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Maïté
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Maïté
eBook536 Seiten7 Stunden

Maïté

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Über dieses E-Book

Ist Joseph Attinger, der im Nizza der 50er Jahre eine kärgliche Existenz als Zigarettenschmuggler fristet, in Wirklichkeit ein ehemaliger Wehrmachtsangehöriger, der während der Besetzung Frankreichs in den Tod der Résistance-Kämpferin Maïté Maconde verwickelt war? Ein dicklicher Engländer ist davon überzeugt und versucht mit allen Mitteln, den jungen Mann, der vor allem der Opiumpfeife und dem Jazz zugetan zu sein scheint, für seine undurchsichtigen Zwecke einzuspannen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum30. Nov. 2020
ISBN9783752923957
Maïté

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    Buchvorschau

    Maïté - Xaver Engelhard

    1

    Nizza

    Die Wintersaison war vorbei; der Sommer hatte noch nicht begonnen; und es regnete seit Tagen. Die braunen, aufgeregt schäumenden Wassermassen des Paillon schossen in der Kanalisation ungesehen der Baie des Anges entgegen. Ein dunkler Wind kam vom Meer her, zerrte an den Palmen der Uferpromenade und blies den Passanten in der rue Médecin ins Gesicht. Ein junger Mann, der den Schutz der Arkaden verlassen wollte, hielt mit der rechten Hand den Hut fest, der ihm zu groß war, umklammerte mit der linken den Kragen des Trenchcoats, in dessen Rücken ein Riss in Form eines Triangels klaffte, holte Luft, rannte auf die Straße, sprang über eine Pfütze voll schmutziger Wolken, landete auf einem der abgelaufenen Absätze seiner Schuhe und wich einem Citroën aus, der mit seinen gelblich glimmenden Scheinwerfern wirkte, als wäre er bereits in den Fluten versunken, die die Scheibenwischer noch hektisch winkend zu bekämpfen vorgaben. Der Mann erreichte die andere Straßenseite und das Café de la Paix, wo ihm ein Kellner, der unter dem Vordach des Eingangs eine Zigarette rauchte, mit ausdruckslosem Gesicht eine der beiden Schwingtüren aufhielt. Er schenkte dieser Geste keine Beachtung, strebte der Theke entgegen und gab dem dicken Wirt ein Zeichen, was dieser mit einem Nicken und dem Griff nach der offenen Flasche mit dem Fitou quittierte.

    Der Wirt stellte das gut gefüllte Glas auf eine Untertasse und schob diese wortlos über das Zinkblech. Der junge Mann nahm den Hut ab, schüttelte ihn aus und legte ihn neben sich auf einen Barhocker. Erste, wie mit einem Messer gezeichnete Falten liefen über das eigentlich unreife Gesicht. Der junge Mann strich das braune, halblange Haar, das ihm immer wieder ins Gesicht zu fallen drohte, nach hinten, nippte an dem Wein und sah sich mit einem herablassenden Lächeln in dem großen, kalten Raum um. Im Hintergrund drängten sich ein paar Stammgäste. Hoch über ihnen hingen ein blinder Spiegel und Stuckverzierungen, von denen die goldene Farbe blätterte. Der Marmorboden war schmutzig und der Abstand zwischen den Tischen weit.

    „Mistwetter, was?", stellte plötzlich jemand in dem geübten Französisch eines englischen expats fest, dem sein grausiger Akzent völlig egal ist, so lange er sich nur verständlich machen kann.

    Der junge Mann warf unwillkürlich einen kurzen Blick zur Seite. Der Engländer hatte einen bulligen Körper und rotes, wirres Haar. Er stopfte sich eine Pfeife. Er trug eine Tweed-Jacke und eine Tweed-Hose, die Füße steckten aber nackt in Sandalen.

    „Kriegen Sie Heimweh?" Der junge Mann wandte sich wieder seinem Glas zu, betrachtete es einen Augenblick lang, leerte es mit einer raschen Bewegung und signalisierte dem Wirt, dass er ihm nachschenken solle.

    „Wenn, dann sicher nicht nach England! Ich bin ursprünglich nicht von dort, und ich habe mich an den dauernden Regen nie gewöhnen können." Der Rothaarige schüttelte versonnen den Kopf.

