Die Republik Nizon: Eine Biographie in Gesprächen, geführt mit Philippe Derivière
Von Paul Nizon und Christoph W. Bauer
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Über dieses E-Book
Als einer der großen europäischen Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur lebt Paul Nizon heute zurückgezogen in Paris. Canetti war sein Trauzeuge, Siegfried Unseld sein Verleger, Frisch und Dürrenmatt seine Freunde, Bachmann, Grass, Handke und Bernhard Autorenkollegen auf Augenhöhe. Mit seinem zweiten Buch "Canto" gastierte er bei der Gruppe 47, sein Roman "Das Jahr der Liebe" wurde in Frankreich als bestes fremdsprachiges Buch ausgezeichnet. Diese Biographie in Gesprächen erlaubt einen tiefgehenden Einblick in sein Leben, das er bedingungslos in sein Schreiben investiert hat.
DIE WELT EINES MANISCHEN SCHREIBKÜNSTLERS, ERKUNDET IM INTIMEN GESPRÄCH
Paul Nizons Bücher handeln vom Kampf des Schriftstellers um den Roman, von totalem Einsatz, vollständiger Einsamkeit, vom Überdauern und Resistieren. Sie handeln von Körperlichkeit, Erotik, Passionen, sie jagen dem Atem des Lebens und dem Glück nach.
Ist man zu Gast in der "Republik Nizon", taucht man ein in die Welt eines manischen Schreibkünstlers, der seinen Lebensmittelpunkt seit vier Jahrzehnten in Paris hat, der Stadt der Dichter. Dabei treten bislang unbekannte Facetten im Leben und Schaffen von Nizon zutage, den Le Monde den "Verzauberer, den zur Zeit größten Magier der deutschen Sprache" genannt hat.
PERSÖNLICHE BEGEGNUNGEN IN PARIS IM NACHWORT VON CHRISTOPH W. BAUER
In seinem persönlich gehaltenen Nachwort erzählt der Lyriker und Romancier Christoph W. Bauer von seinen Treffen mit Paul Nizon im Paris der Gegenwart - und vom Kennenlernen eines Solitärs in der deutschsprachigen Literatur.
Die Gespräche für "Die Republik Nizon" führte der belgische Journalist Philippe Derivière, die Übersetzung besorgte Erich Wolfgang Skwara.
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Buchvorschau
Die Republik Nizon - Paul Nizon
Paul Nizon
Die Republik Nizon
Eine Biographie in Gesprächen
geführt mit Philippe Derivière, aus dem
Französischen übertragen von Erich Wolfgang Skwara,
mit einem Nachwort von Christoph W. Bauer
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Die Republik Nizon
Die Erfindung des Ich
Das Glück, am Leben zu sein
Die Kindheit
Hochstaplertum
Das Exil
Stadt, Sexus
Das Leben ist zu gewinnen oder zu verlieren
Die Literatur
Canto
Aktionsprosa
Der Bewusstseinsstrom
Sehen lernen
Im Hause enden die Geschichten
Vater
Mutter
Auf der Straße
Lesen
Das Buch
Untertauchen
Eine Liebe
Stolz
Eine Liebesvergiftung
Autofiktion
Überleben
Schreiben
Kunstkritiker
Gegen die Schweiz
Widerstand leisten
Im Bauch des Wals
Leben schaffen
Hund
Reisen, verweilen
Alltag, ein Tag
Das Journal
Der Roman des Lebens
Das Schreiben im Gehen
Salve Maria
Notizen eines Streuners von Christoph W. Bauer
Chronologie zur Biographie
Paul Nizon
Zum Autor
Impressum
Woraus ich gemacht bin
Aus bernischem Stein und dem ländlich Schönen von damals. Aus der Anschauung kleinbürgerlicher Magermilch und früher Lebensenttäuschung. Aus russischer Seele. Aus deutschem Idealismus und deutscher Romantik. Aus der Hetäre Rom und der Pariser Kurtisane. Aus dem Beispiel des Boxers und Soldaten. Aus der Überheblichkeit des eingeborenen, doch nie erreichten Schöpfertums. Aus Bewaffnung und Entwaffnung. Aus meinen Hunden. Von daher eine lebenslange Intoxikation von einem anderen Leben. Künstlerleben. Eine Tendenz zum Höchsten und Niedrigsten. Ein Gemisch aus Verlorenem Sohn, demobilisiertem Soldaten, Partisan und Strolch. Hochmut und Demut. Marschieren. Durchhalten.
