verbringen.⁵⁹

    ² Vgl. Wikipedia: Jean Baudrillard: http://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Baudrillard (2015)

    ³ Vgl. Wikipedia: Ralph Giordano: http://de.wikipedia.org/wiki/Ralph_Giordano (Juli 2015)

    ⁴ Vgl. Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Köln 22008, S. 17

    ⁵ Ebd., S. 17

    ⁶ Vgl. Wikipedia: Wilhelm von Sternburg: http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_von_Sternburg

    ⁷ Das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (BGBl. I S. 307) wurde von allen Parteien (auch von KPD und DRP) bei nur zwei Enthaltungen beschlossen. Danach konnten öffentlich Bedienstete, wenn sie nicht als Hauptschuldige galten, wieder eingestellt werden.

    ⁸ Der auf den Artikel 131 des Grundgesetzes zielende umgangssprachliche Begriff 131er meint alle Staatsdiener, die infolge der NS-Zeit beschäftigungslos geworden waren, aber Anspruch auf Weiterbeschäftigung erhoben.

    ⁹ Sternburg, Wilhelm von: Warum wir? Die Deutschen und der Holocaust. Berlin 1996, S. 25

    ¹⁰ Müller, Ingo: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz. Berlin 2014, S. 256

    ¹¹ Ebd., S. 257

    ¹² Bubis, Ignatz: Juden in Deutschland; hrsg. von Wilhelm von Sternburg, Berlin 1996, S. 9

    ¹³ Vgl. u. a. Gay, Ruth: Das Undenkbare tun. Juden in Deutschland nach 1945. München 2001 oder: Treuenfeld, Andrea von: Zurück in das Land, das uns töten wollte. Jüdische Remigrantinnen erzählen ihr Leben. Gütersloh 2015

    ¹⁴ Vgl. Weil, Bernd: Klaus Mann: Leben und literarisches Werk im Exil, Frankfurt am Main 1983, S. 85ff.

    ¹⁵ Vgl. dazu u. a.: Benz, Wolfgang: Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils. München 1995 und: Greive, Hermann: Geschichte des Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1983

    ¹⁶ Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München ⁸2001

    ¹⁷ Mann, Thomas: Essays, Bd. 5: Deutschland und die Deutschen; hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 1996, S. 280

    ¹⁸ Vgl. Weil, Bernd A.: Abschied: Konrad Kellen (1913–2007); in: Die Welt, 13. April 2007, S. 28; online: http://www.welt.de/welt_print/article807056/Konrad-Kellen-1913-2007.html

    ¹⁹ Vgl. dazu den folgenden Überblick: Weil, Bernd A.: Faschismustheorien. Eine vergleichende Übersicht mit Bibliographie. Frankfurt am Main 1984

    ²⁰ Vgl. Fraenkel, Ernst: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im »Dritten Reich«. Frankfurt am Main 1974 (Amerikanische Originalausgabe: The Dual State, New York 1941)

    ²¹ Vgl. Mitscherlich, Margarete: Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern. Frankfurt am Main 1987

    ²² Vgl. Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München ¹⁸1986

    ²³ Ebd., S. 34

    ²⁴ Ebd., S. 58

    ²⁵ Ebd., S. 58

    ²⁶ Hafner, Georg M. / Schapira, Esther: Israel ist an allem Schuld. Warum der Judenstaat so gehasst wird. Köln 2015, Klappentext

    ²⁷ Zit. nach: Der Spiegel, H. 45, 3.11.2014, S. 110

    ²⁸ Steinke, Ronen: Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, München / Zürich 2013, Klappentext

    ²⁹ Vgl. Wikipedia: Fritz Bauer: http://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Bauer (Juli 2015)

    ³⁰ Vgl. Wikipedia: Auschwitzprozesse: http://de.wikipedia.org/wiki/Auschwitzprozesse (25.07.2015)

    ³¹ Bickel, Rolf / Wagner, Dietrich: Auschwitz vor Gericht. Strafsache 4 Ks 2/63. 2 DVDs; hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) in Bonn; Fritz-Bauer-Institut, Frankfurt am Main 2014, Klappentext

    ³² Arendt, Hannah: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare. Hrsg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann, Berlin 22014, S. 99

    ³³ Vgl. Nassauische Neue Presse (NNP) vom 19. Februar 2013 und vom 20. Juni 2014

    ³⁴ Vgl. Sternburg: Warum wir?, a. a. O., S. 21ff.