    „Dann kehren Sie am besten dahin zurück, wo Sie ursprünglich herkommen! Der junge Mann verdrehte die Augen. Seine Haut war grau wie von einem Leben ohne Schlaf und ohne Licht. „Wo immer das sein mag!

    „Vielleicht tue ich das ja bald. Aber vorher habe ich hier noch was zu erledigen! Und ich hoffe immer noch, dass Sie mir dabei helfen." Der Engländer steckte sich die Pfeife in den Mund und wühlte in den Taschen seiner ausgebeulten Hose nach Streichhölzern.

    „Dann sind Sie ein Narr!"

    „Nicht sehr freundlich von Ihnen!" Der Engländer kicherte. Unterdessen war es ihm gelungen, seine Bruyère in Brand zu setzen. „Aber Sie zeichnen sich ja überhaupt durch eine etwas rüde Umgangsart aus, mein lieber Joseph. Manchmal habe ich den Eindruck, Sie wollen Nizza ganz für sich allein haben." Er gewann die Aufmerksamkeit des Wirts und bestellte einen Pastis.

    „Vielleicht", brummte Joseph, ohne den Engländer anzusehen. „Aber gegen die alten Tanten im Negresco ist leider kein Kraut gewachsen!"

    „Zu denen zählen Sie doch hoffentlich nicht mich, nur weil ich zufällig auch dort wohne? Der Engländer lächelte gutmütig, sah sich nach einem Aschenbecher für sein abgebranntes Streichholz um und ließ es dann einfach zu den Zigarettenkippen und zusammengeknüllten Papierservietten auf den Boden fallen „Ansonsten ist Ihre Bemerkung natürlich sehr treffend. Die Damen sind unverwüstlich. In Gin konserviert! Er füllte Wasser in das Glas mit gelblicher Flüssigkeit, das der Wirt vor ihm abgestellt hatte, hob es hoch, rief fröhlich Santé! und trank einen Schluck. „Sagen Sie, Sie haben doch nichts gegen mich, oder?"

    „Offensichtlich nichts, was wirkt!"

    „Haha, sehr witzig! Aber im Ernst: Ich bin Ihnen doch nicht irgendwie zu nahe getreten?"

    „Das können Sie gar nicht."

    „Schauen Sie, schon wieder so eine verletzende Äußerung! Glauben Sie bloß nicht, dass Sie mich auf diese Weise loswerden! Ich bin hartnäckig."

    Joseph zuckte mit einer Schulter.

    „Und keine Angst: Ihre kleinen Verstöße gegen die Zollgesetze interessieren mich nicht. Und auch nicht Ihre Schwäche für Betäubungsmittel!"

    „Keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen! Joseph rieb sich mit einer Schuhspitze den Unterschenkel und sah zu, wie der Wirt sein Glas erneut füllte und eine zweite Untertasse auf die erste legte. „Wie Sie sehen, halte ich es mit dem Fitou.

    „Natürlich!" Der Engländer nippte an seinem Pastis und schmatzte mit dicken Lippen. Sein Gesicht war rosig und hatte helle, fast farblose Brauen, Wimpern und Koteletten. Es war ohne Arg wie das eines Säuglings.

    „Ich verstehe immer noch nicht, was Sie von mir wollen, stieß Joseph gepresst hervor. „Es gibt hier Tausende von Menschen, die wesentlich interessanter sind als ich. Er musterte den Engländer kurz und wandte sich wieder dem Glas zu, über dem er gebrütet hatte.

    „Jaja, und es dauert keine fünf Minuten, da haben sie einem erzählt, wie toll sie sind, all diese ehemaligen russischen Fürsten und zukünftigen ägyptischen Könige. Sie dagegen erzählen überhaupt nichts. Liegt es vielleicht daran, dass Sie Deutscher sind? Schämen Sie sich für den Krieg oder doch nur für die Niederlage?"

    „Ich bin kein Deutscher", erklärte Joseph mit Nachdruck, und sein Französisch, das pointu war wie das der Pariser, schien seine Behauptung zu bestätigen. „Und ich bin weder ein Prinz noch ein Fürst."

    „Aber Sie gehen wie diese keiner geregelten Arbeit nach und fangen schon früh am Tag mit dem Trinken an!"

