Erben der Nazis: Autobiographische Beobachtungen eines Zeitzeugen
Von Manfred Auer
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Erben der Nazis - Manfred Auer
Die Gnade der späten Geburt
Am Weißen Sonntag 1933 branden Gebrüll und fanatische Gesänge begeisterter Horden gegen die Häuserfronten der Kurstadt Wiesbaden. Meine Mutter kämpft im Paulinenstift um mein und ihr Leben. Durch das geöffnete Fenster hört sie die Hurrahs der Volksgenossen. Sie wird das in ihrem Leben nicht mehr vergessen.
Meine Erinnerungen beginnen mit dem 4. Lebensjahr. Meine Eltern waren sehr aufgeregt. Die Polizei hatte gute Freunde meiner Eltern abgeholt und in das Polizeigefängnis Mainz verbracht. Nach ein paar Wochen wurde zuerst der Tod des Ehepaares Schleder und einen Monat später der Tod von Adolf Nötzel gemeldet. Der Verbleib der Schleders ist bis heute unbekannt. Die offizielle Nachricht besagte, das Ehepaar sei geflüchtet und erschossen worden. Man hätte sie sofort eingeäschert und beerdigt. Die Angehörigen konnten auch nach dem Ende des 2. Weltkrieges, die Stelle nicht herausfinden, wo man sie verscharrt hatte. Diese 3 Menschen wurden nicht etwa von der SS oder Gestapo umgebracht. Nein, es waren die sogenannten Freunde und Helfer, der Schutzmann an der Ecke, normale Polizeibeamte. Für die Morde im Namen des Staates brauchte man in Deutschland weder ein Gericht, geschweige denn ein Urteil. Es genügte, Mitglied der noch legalen kommunistischen Partei zu sein. Nach den Tätern wurde nie gefahndet oder auch nur der Versuch gemacht, ihrer habhaft zu werden. Von Strafe ganz zu schweigen. Man darf davon ausgehen, dass die Mörder als Mitläufer eingestuft worden sind und ihren Polizeidienst bis zur Pension unbehelligt weiter ausüben konnten. Anschließend genossen sie bei vollem Bezügen ihren Lebensabend. Das Entsetzliche an diesem Verhaltensmuster ist der völlige Zusammenbruch menschlicher Regeln und moralischer Normen im deutschen Volke. Dass Polizei, Gerichte und Staatsanwaltschaften bereits zu Beginn der Nazi- Ära bereit waren, Verbrechen und Morde zu decken und elbst zu verüben, zeigt wie verkommen die Justiz, die Richter und Staatsanwälte schon unter Kaiser Wilhelm und Weimarer Republik gewesen sein mussten. So wie damals bläst heute immer noch ein leiser Wind der von den Nazis geprägten Weltanschauung durch Gesellschaft und Gerichtssäle.
Man muss sich vorstellen, in unserer Demokratie
, auf die wir mit Recht stolz sein können, sind die Staatsanwaltschaften von der Weisung ihrer Innenminister abhängig.. Das bedeutet in der Praxis, dass die Innenminister je nach ihrer Parteizugehörigkeit Einfluss auf die Tätigkeit der Staatsanwälte nehmen können. Sie können bestimmen, ob gegen die eine oder andere Person ermittelt wird oder nicht. Sie können die Richtung der Ermittlungen bestimmen oder ganz ruhen lassen. Selbst in seiner Verfassung legt Deutschland keinen besonderen Wert auf Rechtsstaatlichkeit.. Um zu einem demokratischen Musterland zu werden, müsste noch erheblich nachgebessert werden.
Im stillen Kämmerlein wusste die Tätergeneration ganz genau, welche Verbrechen und welche Schuld sie sich da aufgeladen hatte. Darum waren sie überrascht und froh, dass am Ende alles so glimpflich für sie verlaufen ist. Die brutalsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte blieben weitgehend ungesühnt.