Mein Vater kam aus Rußland, meine Mutter war Bernerin. Eine Tante und eine Großtante lebten in Paris. Meine Schwester ist durch Heirat Italienerin geworden. Ich wuchs in Bern unter italienischen und spanischen Kindern auf. Ich hatte eine Deutsche, eine Schweizerin und eine Französin zur Frau. Meine Kinder stammen von einer deutschen und einer französischen Mutter.
Meine Tochter ist vor Jahren aus San Francisco in die Schweiz zurückgekehrt, mit einem amerikanischen Ehemann russischer Herkunft, aus Odessa, genauer gesagt, nicht schlecht – die Kreise schließen sich; in erster Ehe war sie mit einem Engländer verheiratet und lebte in London. Wo sich die Gräber meiner russischen Großeltern befinden.
Ich selber verstehe mich als Pariser Schriftsteller deutscher Sprache mit Schweizer Paß.
Aber im Grunde gehöre ich einfach der Republik Nizon an – irgendwie habe ich mich immer ein wenig als ein nicht ganz Dazugehöriger, wenn nicht Paria gefühlt. Ich will damit sagen, daß ich meine eigene Erfindung bin; obwohl ich für Familien, die in einem altehrwürdigen Herkommen verankert sind, durchaus etwas übrig habe.
In Amerika und insbesondere in den tropischen Gebieten des Fernen Ostens, wo eine (alles vereinnahmende) Natur ohne Gedächtnis herrscht und keine Trottoirs anzutreffen sind, keine Cafés, kein Asphalt, wenig Verlockung zum Spazieren und Flanieren, habe ich mich als (nostalgischen) Europäer empfunden.
Das werdende Europa heute? Ich fürchte die Einebnung, Gleichförmigkeit. Wie liebte ich es, Grenzen zu überschreiten, den Schlagbaum; wie liebte ich das dazugehörige Hochgefühl beim Eintauchen in das Andere, das sowohl fremdartig wie insgeheim vertraut schien. Doch Europa als Gegengewicht, nein, Abwehr des alles überschwemmenden amerikanischen Einflusses, das ja. Nur keine Normalisierung, kein Konformismus, kein Gesichtsverlust.
In Europa ist das Gedächtnis in den Stein eingeritzt, in den Stein der Stadt, und die Stadt ist als Unabhängigkeitserklärung gegen die Natur gesetzt und steht für Humanität.
Der Gedanke ist Widerschein von Pflaster und Asphalt.
Die wilde Natur mag den Entdeckungsreisenden und Pionier sowohl Verlockung wie Bedrohung gewesen sein, fürs Nachdenken aber muß man sich ihr widersetzen. In der Wildnis dröhnt das Tamtam, in der Stadt gedeiht das Gespräch. Doch überlebt die Natur in der Stadt durch den Sexus, ohne ihn wäre das Leben schal und tot. Und die Gedanken wären ohne die Sexualität bleichsüchtig.
Paul Nizon
Die Republik Nizon
Paul Nizon, der Schriftsteller, der Sie sind, definiert sich nicht nur durch seine Bücher, sondern auch durch die Wahl einer Lebensweise, von der insbesondere Ihre Journale reiches Zeugnis liefern. Im ersten, 1997 veröffentlichten Journalband mit dem Titel „Die Innenseite des Mantels erwähnen Sie oft Ihre Suche nach einer „poetischen Existenz
. Welchen Sinn darf man in diesem Wort sehen? Handelt es sich dabei um eine Definition Ihrer persönlichen Entwicklung?
Ich sehe im Schriftsteller tatsächlich einen Menschen, der ganz und gar in seiner Arbeit aufgeht und sich, ähnlich wie ein Entdeckungsreisender, auf eine langwierige Unternehmung einläßt. Seit ich mit dem Schreiben begonnen habe, bin ich fest überzeugt, daß es die Wirklichkeit nur dann gibt, wenn es mir gelingt, sie in Worte zu fassen. Es hat mir also nie genügt, über Erlebtes oder meine Vorstellungen nur zu reden, ich mußte darüber hinaus eine Form und Sprachstruktur finden, um diese Wirklichkeit neu zu erzeugen, weil sie andernfalls ungreifbar bleiben müßte. So hat das Schöpferische seit meinen Anfängen im Mittelpunkt meiner Interessen gestanden. Ich bin im Grunde seit jeher ein Sprachjäger gewesen. Und alles übrige, alle Werte, die das Leben der anderen lenken, blieben für mich von minderer Bedeutung.