    „Sie etwa nicht?" Joseph warf dem Engländer einen verächtlichen Blick zu.

    Touché! Und ich verfüge noch nicht einmal über ein Talent, mit dem ich solchen Müßiggang rechtfertigen könnte!"

    „Sie haben immerhin ein dickes Fell."

    „Ich meinte künstlerische Fähigkeiten."

    „Über die verfüge ich auch nicht."

    „Nein?"

    „Nein!"

    „Aber Sie sind doch Maler!"

    „Bin ich nicht."

    „Jussuf sagt …"

    „Jussuf ist ein Schwätzer."

    „Unter anderem!"

    „Unter anderem!", gestand Joseph zu und trank wieder einen Schluck.

    „Es heißt, er habe früher in Paris gearbeitet. Während der Okkupation!"

    „Wenn Sie das sagen …" Joseph blickte betont gelangweilt zur anderen Seite.

    „Und dass Sie auch dort gewesen seien!"

    „So, heißt es das? Joseph leerte sein Glas und signalisierte dem Wirt, dass er zahlen wolle. „Davon weiß ich nichts.

    „Wissen Sie nicht oder wollen Sie nicht wissen?"

    Joseph zögerte, als denke er nach. Sein Blick fiel auf einen Pudel, der einen Überwurf aus glänzendem Kunstleder trug und sein Herrchen an der Leine nach draußen zerrte.

    „Warum sagen Sie nicht einfach, worauf Sie hinaus wollen, anstatt immer nur belanglose Andeutungen zu machen?" Josephs Ton wurde schärfer.

    „Ich bin Geschäftsmann. Der Engländer lächelte freundlich. „Ich bin im Menschengeschäft.

    „So viel Zeit, wie Sie damit verschwenden, mir auf die Nerven zu gehen, kann es Sie nicht all zu sehr in Anspruch nehmen, dieses Menschengeschäft."

    „Oh, Sie missverstehen mich! Ich bin geschäftlich hier."

    „Sie wollen mich kaufen?" Joseph musterte den Engländer zum ersten Mal mit einem Anflug von Interesse. Die braunen Augen waren für einen Moment erwacht und wirkten wie von einem eigenen Leben erfüllt.

    „So ungefähr! Falls Sie der Maler Josef Attinger aus Paris sind!"

    Josephs Interesse erlosch sofort wieder. Er fischte nach ein paar Münzen in seiner Hose.

    „Tut mir leid, aber da müssen Sie mich mit jemandem verwechseln. Ich heiße nicht Attinger, und ich stehe ganz bestimmt nicht zum Verkauf." Joseph warf einen kurzen Blick auf die Münzen, schlug sie mit der flachen Hand auf die Theke, setzte sich den Hut auf und ging grußlos zur Tür.

    „Aber Sie sind Maler, und Sie haben in Paris gelebt!" Der Engländer kippte den Rest des Pastis hinunter und drehte sich mit einem breiten Grinsen um. Joseph war nicht mehr zu sehen, denn draußen herrschte bereits Dunkelheit und auf den Fensterscheiben spiegelte sich das Innere des Cafés mit seiner Theke, seinen Stühlen und seinen Gästen. Zwei junge Männer kamen herein, die Krägen hochgeschlagen, die Haartollen voll Pomade; und durch die offene Tür wehte kurz der Geruch nach Regen, wehten die vielfältigen Aromen, die der Regen löste und die in ihm gelöst durch die Stadt trieben und sie aus einer sonnigen Bühne für Ganoven, Filmproduzenten, Touristen, Selbstdarsteller, Nudisten, Spieler, Playboys und Verzweifelte jeder Couleur wieder in das verwandelten, was sie Jahrtausende lang gewesen war: eine alte Stadt am Meer, die nach Fisch roch, faulem Holz und Apfelsinenschalen, nach Brackwasser, verschwitzten Laken und parfümierten Kissen, nach ranzigem Olivenöl und schwerem Diesel, nach Lavendelwasser, Rosenblüten, Mimosen, Tamarinden, Tang, Miesmuscheln und Ebbe und Flut.