    ³⁵ Der angeblichen Unvergleichbarkeit der NS-Verbrechen widersprach der in Berlin-Karlshorst geborene Zeithistoriker und Autor Joachim Clemens Fest (1926–2006) in seinem Aufsatz: Die geschuldete Erinnerung. Zur Kontroverse über die Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Massenverbrechen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Nr. 199, 29.08.1986, S. 23f.

    ³⁶ Rückerl, Adalbert: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation. (Recht – Justiz – Zeitgeschehen [RJZ], Bd. 31) Heidelberg / Karlsruhe 1979, S. 5

    ³⁷ Die Bezeichnung "Holocaust leitet sich vom griechischen Adjektiv ὁλόκαυστον (holókauston) ab und bedeutete ursprünglich vollständig verbrannt". Gemeint war damit ein vollständig auf dem Altar verbranntes Tieropfer.

    ³⁸ Quelle: Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn anlässlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1985. Online unter: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html;jsessionid=C3F8B3D203E2E9A378853CBDDBBE0700.2_cid285 [14.06.2015])

    ³⁹ Vgl. Weil, Bernd: Die historische und politische Entwicklung der Gemeinde Eisenbach von 1848 bis 1945; in: Heimatbuch: 750 Jahre Eisenbach, Gemeinde Selters (Taunus), 1234–1984. Meinerzhagen 1984, S. 32

    ⁴⁰ Vgl. dazu: Weil, Bernd: Die Geschichte des Hofes zu Hausen; in: Heimatbuch, a. a. O., S. 120–123

    ⁴¹ Vollständig abgedruckt in: Weinmann, Martin (Hrsg.): Das nationalsozialistische Lagersystem, Frankfurt am Main 31999 (Eisenbach: S. 542)

    ⁴² Die öffentliche Nutzung von Archivgut ist in Hessen durch das Hessische Archivgesetz (HArchivG) vom 26. November 2012 (GVBl. I S. 458) geregelt, das laut § 22 HArchivG am 1. Januar 2013 in Kraft getreten ist und bis zum 31. Dezember 2017 gültig sein wird: Hessisches Archivgesetz (HArchivG) vom 26. November 2012, verkündet als Artikel 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Archivwesens und des Pflichtexemplarrechts vom 26. November 2012 (GVBl. I S. 458).

    In § 12 HArchivG heißt es: (1) Das Recht, öffentliches Archivgut zu nutzen, steht jeder Person zu, soweit durch Rechtsvorschriften nichts anderes bestimmt ist. […] (2) Der Zweck der Nutzung, der persönlicher, amtlicher, wissenschaftlicher, pädagogischer, publizistischer oder gewerblicher Art sein kann, muss dargelegt werden.

    Die Schutzfristen des Archivguts regelt § 13 HArchivG: (1) Für öffentliches Archivgut gilt im Regelfall eine Schutzfrist von 30 Jahren nach Entstehung der Unterlagen. […] (2) Unbeschadet der generellen Schutzfristen darf Archivgut, das sich seiner Zweckbestimmung oder seinem wesentlichen Inhalt nach auf eine oder mehrere natürliche Personen bezieht (personenbezogenes Archivgut), im Regelfall erst zehn Jahre nach dem Tod der betroffenen Person oder der letztverstorbenen von mehreren betroffenen Personen durch Dritte genutzt werden. Ist das Todesjahr nicht festzustellen, endet die Schutzfrist 100 Jahre nach der Geburt der betroffenen Person oder der Geburt der letztgeborenen von mehreren Personen, deren Todesjahr nicht festzustellen ist. Ist weder Geburts- noch Todesjahr der betroffenen Person oder einer der betroffenen Personen mit vertretbarem Aufwand festzustellen, so endet die Schutzfrist 60 Jahre nach Entstehung der Unterlagen.