Wäre das auch Ihre Methode, sich in eine Familie von Künstlern einzureihen?
Van Gogh oder Robert Walser etwa?
Richtig, es gibt diese beiden Vorbilder. Aber es gibt auch andere.
Van Gogh und Walser wurde beiden ein durch Einsamkeit und Armut bestimmtes, qualvolles Leben zuteil. Aber es gibt durchaus auch glückliche Künstler, die mit der Wirklichkeit zurechtkommen.
Das trifft auf die meisten Schriftsteller zu. Sie führen ihr Leben, haben eine Familie und sogar einen Beruf. Daneben schreiben sie Bücher, wie etwa Kafka als Jurist in einer Versicherungsfirma gearbeitet hat und nachts schrieb. Aber auch Kafka träumte davon, nur Schriftsteller zu sein und als Künstler zu leben. Am Ende seines Lebens ist es ihm dann auch gelungen. Für mich läßt sich das Leben als Schriftsteller nicht mit anderen Tätigkeiten vermengen. Auch wenn ich, was die meiste Zeit geschieht, nichts mache, läuft die Maschine ohne Unterlaß. Es gibt weder Ruhepausen noch Ferien. Im Grunde hätte es auch keinen Platz für eine Familie oder Menschenbeziehungen gegeben, weil diese Aufgabe wirklich alles beansprucht.
Und dennoch haben Sie eine Familie.
Ich habe eine Familie, aber bin möglicherweise Masochist. Meine gegenwärtige Ehefrau sagt oft: „Was erzählst du denn da, du bist drei Ehen eingegangen, du hast vier Kinder!" Es stimmt, daß ich nie lange allein gelebt habe, aber ich habe mich vor den Anforderungen meiner Umgebung immer zu schützen gewußt. Das ist ein Widerspruch meines Lebens, aber eine andere Geschichte. Mich erfüllt totaler Wille zur Unabhängigkeit, die es mir gestattet, mein Schreiben und meinen Lebenshunger zu schützen. Zugleich erwarte ich unaufhörlich die Liebe und bin ihr ausgeliefert.
Welchen Einfluß hatte Van Gogh auf Ihre Vorstellung vom Künstlertum?
Bedeutend an Van Goghs Persönlichkeit ist seine ausschließliche, brennende Hingabe an die Malerei, die sich vielleicht aus der kurzen Spanne Leben, die ihm gegeben war, erklären mag. Er hat sich wie eine Fackel abbrennen lassen. Meine Vorstellung eines Ateliers verdanke ich ein wenig ihm: keine Bequemlichkeit, keine Gegenstände, die zum Ausruhen oder zur Beschaulichkeit verführen, einzig und allein Objekte, die der Arbeit dienen. So bin ich mit meiner Ausstattung, die ich mein Frontmobiliar nenne, immer wieder umgezogen und habe alles von einem Atelier zum jeweils nächsten mitgeschleppt. Aber diese Vorstellung eines Ateliers verdanke ich auch meinem Vater. Unter den wenigen Erinnerungen an ihn, die mir geblieben sind, ist mir sein Labor besonders wichtig. Ein Labor, in das ein Mensch sich zurückzieht, um sich dort einer Aufgabe zu widmen, die der Schöpfung gleicht, aber die auch mit Chemie, Papier und Instrumenten verbunden ist. Auch Robert Walser hat sich immer in Mansarden verschanzt, wo er seine Sätze schuf. Seine Schriftstellertätigkeit setzte er dann auf langen Wanderungen fort, auf welchen er seine Gedanken spazieren führte. Man könnte gleichfalls Malcolm Lowry als Beispiel nennen, sein unfaßbares schöpferisches Ringen an Zufluchtsorten irgendwo in Kanada.
Das ist die Verlockung einer geschlossenen Welt, einer Welt außerhalb der unseren.
Es ist vor allem die Verlockung einer dem bürgerlichen Leben und seiner Werte entgegengesetzten Welt. Auch Hemingway führte diesen Kampf. Es stimmt, daß er reich war und Erfolg hatte. Aber wenn er von seiner Arbeit sprach, dann immer nur mit Kampfbezügen, als von einem Boxkampf.
