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Die zweite Fremde: Zehn jüdische Lebensbilder
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Die zweite Fremde: Zehn jüdische Lebensbilder
eBook183 Seiten1 Stunde

Die zweite Fremde: Zehn jüdische Lebensbilder

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Über dieses E-Book

Zehn Menschen, die in den Märztagen 1938 aus Innsbruck und Wien fliehen mussten, die aus ihrer Kindheit vertrieben wurden, aus einem Leben, für das sie Träume und Pläne hatten. Um in ihren Fluchtländern England und Israel Fuß zu fassen, galt es, ihre Muttersprache zu verdrängen, auch zu verheimlichen, denn Deutsch war die Sprache der Täter. So wurde ihnen die Fremde zur neuen Heimat, die alte Heimat zur zweiten Fremde.
Christoph W. Bauer ist ihren Lebenswegen bis in die Gegenwart herauf nachgegangen. Ausgehend von seinen Begegnungen und Gesprächen in England und Israel sind zehn Porträts entstanden, die zu einer Geschichte über Heimat, Entfremdung und Erinnerung zusammenfinden. In bewegenden Bildern erzählen sie von Abschied und Flucht, aber auch vom Leben danach und dem Blick aus der Ferne auf die ehemalige Heimat. Dabei lässt Bauer die Vertriebenen selbst zu Wort kommen, authentisch, ganz im Jetzt verwurzelt ? so ist es eine Reise nicht nur in die Vergangenheit, sondern vor allem auch durch die Gegenwart.
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum30. Juli 2013
ISBN9783709971215
Die zweite Fremde: Zehn jüdische Lebensbilder

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    Buchvorschau

    Die zweite Fremde - Christoph W. Bauer

    Gegenwart.

    Schnee, der

    alles zudeckt

    Bei Vera Adams

    in Plymouth

    „An das erinnere ich mich jetzt: Ich habe gehört, dass man mich auf einem Schlitten nach Hause gebracht hat, in die Maria-Theresien-Straße." Vera Adams schaut auf, in ihrem aufgeweckten Blick plötzlich noch mehr Lebendigkeit. Sie mag die kalte Jahreszeit, den Schnee. An dem litt Innsbruck im Dezember 1929 keinen Mangel und viele befürchteten einen ähnlich strengen und lawinenreichen Winter wie im Vorjahr. Da hatte die Kälte die städtischen Wasserleitungen zum Bersten gebracht, öffentliche Brunnen waren eingefroren wie Bäche und Flüsse, der Inn, die Donau ebenso, sie war von der Wachau bis nach Hainburg von einer durchgängigen, fast fünfzig Zentimeter dicken Eisschicht überzogen. Österreichweit waren die Temperaturen auf minus zwanzig Grad und tiefer gefallen, in Innsbruck an manchen Tagen auf bis zu dreißig Grad unter null. Das wäre wohl selbst Vera Adams zu frostig. Und ihr Mann Kenneth kann auf den Winter ohnehin verzichten. Im März 2010 waren die beiden zuletzt in Innsbruck, bei der Wiedereröffnung des Kaufhaus Tyrol, das im Bereich der Fußgängerzone in der Maria-Theresien-Straße Touristen wie Heimischen ein Blickfang ist. Für die Neugestaltung zeichnet der englische Architekt David Chipperfield verantwortlich, er hat sich mit seinen Bauten aus Beton und Glas vor allem in Japan und Deutschland einen Namen gemacht. Der einstige Gebäudekomplex wurde 2007 abgerissen, an seine Existenz erinnert immerhin eine Gedenktafel im Erdgeschoß, rechter Hand gleich nach dem Haupteingang, sehen werden sie nicht viele. Der von der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg verfasste Text lautet:

    An dieser Stelle befand sich das 1908 gegründete Warenhaus „Bauer und Schwarz, das 1938 arisiert wurde und von 1966 bis 2007 als „Kaufhaus Tyrol weiterbestand. Die Familien Bauer und Schwarz waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Innsbruck ansässige jüdische Kaufmannsfamilien, die mit dem Bau ihres Warenhauses das erste moderne Großkaufhaus Westösterreichs schufen. Das Warenhaus überstand die Herausforderungen des Ersten Weltkriegs, der Weltwirtschaftskrise und der Inflationszeit. Das Ende der langen jüdischen Kaufmannstradition erfolgte 1938 mit dem „Anschluss". Die Mitglieder der beiden großen Familien wurden verfolgt, vertrieben und einige von ihnen ermordet.