    Laute Musik und warme Luft, deren Sauerstoff zu Zigarettenqualm verbrannt war, schlugen Joseph entgegen, als er sich vorsichtig die Treppe des Kellerlokals hinab tastete. Er schlüpfte durch einen Vorhang; und ein frenetisches Solo wie von Charlie Parker zerrte an seinem Herz. Auf der Bühne rang ein bleicher Mann mit seinem Saxophon, als wäre es eine metallisch glänzende Schlange, die sich seinen Händen zu entwinden und ihn zu erwürgen versuchte und ihm dabei ekstatische Todesschreie abpresste. Ein kleiner, dicker Marokkaner mit einem Fez auf dem Kopf löste sich von der Theke, kam Joseph entgegen und küsste ihn auf beide Wangen.

    „Tintin ist groß in Fahrt." Joseph blickte über den Marokkaner hinweg zur Bühne, wo sich Bass und Schlagzeug darauf vorbereiteten, in den Chorus einzustimmen.

    „Wenn er so weiter macht, vertreibt er auch noch die letzten Gäste." Der Marokkaner drehte sich kurz um und nickte mit einem traurigen Lächeln.

    „Er weiß von Dingen, von denen wir nicht einmal ahnen."

    „Schon, aber er benimmt sich dabei wie ein Derwisch und verwandelt meinen kleinen Laden in einen Tempel! Ich mag das nicht. Es macht mich verlegen, Geld verdienen zu wollen an so einem heiligen Ort." Der Marokkaner zwinkerte Joseph zu.

    „Er ist nicht Django, so viel steht fest."

    „Nein, ist er nicht. Aber das hier ist auch nicht Paris! Der Marokkaner seufzte mit gespielter Wehmut. „Und wir sind auch keine Zwanzig mehr. Er ließ wie Joseph den Blick durch den dunklen Raum schweifen.

    Vorne, dicht an der Bühne, saßen Tintins Freunde, die jedes seiner Soli bejubelten. Links, wo es eine Reihe durch gusseiserne Säulen voneinander getrennte Abteile gab, hockten ein paar junge Mitglieder der angelsächsischen Kolonie. Drei tief gebräunte Ehepaare mittleren Alters – den weißen und dunkelblauen Schuhen mit Kreppsohlen nach zu schließen stammten sie von einer Yacht im Hafen – tranken eifrig in der Hoffnung, irgendwann Gefallen an dem Gequietsche und Gekreische auf der Bühne zu entwickeln oder wenigstens dagegen immun zu werden. An dem Tisch daneben saßen drei amerikanische Matrosen der 6. Flotte, denen es in Villefrance zu langweilig geworden war. Sie hatten ihre weißen Käppis keck nach vorne in die Stirn geschoben und scherzten lautstark mit dem Zigarettenmädchen, wofür ihnen die Jazz-Fraktion vorne an der Bühne unter den Baskenmützen hervor böse Blicke zuwarf.

    „Ich brauche einen Vorschuss", zischte Joseph so leise, dass er wegen der Musik fast nicht zu verstehen war.

    Der Marokkaner reagierte nicht. Erst als Joseph ansetzte, seine Forderung zu wiederholen, drehte er sich um.

    „Was ist mit dem chinesischen Drachen?, fragte er wütend. „Warum bittest du nicht die um ein bisschen Geld?

    „Weil ich nicht für sie arbeite! Und weil sie nicht meine Freundin ist!"

    „Natürlich arbeitest du für sie! Du arbeitest nur noch für sie und ihre parfümierten Träume. Und Freunde hast du eh keine mehr, sonst würdest du deren Rat annehmen und endlich mit dem Mist aufhören."

    „Ich brauche keine Moralpredigt, ich brauche Geld. Joseph stöhnte. „Ein fetter Engländer verfolgt mich seit Tagen. Er weiß von dir. Er weiß alles. Fast alles! Er regt mich auf.

    „Ein Engländer? Der Marokkaner zwirbelte seinen kleinen Kinnbart. „Was will er von dir? Deinen dürren Arsch?

    „Ich weiß es nicht." Joseph schüttelte den Kopf.

    „Weiß er von den Zigaretten?"

    „Ich glaube schon. Er hat aber betont, dass es ihm egal ist."

    Merde! Bestimmt gehört er zu Santini. Halt die Augen auf und find heraus, um was es geht!"