Man hat Ihnen gelegentlich Ihren Ästhetizismus und Ihren Mangel an sozialem Engagement vorgeworfen. Dabei verweigern Sie eine gewisse Art bürgerlicher Existenz. Steckt Ihr Engagement nicht gerade darin?
Ja, absolut. Das Künstlerleben, das ich führe, ist eine Herausforderung, die wiederum ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit ist.
In „Die Innenseite des Mantels" spielen Sie in diesem Sinne gar auf einen Auftrag an. Sie sprechen von Ihrem Künstlerleben als einer poetischen Mission.
Dabei handelt es sich wieder um etwas anderes. Ich erkläre manchmal, daß ich als Schriftsteller geboren wurde. Meine Schwester und ich haben sehr früh gewußt, was wir tun wollten. Sie zog es zur Musik, mich zum Schreiben. Andere Interessen gab es für uns nicht. Ich hatte den Eindruck, gewissermaßen zum Schreiben vorbestimmt zu sein. Aber diese Vorstellung stand mir zu nahe an der Religion, deshalb habe ich sie nicht weiter verfolgt. Ein Auserwählter oder ein Verdammter, das ist ungefähr dasselbe. Zu einer einzigen Sache verdammt oder zu einer einzigen Sache berufen.
Das Gefühl des Erwähltseins steht der deutschen Romantik nahe. Sind Sie somit also auch ein Romantiker?
Ich glaube ja. Der Klassiker ist vielmehr Goethe.
Goethe, der Mensch im Besitz einer schönen Ausgeglichenheit, der auch nur auf dem Gipfel seiner Harmonie schreiben kann. Einer, der auch Ämter und Verantwortung im öffentlichen Leben übernimmt?
Was mich dazu verleitet hat, zu einem Wesen wie Van Gogh wahlverwandtschaftliche Nähe zu etablieren, ist seine Besessenheit, die Dinge um den Preis einer unerhörten Anstrengung lebendig zu machen. Hier stecken der Kampf und der Wahnsinn.
Wäre ein gewisser Wahn somit für das Schöpferische unentbehrlich?
Der Wahnsinn erlaubt ein Sich-Gehen-Lassen und ein Wühlen in den gefährlichen Schichten der Existenz, in den dunklen Bereichen. Um die Geister zu lenken, bedarf es aber auch der Disziplin und der intellektuellen Kontrolle, weil es nicht ohne Gefahr ist, die Verliese des Unterbewußten anzuzapfen.
In Ihrem Buch „Am Schreiben gehen" sagen Sie, daß Ihr Akzeptieren der Gefahr von einem Aufenthalt in Rom herrührt. Damals waren Sie dreißig, befanden sich in Rom und sind dort im wahrsten Sinne explodiert; in Ihrem Leben und in Ihrem Schreiben sind Sie explodiert.
Ja, in jenem Alter habe ich mit den bürgerlichen Werten gebrochen, die ich von meiner Erziehung und meiner Familie her bezogen hatte. Meine erste Ehe war in ihrer ganzen Stimmung noch von einem nahezu religiösen Idealismus geprägt gewesen.
Worin bestand jener Idealismus?
Ich idealisierte das Paarsein als etwas Ewiges in absoluter Treue.
Wenn man Ihr späteres Leben betrachtet, kann man sagen, daß Sie sich seit jener Zeit gewaltig verändert haben!
Nicht nur habe ich mich sehr verändert, ich verändere mich von einem Tag zum anderen. Was mein Schreiben anging, so habe ich auch während meiner ersten Ehe geschrieben, aber ohne es jemals wirklich zu schaffen. Ich war noch Student und verfaßte kleine Prosatexte, die etwas Idealisierendes hatten. Ich lebte in einem schrecklichen Zweifel, ich wußte nicht, ob ich Schriftsteller war. Trotzdem war das die einzige Sache, die mich ausfüllte, aber ich hatte nichts zu bieten, nicht die kleinste Erzählung, keinen Roman, kein Theaterstück. Als ich mein Studium beendet hatte, wurde ich Museumsassistent und Familienvater, und habe dann endlich mein erstes Buch veröffentlicht, „Die gleitenden Plätze", eine schon sehr persönliche, aber noch viel zu wohlwollende Prosa. Man kann es als Vorgeschmack