Zuerst kam ein CDU Kanzler, der den Zeitpunkt bestimmte, ab dem die Deutschen von ihren Untaten reingewaschen waren. Dann kam später ein weiterer CDU Kanzler, der sich selbst und der Jugend Generalabsolution erteilte. Er sprach bei einem Besuch in Israel von der Gnade der späten Geburt
.
Mir selbst ist diese Gnade leider nicht zuteil geworden, da ich bereits mit vier Jahren in den Strudel hineingezogen worden bin.
Die Reichskristallnacht
Es wurde 1938. Wir wohnten in der Galileistraße. Die Straße liegt auf einer Anhöhe, von der man große Teile der Stadt überblicken kann. Plötzlich, an einem Nachmittag im November, lagen dicke Rauchwolken über der Stadt. In der Gegend um den Michelsberg brannte es. Kurz entschlossen packten der Klaus und ich unsere Tretroller und sausten die Platter Straße in Richtung Brandherd. Wir kamen dort an und sahen am Michelsberg die Synagoge brennen. Das war aber nicht das Schlimmste. Überall lagen eingeschlagene Scheiben, blutende Kinder und Erwachsene, Geschirr, Bilder und Möbelstücke, die aus den Fenstern flogen. Es war ein unglaubliches Getöse, Geschrei, Gebrüll, und Gegröle, in das sich die Hilferufe gequälter und misshandelter Menschen mischten. Es waren Szenen, wie aus einem Inferno, das sich Dante nicht hätte schlimmer ausdenken können. Wir Kinder sahen es, die Erwachsenen sahen es und waren zum großen Teil beteiligt. Ich fragte einen Onkel
was die Menschen denn gemacht hätten, die man da verprügelte. Onkel antwortete, sie hätten nichts gemacht, sie seien aber Ungeziefer, das ausgemerzt werden müsste. Da habe ich mich richtig geschämt. Das war ein Gefühlserlebnis, das ich wohl nie vergessen werde.
Nach dem Krieg gab es komischerweise keinen, der die Vorgänge der Reichskristallnacht gesehen, oder sich daran beteiligt hätte. Die Erinnerungslücken waren total.
Nach diesem Unrechtsdatum, heftete man den Juden den gelben Davidstern an die Kleider. Der Staat hatte sie zu Freiwild erklärt. Verstöße gegen die Vorschrift, den Judenstern sichtbar zu tragen, wurden mit Lagerhaft bestraft.
Der Antisemitismus war nichts Neues. In Deutschland und anderen Ländern wurde seit 1879 über die >Endlösung< der Judenfrage diskutiert und spekuliert. Es gab ein weltweites Gefühl der intellektuellen Unterlegenheit gegenüber den Juden. Da kam Hitler gerade recht. Er gab dem Neid und dann dem Hass die Stimme. In allen europäischen Ländern hat es seit dem Mittelalter Judenpogrome gegeben. Sie hatten mehr oder weniger das Ziel, sich der intellektuellen Übermacht der Juden in Wissenschaft, Bank und Geldangelegenheiten zu entledigen. Aber noch nie zuvor wurde die Vernichtung einer religiösen Minderheit mit solch unglaublicher Brutalität, Menschenverachtung und bürokratischer Perfektion in die Wege geleitet und konsequent durchgeführt. Wegen der vielen zu Bruch gegangenen Fensterscheiben und des Hausrates, der auf der Straße landete nannte man dieses Ereignis sinniger Weise die REICHSKRISTALLNACHT. Sie war der Startschuss zu einem in der Menschheitsgeschichte einmaligen Völkermord.