    „Aber ich brauch Geld! Ich bin mit den Nerven am Ende."

    „Und wovon willst du in einer Woche leben, wenn ich dir jetzt einen Vorschuss gebe? Nein nein, da mach ich nicht mehr mit. Ich hab dir gesagt, du sollst wieder malen. Deine Enten waren nicht schlecht. So was geht immer. Gerade hier, am Wasser, mit all den Touristen!"

    „Und ich hab dir gesagt, dass ich nicht kann! Ich versuch’s, aber es geht nicht mehr."

    „Dann lass mich in Zukunft aus dem Spiel! Ich hab dich nicht aus Paris gerettet, damit ich dir hier das Gift finanzier, an dem du krepierst."

    „Es ist kein Gift, sondern Medizin!, flüsterte Joseph beschwörend. „Ich schlafe seit Jahren nicht mehr. Wenn man erlebt hat, was ich erlebt habe, ist es das einzige, was noch hilft.

    „Wenn man erlebt hat, was du erlebt hast?!, äffte ihn der Marokkaner höhnisch nach. „Was in Paris passiert ist, hast du allein deiner Dummheit zu verdanken. Es war die gerechte Strafe, mehr nicht. Ich habe Verwandte, die waren im Lager und haben tausendmal Schlimmeres durchgemacht und stellen sich nicht so an.

    „Ich war auch … Joseph brach mit einem Seufzer ab. „Es kann dir doch egal sein, was ich treibe, solange ich dir deine Zigaretten an Land bringe.

    „Für das habe ich dich nicht gerettet." Der Marokkaner schüttelte störrisch den Kopf.

    „Ich wünschte, du hättest es nicht getan! Du hast mich von einer Hölle in die nächste befördert."

    „Wenn du meinst … Aber der chinesische Drache ist kein Ausweg!" Der Marokkaner drückte Joseph den Oberarm und watschelte zur Bar, wo er mit einer blonden Frau geplaudert hatte und die Eiswürfel in seinem Crème de Menthe beinahe ganz geschmolzen waren.


    Joseph merkte, dass Wasser durch ein Loch in der Sohle seines rechten Schuhs drang, und begann unwillkürlich zu humpeln. Die Büros und Geschäfte schlossen. Er ließ sich im Strom der Menschen treiben, der Ladenmädchen in den Röcken, die immer kürzer wurden und deren Säume bald die Knie überschreiten sollten, und der Aktentaschenträger, deren Sorgen die immer gleichen waren und von gelegentlichen Beförderungen nur auf ein höheres Niveau gehoben wurden. Er leistete sich für einen Augenblick die Illusion, er habe ein Ziel wie sie, gehe nach Hause, wo die Ehefrau mit dem Cassoulet wartete, oder treffe sich mit den Freunden vor dem Kino, wo der neue Cary Grant lief, bog dann aber ab, immer noch im Regen und ohne Schirm, trotzig fast wie ein Kind, dass die Eltern strafen will, indem es versucht, sich eine Lungenentzündung zu holen oder wenigstens einen Schnupfen, lief an St. Nicola vorbei, dessen schwarz berockter Priester mit dem Samthut auf dem Kopf langen Schrittes in den Schutz der Sakristei floh, und an zwei Obstkarren, deren nasse Früchte verlockend leuchteten, und schlug unwillkürlich den Weg zum Meer ein, als müsse er der Schwerkraft gehorchen wie das Wasser auch, das ihn im Straßengraben überholte, sich schäumend an den Gullys staute, auf die Straße und das Trottoir auswich und weiter floss, immer der Bucht entgegen und ihren Lichtern. Er wusste, er ergab sich, fühlte sich darin aber gerechtfertigt wie selten, denn er hatte die Nacht über mal wieder kein Auge zugemacht und den Tag im Halbdämmer der Schlaflosen verbracht.

    An der Wand der Bar blinkten Flipper-Automaten; an der Theke standen ein paar Jugendliche in Lederjacken, die die Fluppe im Mundwinkel trugen wie die Helden auf dem Filmplakat und hofften, ihre Mopeds würden auf die Mädchen wirken wie schwere Motorräder. Joseph winkte den Kellner hinter der Theke zu sich.