    ⁴³ Mein besonderer Dank gilt Herrn Thomas Flach von der Entschädigungsbehörde beim Regierungspräsidium Darmstadt, Postfach 4809, 65038 Wiesbaden.

    ⁴⁴ Vgl. Wikipedia: Deutsche Wiedergutmachungspolitik: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Wiedergutmachungspolitik (18.06.2015)

    ⁴⁵ Hockerts, Hans Günter: Wiedergutmachung in Deutschland 1945–1990. Ein Überblick. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) [Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament], Jg. 63, Nr. 25-26/2013, 07.06.2013 (Thema: Wiedergutmachung und Gerechtigkeit); online unter: http://www.bpb.de/apuz/162883/wiedergutmachung-in-deutschland-19451990-ein-ueberblick?p=all

    ⁴⁶ Vgl. Michael Udoffs E-Mail an Dr. Bernd A. Weil vom 29. August 2014: To »personalize« the Holocaust […] was one of your major objectives in writing about the Aumann family. (Die Massenvernichtung zu »personalisieren« […], war eines Ihrer Hauptziele beim Schreiben über die Aumann- Familie.)

    ⁴⁷ Vgl. Wikipedia: Yair Lapid: http://de.wikipedia.org/wiki/Yair_Lapid (29.05.2015)

    ⁴⁸ Vgl. Wikipedia: Bahnhof Berlin-Grunewald: http://de.wikipedia.org/wiki/Bahnhof_Berlin-Grunewald (29.05.2015)

    ⁴⁹ Vgl. Michael Udoffs E-Mail an Dr. Bernd A. Weil vom 29. August 2014

    ⁵⁰ Quelle: Rede von Finanzminister Yair Lapid an der Gedenkstätte Gleis 17 in Berlin-Grunewald, 20. August 2014, S. 1; Originalrede als Video im Internet unter: http://embassies.gov.il/berlin/NewsAndEvents/Pages/Finanzminister-Yair-Lapid-in-Deutschland.aspx und als PDF-Datei online in deutscher Übersetzung unter: http://embassies.gov.il/berlin/NewsAndEvents/NewsDokumente/20140820_Lapid_Gleis_17.pdf

    Originalausschnitt in englischer Sprache: The Holocaust causes us all to ask of ourselves the same question: What would I have done? What would I have done if I was a Jew in Berlin in 1933, when Hitler rose to power? Would I have run? Would I have sold my house, my business? Removed my children from school in the middle of the year? Or would I have said to myself: it will pass, it is just momentary madness, Hitler says all these things because he is a politician seeking election. Yes, he’s anti-Semitic, but who isn’t? We’ve been through worse than this. It’s better to wait, to keep my head down. it will pass. […] I think I know the answer. I think you do too.

    ⁵¹ Michael Udoffs E-Mail an Dr. Bernd A. Weil vom 29. August 2014

    ⁵² Vgl. Goethe-Universität Frankfurt am Main: http://www.uni-frankfurt.de

    ⁵³ Vgl. u. a. Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich (Oldenbourg-Grundriss der Geschichte, Bd. 17), München / Wien 1979 (Neubearbeitete Auflage: 2003) und: ders.: Reich – Großmacht – Nation. Betrachtungen zur Geschichte der deutschen Außenpolitik 1871–1945. (Schriften des Historischen Kollegs: Vorträge 42) München 1995 sowie: ders.: Wer dem Abgrund entrinnen will, muss ihn aufs genaueste ausloten. Ist die neue deutsche Geschichtsschreibung revisionistisch? In: Die Welt, Nr. 272, 22.11.1986, S. 10 Zur Person vgl. auch: Wikipedia: Klaus Hildebrand: http://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Hildebrand