Der Mantel
Eines Tages war mein Vater der Ansicht, dass das Söhnchen eines neuen Wintermantels bedurfte. Er hatte im Schrank noch einen Rest Kamelhaarstoff von Dormeuil aufgehoben. Die Menge reichte nicht für einen Erwachsenen, wohl aber für einen Knirps, wie mich. Wir besuchten also den Hofschneider meines Vaters. Elias Rosenbaum hatte seine Werkstatt in der Nähe der Maria-Hilf Kirche. Vater und Elias kannten sich vom Schachspielen im Café Maldaner. Der Mantelstoff wurde ausgepackt. Es folgte eine ausgiebige Besprechung, in der immer wieder von bloß nicht zu klein
und der Junge wächst doch noch
gesprochen wurde. Dann wurde ich auf den Schneidertisch gestellt und Elias nahm Maß. Eine Woche später musste ich zur Anprobe, es war die erste von Fünfen. Wieder musste ich auf den Tisch. Dann kam ein cremefarbener Umhang, in dem nicht nur die Hände, sondern auch die Beine verschwanden. Elias zückte ein spezielles Kreidestück und machte unter Protesten meines Vaters hier und da einen Strich. In der Zeit war mir richtig heiß geworden. Der dicke Stoff und das Gewicht des Ungetümes taten ihre Wirkung.
Zur nächsten Anprobe ging ich mit meiner Mutter. Als Elias mir das immer noch gewaltige Kleidungsstück übergestreift hatte, fing meine Mutter an zu lachen. Sie hatte eine besondere Art zu lachen. Das kam rollend aus ihrem Innersten. Wenn sie lachte, lachten alle mit. Ich habe einmal ein Erlebnis im Bus gehabt. Ich erzählte ihr einen Witz, nichts besonderes. Sie fand das aber witzig und fing an zu lachen. Sie konnte sich nicht mehr halten. Nach zwei, drei Minuten lachte ein voll besetzter Bus aus vollem Halse. Natürlich wusste keiner der Mitfahrenden, warum diese Frau so lachte. Sie mussten einfach mitlachen.
Ich stand auf dem Schneidertisch, Elias lachte, seine Frau lachte. Die Tränen kamen aus den Augen. Nur ich fand das gar nicht lustig.
Elias meinte zu meiner Mutter, dass man eine solche Kutte dem armen Buben doch nicht antun könnte. Am Ende kam dann ein Kompromiss heraus, der mir dann drei Jahre später irgendwie passte.
Das geschah 1936. Ich war gerade 3 Jahre geworden. Mein Vater hatte immer Juden als Geschäftspartner und Handwerker bevorzugt. Er sagte, vor einem Abschluss wird immer gejammert, die kranke Frau ins Feld geführt, um zu vorteilhaften Bedingungen zu kommen. Ist man sich aber einig, dann halten Juden ihre Verträge und Abmachungen auch ein. Ganz anders, als bei den christlichen Kollegen.
Er kannte die Rosenbaums schon lange. Und seit der Machtergreifung unseres geliebten Führers lag er Elias in den Ohren, sich möglichst schnell aus dem Staube zu machen. Der aber war unerschütterlich.
ich habe für dieses Land in einem Weltkrieg mein Leben riskiert. Ich bin in Flandern verwundet worden, man hat mich mit dem eisernen Kreuz ausgezeichnet. Ich möchte den Deutschen sehen, der mir ein Leid antun könnte
. Das war immer wieder seine Antwort. Und es schien auch so, als sollte er Recht behalten. Der Freundeskreis Roos und meine Mutter unterstützten die Familie, wo sie konnten.
Doch dann kam ein Morgen im Februar 1941. Um fünf Uhr hörten die Nachbarn, wie die Gestapo an die Tür polterte. Trotz großem Bemühen in der Nachkriegszeit, konnten meine Eltern und ich keine Spur mehr von den Rosenbaums finden. Es ist, als hätten sie nie gelebt.
MI6
Jetzt will ich die Geschichte von George M. Birks erzählen. Schon durch seine Gestalt machte er Eindruck. Über 2 Meter groß, riesige Schultern und durchtrainiert. Ein eckiges, typisch englisches Gesicht, leicht rötliches Haar, mit einem Blick, wie aus Stahl. Ein Mannsbild, von dem die Frauen in stillen Stunden träumen, überlebensgroß.