    „Ist der Zigeuner hier?"

    „Siehst du ihn?" Der Barkeeper schaute nicht auf, sondern tat, als erfordere der Croque Monsieur, an dem er bastelte, seine ganze Aufmerksamkeit.

    „Nein. Deshalb frage ich ja!"

    Der Kellner überlegte kurz, ob er darauf die naheliegende Antwort geben sollte, entschied aber, dass es nicht lohnte. Es war zu offensichtlich, warum der Kerl nach dem Zigeuner fragte und warum er so blöd war. Er beobachtete es immer wieder. Zuerst gingen bei diesen Typen das Verständnis für Logik und der Sinn für Humor drauf, dann die Zähne.

    „Was willst du vom Zigeuner?", fragte er aus reiner Boshaftigkeit und schob das Sandwich in den Grill.

    „Ich muss ihn sprechen, das ist alles." Joseph wollte entspannt wirken und schaute durch die offenstehende Tür hinaus auf das Trottoir, wo zwei Mädchen in Petticoats die Köpfe unter einer Jacke zusammengesteckt hatten und derart geschützt auf eine Lücke im Verkehr warteten.

    „Er ist oben am Friedhof, heißt es." Der Kellner wandte sich, ohne Joseph eines weiteren Blicks zu würdigen, einem Gast zu, der ein Bier bestellte.

    Joseph nickte und kehrte hastig in den Regen zurück.


    Nachdem es schon den ganzen Tag über düster gewesen war, brach die Nacht fast unbemerkt an. Joseph überquerte den vollständig unter Asphalt und Steinen verborgenen Paillon, den statt der früheren Boote jetzt Autos befuhren, und tauchte in das Gewirr der Altstadtgassen, in das nur knatternde Mopeds einen Weg fanden, um dann an den vielen Treppen zu scheitern, die zu den höheren, an den Ausläufern des Schlossbergs gelegenen Häusern führten. Joseph schlug den Kragen des Trenchcoats hoch, schob den Hut in die Stirn, vergrub die Hände in den Taschen und lehnte sich nach vorne, in die Steigung und in die Nacht hinein. Die Treppen waren eng und verwinkelt. Teilweise stützten die Häuser einander mit Bögen über die Gassen hinweg, die leer waren und nass. Wäsche hing von einer Leine und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass das letzte Urteil über die Menschheit noch nicht gesprochen war und der Regen irgendwann doch noch enden würde. Ein paar Katzen huschten vorbei. Ein Hund schnupperte an einer Mülltonne und floh, kaum hörte er Josephs hallende Schritte. Ein Paar stritt bei offenem Fenster auf Italienisch. Um einen Flieder herum lag ein Kranz aus blauen Blütenblättern.

    An der Friedhofsmauer lehnten zwei Frauen. Eine von ihnen, die ein Kopftuch trug und mit verschränkten Armen Joseph musterte, stieß sich mit dem angewinkelten Bein ab und schlenderte langsam und im Takt ihrer Kaugummi-kauenden Kiefer auf ihn zu. Die Laterne über dem Friedhofseingang war seit langem kaputt, deshalb erkannte sie ihren Fehler erst, als sie direkt vor ihm stand.

    „Du suchst nicht nach einer Frau, richtig?" Sie schnaubte und machte auf dem spitzen Absatz eines ihrer Schuhe kehrt.

    „Hey!, rief Joseph ihr hinterher. „Weißt du, wo der Zigeuner steckt?

    „Und was, wenn ja?" Sie ging, ohne anzuhalten, weiter.

    „Ich brauche ihn." Joseph folgte ihr.

    „Hast du Geld?" Sie lehnte wieder an der mit Gräsern und kleinen Sträuchern bewachsenen Mauer und warf ihrer Kollegin einen vielsagenden Blick zu.

    Joseph zögerte.

    Sie verdrehte die Augen.

    „Er ist dort drinnen." Sie wies mit dem Kopf auf den Friedhof hinter sich.