    ⁵⁴ Vgl. Weil, Bernd: Faschismustheorien, a. a. O. sowie: ders.: General Dr. von Staat. Zum Verhältnis von Militär und Politik zwischen 1919 und 1945. Frankfurt am Main 1985; Internet-Katalog: http://www.bweil.de/werke.html

    ⁵⁵ Vgl. Wikipedia: Otmar von Verschuer: http://de.wikipedia.org/wiki/Otmar_Freiherr_von_Verschuer

    ⁵⁶ Josef Mengele aus dem schwäbischen Günzburg promovierte zum ersten Mal im Jahr 1935 bei dem Direktor des Münchner Anthropologischen Instituts Theodor Mollison (1874–1952) mit der Höchstnote über Rassenmorphologische Untersuchung des vorderen Unterkieferabschnittes bei vier rassischen Gruppen zum Dr. phil. (Doktor der Philosophie).

    Vgl. Mengele, Josef: Rassenmorphologische Untersuchung des vorderen Unterkieferabschnittes bei vier rassischen Gruppen; in: Morphologisches Jahrbuch 79 (1937), S. 60–117 (zugleich: Universität München, Phil. Diss. vom 13. November 1935)

    ⁵⁷ Vgl. Mengele, Josef: Sippenuntersuchungen bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte; in: Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitutionslehre 23 (1938), S. 17–42 (zugleich: Universität Frankfurt am Main, Med. Diss. vom 30. März 1938)

    ⁵⁸ Vgl. Völklein, Ulrich: Josef Mengele, der Arzt von Auschwitz. Biographie. Göttingen 2003 und: Wikipedia: Josef Mengele: http://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Mengele (August 2015)

    ⁵⁹ Im Sommer 2010 wurde das erste israelische Altenheim für bedürftige Holocaust-Überlebende (Home for Holocaust Survivors) in Haifa von der International Christian Embassy Jerusalem (ICEJ) eröffnet: Internationale Christliche Botschaft Jerusalem – Deutscher Zweig e. V., Motorstraße 36, 70499 Stuttgart; Internet: www.icej.de, E-Mail: info@icej.de; IBAN: DE63 5206 0410 0004 0202 00, BIC: GENODEF1EK1 (Spenden sind steuerlich absetzbar.)

    Einweihung des Gedenksteins für die Familie Aumann

    Der deutsch-französische Arzt, Philosoph und Friedensnobelpreisträger (1952)⁶⁰ Dr. Albert Schweitzer (1875–1965) aus Kaysersberg im Oberelsass, der von 1913 bis zu seinem Tod 1965 in Lambaréné (Gabun) gelebt und gewirkt hat, schrieb zum Thema Erinnerung einen nachdenkenswerten Aphorismus, der für seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben⁶¹ steht: Das schönste Denkmal, das ein Mensch bekommen kann, steht in den Herzen der Mitmenschen. Aber auch ein würdevoller Gedenkstein hilft den Nachgeborenen, die Namen der jüdischen Mitbürger nicht zu vergessen.

    Durch die Initiative des Eisenbacher Ehepaars Ingrid und Franz-Josef Rembser wurde am 15. November 2013 auf dem Friedhof in Selters-Eisenbach (Kirchhofstraße) ein Gedenkstein für die in der NS-Zeit deportierten und ermordeten Mitglieder der beiden Aumann-Familien errichtet. Die Gemeindeverwaltung Selters (Taunus) unter der Federführung des Bürgermeisters Bernd Hartmann (parteilos) beauftragte dazu – mit Unterstützung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Limburg e.V. (Christa Pullmann) – den Steinmetzbetrieb Hammerschmidt & Sohn in Niederselters (Emsstraße 5), auf einem großen Findling eine gegossene Bronzeplatte mit erhabener Schrift anzubringen. Der Gedenkstein befindet sich auf einer Grünfläche oberhalb des Haupteingangs des Friedhofs.