Mit 19 Jahren war er einer der ersten, der den Ärmelkanal durchschwamm. Er heuerte bei der Londoner Polizei an, lernte Boxen. Dann war ihm London zu langweilig. Er kündigte in London und versuchte sein Glück in Amerika.
Für J. Edgar Hoover und seine neugegründete FBI kam der Ex-Polizist aus London gerade recht.. Solche Leute wurden gebraucht.. Er wurde nach Chicago kommandiert und gelangte in die Truppe des Eliot Ness. Zwei Jahre gehörte er dort zum inneren Kreis um Elliot, den 11 Unbestechlichen. Die Taten des George kamen auch dem MI5 zu Ohren. Sie machten ihm ein Angebot, das er nicht ausschlagen konnte. Man holte ihn nach England zurück, wo er in zwei Jahren zum Geheimagenten ausgebildet wurde. Da er sich für Sprachen interessierte, hatte er leidlich Deutsch gelernt. Während der Ausbildung machte er mehrere Crash-Kurse, um Deutsch besser zu lernen. Als ich ihn nach dem Krieg kennenlernte, sprach er fast akzentlos Deutsch. Sein erster Auslandseinsatz brachte ihn nach Köln. Dort eröffnete er zuerst ein kleines Photogeschäft. Er engagierte eine deutsche Photographin, die ihm den Laden führte. Das brachte ihm später viel Ärger mit dem Führungsoffizier und der Zentrale ein. Denn zwischen der zierlichen Photographin und dem riesigen George entstand ein stürmisches Liebesverhältnis.
In Köln gab es einen 1906 gegründeten Sportclub, den S.C. Colonia 06. Der betrieb damals vorwiegend Leichtathletik. Als dann noch vor dem ersten Weltkrieg der Engländer Jack Slim nach Deutschland zog, konnte er in Köln Begeisterung für den Boxsport entfachen. Nach dem ersten Weltkrieg widmete sich der Verein ausschließlich dem Boxsport. Man konnte sagen, dass Köln das Zentrum für den Boxsport in Deutschland wurde. Bei den Trainingsmethoden spricht man heute noch von der Kölner Schule.
George wurde von diesem Verein als gelegentlicher Trainer engagiert. In dem S.C.Colonia 06 trainierte alles, was Rang und Namen in Deutschland hatte. So trainierte er fast ein Jahr lang auch das deutsche Boxwunder Max Schmeling.
In dieser Zeit, wollte er sein Lieschen heiraten. Es gab einen Sturm in London. Man drohte ihm mit Rauswurf, Verlust der Pension, sogar mit Verrat. George blieb standhaft. Sein Lieschen sei zuverlässig, zuverlässiger wie eine Engländerin. Er setzte sich durch und heiratete in Köln die junge Deutsche.
Die schlimmen Drohungen machten seine Bosse nicht wahr. Aber man versetzte ihn kurzerhand nach Wiesbaden. Auch hier eröffnete er ein kleines Photogeschäft. In Wiesbaden war ein einigermaßen annehmbarer Boxclub nirgendwo in Sicht.
Da setzte der Schorsch, wie er in Wiesbaden genannt wurde, auf ein anderes Hobby. Er war ein leidenschaftlicher Schachspieler. Und so tauchte er eines Tages in der Schachrunde im Café Maldaner auf. Hier lernte ihn mein Vater kennen. Die beiden unternahmen viel zusammen. Sie fuhren zu Weinproben in den Rheingau zu bekannten und weniger bekannten Weingütern. Die zwei Güter, die immer wieder besucht wurden, waren das Schloss Vollrads des Grafen Matuschka- Greiffenclau und die Winzerfamilie Rammersbach in Geisenheim. Beide Weingüter existieren nicht mehr. Das älteste Weingut Deutschlands wurde von der Nassauischen Landesbank an eine Heuschrecke verscherbelt. Die Familie