    Steht man in einem der Obergeschoße des neugestalteten Kaufhauses, kann man in westlicher Richtung die Anichstraße hinabsehen, an deren Ende sich die Innsbrucker Universitätsklinik befindet. Dort wird Vera Adams am 16. Dezember 1929 als Tochter von Helene und Ernst Schwarz geboren. Just am Tag ihrer Geburt beginnt es in den Nachmittagsstunden zu schneien, bald sind die Straßen der Stadt weiße Bänder und für Automobile unpassierbar. Also geht’s auf Kufen in die Maria-Theresien-Straße zurück, „wir haben eine sehr schöne Wohnung gehabt, direkt über dem Warenhaus in der obersten Etage." Dort wächst sie mit ihrem um drei Jahre älteren Bruder Karl-Heinz in Verhältnissen auf, die dem bürgerlichen Habitus entsprechen. Auf Bildung wird viel Wert gelegt, auf gute Ausdrucksformen, sie sind die Ingredienzien vorzeigbaren Lebensstils. Zu dem passt eine Fotografie der Mutter am Grand Piano zwar weit besser als die Tatsache, dass Helene Schwarz die Familie 1935 verlässt, um mit einem anderen Mann zusammenzuleben. Das aber erwähnt Vera Adams so beiläufig wie die Vorliebe ihres Vaters für die Lieder von Franz Schubert und Hugo Wolf. Es ist nicht Distanz zu ihren Eltern, sondern zu einem Leben, unter das sie einen Schlussstrich gezogen hat. Und ziehen musste.

    Eingeschoßige Häuser, Ziegelfassaden, grau wie der Himmel, der zu Phrasen verführt. Elburton, am Stadtrand von Plymouth, ist so trostlos wie jeder andere Ort bei Regenwetter. Dennoch, als Vera Adams auf Krücken gestützt vors Haus tritt, vermag nur ihr Blick die plötzlich drückende Stimmung zu verscheuchen. Als wollten ihre Augen alles vertreiben, was der Lebensfreude zuwiderläuft.

    Für Letztere weiß Elburton durchaus zu sorgen, man trifft sich in The Elburton Inn oder in The Ships Tavern, einem Pub, untergebracht in einem Haus aus dem späten 16. Jahrhundert, das einst eine eigene Cider-Presse beherbergte. Der nahe Park, benannt nach King George V, lädt zu Spaziergängen ein, im kaum fünfzehn Minuten entfernten Plymouth ist das National Marine Aquarium zu besichtigen, eines der größten seiner Art. Einer der beliebtesten Treffpunkte der Stadt ist The Hoe, ein Hügel, der einen schönen Ausblick auf den Hafen ermöglicht. Dort lief 1620 die Mayflower aus zu ihrer Fahrt nach Amerika. Auch soll auf The Hoe Francis Drake noch seine Partie Bowls fertiggespielt haben, ehe er gegen die anrückende spanische Armada in den Kampf zog. Vermutlich würde sich Vera Adams lieber über solche Dinge unterhalten, Gesprächen über die Vergangenheit geht sie aus dem Weg, sich selbst ebenso, wäre als Behauptung naheliegend, indes nicht ganz zutreffend. Zum einen erinnert sie sich an wenig, zum anderen ist da eben diese Lebensfreude, die dem Gedächtnis einen Riegel vorschiebt. Das baut Brücken über Abgründe und Teile der Vergangenheit werden zum blinden Fleck. Der erstreckt sich über ihre Kindheit, die Tage der Flucht –

    Sich über ernste Themen Gedanken zu machen, entspreche nicht ihrem Naturell, sie krame nicht in sich herum, sie denke positiv. Sie sei anders als ihr Vater, betont sie mehrmals.