    Gedenkstein für die Familie Aumann in Selters-Eisenbach⁶²

    Manuel Böcher, Christa Pullmann, Ingrid & Franz-Josef Rembser, Bürgermeister Bernd Hartmann und Rabbiner Dr. Shimon Großberg (v. l. n. r.)

    Bernd Hartmann, Dr. Shimon Großberg und Dr. Bernd Weil

    Martina Schuller mit Kindern und Jugendlichen aus Eisenbach

    ⁶⁰ Der Friedensnobelpreis wurde Albert Schweitzer im Oktober 1953 rückwirkend für das Jahr 1952 zuerkannt. Der entschiedene Pazifist und Theologe nahm die internationale Auszeichnung am 4. November 1954 in Oslo entgegen.

    ⁶¹ Während einer Bootsfahrt auf dem Fluss Ogowe, der direkt an Lambaréné im westafrikanischen Gabun vorbeifließt, hatte Albert Schweitzer schon im Jahr 1915 beim Anblick einer großen Herde von Flusspferden das zentrale Motto seines ethischen Denkens gefunden: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Diese Lehre umfasst Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermaßen.

    ⁶² Alle Fotos zum Gedenkstein: Dr. Bernd A. Weil (Selters-Eisenbach, November 2013)

    Einweihung der Gedenktafel für die Familie Aumann

    Am Freitag, dem 14. März 2014, um 14:00 Uhr lud das Ehepaar Jutta und Bernd Weil aus Eisenbach alle interessierten Bürger und Pressevertreter zur feierlichen Enthüllung der von ihnen gestifteten Gedenktafel für die Familie von Rosalie und Gustav Aumann ein.

    Camberger Anzeiger, 35. Jg., Nr. 11, 13. März 2014, S. 8

    Die massive Bronzetafel⁶³ wurde am heutigen Wohnhaus der Familie von Martina und Gerhard Schuller in der Eisenbacher Grabenstraße 24 angebracht, wo Rosalie (Salchen) Aumann und ihre Tochter Bertha bis zu ihrer Deportation am 28. August 1942 als die beiden letzten jüdischen Personen des Kreises Limburg lebten.

    Gedenktafel für die Familie Aumann in der Eisenbacher Grabenstraße 24⁶⁴

    Jeany Udoff, die heute in New York lebende einzige Tochter von Rosa Fromm, geborene Aumann, hat uns zusammen mit ihrem Ehemann Michael für diesen Anlass des gemeinsamen Gedenkens die folgende Grußbotschaft geschickt: Die Schaffung dieser Gedenktafel ist das Ergebnis der inhumanen und grausamen Verbrechen gegen deutsche und andere europäische Juden, die niemals hätten geschehen und die sich niemals wiederholen dürfen.⁶⁵

    Bei der Enthüllung der Gedenktafel zu Ehren der Familie von Rosalie und Gustav Aumann wurde auch die letzte Strophe der im Mai 1945 entstandenen Todesfuge⁶⁶ des deutschsprachigen Lyrikers Paul Celan (1920–1970)⁶⁷ zitiert:

    Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

    wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland

    wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken

    der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau

    er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau

    ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete

    er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft

    er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland

    dein goldenes Haar Margarete

    dein aschenes Haar Sulamith

    ⁶³ Die massive Bronzetafel hat die Maße 35cm x 25cm, die bronzebraun patinierte Grundfläche ist leicht strukturiert, die hell polierten Buchstaben sind 1,5mm erhaben und als Kapitälchen gegossen. (Idee, Entwurf und Realisierung der Gedenktafel: Jutta & Bernd Weil, Selters-Eisenbach)

    ⁶⁴ Foto: Dr. Bernd A. Weil (14. März 2014)

    ⁶⁵ E-Mail von Jeany und Michael Udoff (New York) an Dr. Bernd A. Weil im Februar 2014

    ⁶⁶ Vgl. Wikipedia: Todesfuge: http://de.wikipedia.org/wiki/Todesfuge und: Die Welt vom 09.09.2010 Lesung der Todesfuge durch Paul Celan: Lyrikline: http://www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66 Vgl. dazu: Ludwig, Martin: Analyse zu Todesfuge von Paul Celan (Universität Marburg 2009): http://ludwig.medienlinks.de/mal-todesfuge.pdf sowie: Lamping, Dieter (Hrsg.): Dein aschenes Haar Sulamith. Dichtung über den Holocaust. München 21993 (Erstauflage: 1992)

    ⁶⁷ Vgl. Wikipedia: Paul Celan: http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Celan (Juli 2015)

    Rosalie und Gustav Aumann

    Rosalie Marx (hier ein Portrait aus der Zeit um das Jahr 1930)⁶⁸ wurde am 30. April 1861 in dem kleinen rheinhessischen Dorf Wallertheim nördlich von Alzey geboren.⁶⁹ Ihre Eltern waren Salomon Marx (1821–1894) und Elisabetha Marx, geb. Metzger († 1862). Die kleine Rosalie lernte ihre Mutter gar nicht kennen, weil sie bereits verstarb, als das Baby gerade erst ein Jahr alt war. Die Familie unterstützte fortan den Vater mit Rat und Tat. Das Elternhaus von Rosalie Marx existiert schon seit langer Zeit nicht mehr.

    Wallertheim ist heute Teil der rheinhessischen Verbandsgemeinde (VG) Wörrstadt im Landkreis Alzey-Worms und hatte im Jahr 2014 eine Einwohnerzahl von 1.809.⁷⁰In dem 1250 erstmals urkundlich erwähnten Ort, der damals Waldirtheym, Waldtheym oder Walderthem hieß,⁷¹ wurden bereits im Jahr 1555 zwei jüdische Einwohner genannt.⁷² In Wallertheim existieren noch immer zwei jüdische Friedhöfe und eine 1883/1884 aus Backsteinen errichtete Synagoge,⁷³ in der sich seit dem Umbau in den Jahren 1952 und 1953 das Rathaus befindet (Neustraße 3).

    Synagoge in Wallertheim (um 1950) [links] – Rathaus (2014)⁷⁴

    Eine bronzene Gedenktafel⁷⁵ an dem heutigen Rathaus in der Wallertheimer Neustraße 3 weist auf das ehemalige jüdische Gebetshaus hin, das 1938 von den Nazis geplündert, in Brand gesetzt, aber wieder gelöscht wurde.⁷⁶

    Kartenausschnitt von Wallertheim (rote Marker

    v. l. n. r.): Alter jüdischer Friedhof, Synagoge, neuer jüdischer Friedhof⁷⁷

    Der alte jüdische Friedhof in Wallertheim wurde um das Jahr 1690 angelegt, um 1765 auf rund 700m² erweitert⁷⁸ und etwa 1840 aus Platzmangel geschlossen.⁷⁹ Ein in Wörrstadt gefertigter Bauplan des Hessischen Vermessungsamtes vom 21. September 1928 zeigt im Maßstab 1:500 unter anderem die Lage des alten jüdischen Friedhofs (Flur 1, Flurstück Nr. 564 [heute Nr. 210]⁸⁰) rechts neben einem Feldweg, der heutigen Mozartstraße.⁸¹ Die eingetragene Straße Frei-Laubersheim – Oppenheim heißt heute Neustraße und ist Teil der Kreisstraße K 18. Während der nationalsozialistischen Herrschaft wurde der Friedhof im Jahr 1940 zerstört und abgeräumt. Bis

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