    „Ich führe ein nervöses unbefriedigendes Leben. Ich bin nicht in Innsbruck und bin noch nicht in England. Die politische Lage ist wieder äußerst angespannt. Es besteht große Kriegsgefahr. Den Krieg und den Zusammenbruch möchte ich gerne irgendwo anders erleben. Hier nicht. Ich bin von Hass und Verachtung erfüllt, notiert Ernst Schwarz in sein Tagebuch. Ein einzigartiges Dokument, das die Angst spürbar werden lässt, die in den Märztagen 1938 die Innsbrucker Jüdinnen und Juden erfasste. „Heute sind braune Horden durch die Stadt gezogen und sangen: Hängts die Juden, stellts die Schwarz an die Wand!

    Vera Adams’ Großeltern Victor und Rosa Schwarz mit ihren zehn Kindern 1904. 1. Reihe v.l.n.r.: Theodor, Susanne, Rosa, Regina, Hedwig, Kurt; 2. Reihe, stehend v.l.n.r.: Josef, Richard, Victor, Ida, Walter, Ernst

    Eingeschüchtert und verbittert, Ernst Schwarz wird ein Gedanke zum Anker: Die Kinder müssen außer Landes gebracht werden, rasch. Und so bemüht er sich um die nötigen Dokumente, im Juli 1938 erhält er einen Pass für Karl-Heinz, der Freude darüber folgt die Verzweiflung: „Meine Stimmung ist seit Tagen entsetzlich. Mit Veraleins Pass geht es einfach nicht vorwärts. Nun warte ich schon fünf Wochen und nun soll er erst nach Wien gehen. Wie man uns quält!"

    Endlich trifft auch Veras Pass ein, am 11. August 1938. Neunzehn Tage später kommen die Geschwister mit einem Kindertransport in England an.

    Für die Ankunft hat Vera Adams keine Bilder, weiß, dass die Quäker die Flucht ermöglichten und sich zunächst auch in England um sie kümmerten. Später kommt sie zu einem kinderlosen älteren Ehepaar, gut habe sie es dort gehabt. „Aber ich kann mich auch erinnern, dass sie auf der Straße gegangen sind und zu den Leuten gesagt haben: This is our little refugee girl. Die drei leben an der Südküste, aus Angst vor der drohenden deutschen Invasion wird Vera Adams jedoch bald zu einer anderen Familie in Englands Norden geschickt. Kaum hat sie sich ein wenig eingewöhnt, muss sie weiter. „Die dritte Familie, sagt sie, habe sie adoptieren wollen. „Doch mein Vater war dagegen. Und dann bin ich in ein Internat gekommen." Dort bleibt sie bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr, rückblickend keine schlechte Zeit, eine gute aber auch nicht, am schönsten allemal die Ferien, in denen sie Verwandte in Manchester besuchen konnte.

    Von ihrem Bruder wurde sie gleich nach der Ankunft in England getrennt. Ihren Vater sieht sie erst Monate später wieder. Ernst Schwarz wurde im Oktober 1938 inhaftiert, nach seiner Freilassung im März 1939 gab es für ihn nur noch ein Ziel: zu den Kindern, nach England. Ende März gelang ihm die Flucht. Noch im Juli des Vorjahrs notierte er: „Wenn ich nach England gehen sollte, bin ich doch ein Fremder. Als einer jener Menschen fühlte er sich, „die man in ihrer Heimat nicht wollte, weil sie dort als Schädlinge angesehen werden. Ähnlich empfand sein Bruder Richard Schwarz: „Wer noch nicht aus seiner Heimat als Bettler schuldlos verstoßen wurde, kann das doch nie und nimmer erfassen."

    Nach Schulabschluss und Internatszeit will Vera Adams an die Universität. „Aber mein Vater hat gesagt, er könne sich das nicht leisten und ich wolle mich ohnehin nur amüsieren. Ich war eben nicht akademisch inkliniert. Sie lacht kurz auf, der Schalk in ihren Augen unübersehbar. Da aus einem Studium nichts werden soll, sie Sprachen mag und gern mit Menschen zusammen ist, entscheidet sich Vera Adams für das Hotelfach. Sie besucht eine Schule im Schweizerischen Neuchâtel, um sich Französischkenntnisse anzueignen. „In der Schule gab es eine große Feindschaft zwischen den Deutschsprechenden und den Französischsprechenden – und ich war englischsprechend.

    In der Schweiz ist ihre beste Freundin eine Kanadierin. Einmal reisen die beiden nach Frankreich, an der Grenze stoßen sie auf Probleme. Ihre Freundin

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