    Das schmiedeeiserne Tor, früher bei Einbruch der Dunkelheit mit einer Kette versperrt, stand seit ein paar Jahren auch nachts offen. Viele der Grabsteine waren umgekippt oder geborsten, die Inschriften unleserlich, die Bilder der Verstorbenen verblasst, die Blumen, so überhaupt vorhanden, verwelkt. Joseph folgte einem der sandigen Wege, kam an einer Platane und einer morschen Bank vorbei und stieß an einer Kreuzung auf ein Muster aus Blütenblättern, ähnlich den Mandalas, die er in einem früheren Leben in völkerkundlichen Sammlungen und kunstgeschichtlichen Büchern bewundert hatte. Er bückte sich und befühlte die Blätter, die von den Regentropfen bereits verschoben und mit Sand bespritzt waren. Das Werk eines Kindes, dachte er zuerst, aber dazu war das Muster zu kompliziert und regelmäßig. Es bestand aus den Blättern von mindestens sechs oder sieben verschiedenen Blumen. Er fuhr die Formen mit den Fingerspitzen nach. Er war wie hypnotisiert und hatte Mühe, sich von dem Anblick loszureißen.

    Er hörte einen unterdrückten Fluch, ging an einer Mauer mit Alkoven voll Urnengräbern entlang und gelangte zu einer Kapelle, die ihr Dach verloren hatte und mit den Sträuchern und jungen Bäumen, die entlang der eingefallenen Mauern wuchsen, wie eine verwunschenes Burgruine wirkte. Er entdeckte drei Gestalten, die im Schein einer Lampe miteinander zu ringen schienen.

    „Du hast gesagt, es ist kostenlos!", beschwerte sich eine junge Frau.

    „Das ist es schon lange nicht mehr. Damit habe ich nur Bettler angefüttert! Außerdem kostet es dich nichts außer einem Schluck Mundwasser!"

    „Ich will aber nicht. Und schon gar nicht mit euch beiden!"

    „Das hättest du dir früher überlegen sollen."

    „Lass das! Ihr tut mir weh!"

    Joseph bückte sich nach einer Holzlatte, über die er gestolpert war, und schlich vorsichtig weiter. Er kletterte über eine Halde aus Backsteinen und Schutt und schlüpfte durch eine Fensteröffnung.

    Eine Petroleumlampe stand auf dem längst von Gestrüpp durchwachsenen Marmorboden; gespenstische Schatten tanzten über die teilweise noch verputzten Wände. Ein Frauenkörper glomm bleich, der Kleidung teilweise beraubt. Ein Mann hielt ihn von hinten, ein zweiter von vorne. Joseph sprang von der Brüstung, holte aus und schlug dem einen Mann, der zu überrascht war, um auch nur einen Arm zu heben, mit der Holzlatte so fest auf den Kopf, dass sie zerbrach und der Mann stumm in sich zusammensackte. Der andere Mann ließ die junge Frau los, blickte zu Joseph, der sich ihm mit einer zersplitterten, in zwei langen Zacken auslaufenden Lattenhälfte zuwandte, und lief wortlos davon.

    „Wollten Sie ihn töten?" Die junge Frau ordnete ihre Kleidung, kniete neben dem reglosen Mann nieder, betastete dessen blutigen Skalp und blickte zu Joseph hoch.

    „Ich dachte …" Joseph keuchte und ließ die Latte fallen. Der Hut war ihm in den Nacken gerutscht, das Gesicht nass von Regen und Schweiß.

    Das Mädchen befühlte den Hals des Manns.

    „Er lebt noch, stellte sie wie für sich selbst fest. „Hier sind alle tot, aber der Zigeuner lebt noch.

    Joseph ließ sich auf der anderen Seite des Manns nieder und begann, dessen Taschen zu durchwühlen.

    „Also das ist es, was Sie wollten! Das Mädchen schnaubte. „Und ich dachte schon, Sie sind eine Art Ritter.

    „Hättest du den überhaupt gebraucht?" Josephs Mundwinkel zuckte.

    „Meinen Sie etwa, ich bin eine von denen?" Ihr Kopf ruckte in Richtung Friedhofsmauer. Sie war schmal und blass, das Haar kurz. Die Augen waren Stollen voll dauernder Nacht.

    „Ich meine gar nichts."

    „Ich bin Blumenmädchen. Sie verschränkte die Arme und hob keck das Kinn. „Ich arbeite auf dem Markt.

    „Was hast du dann hier zu suchen?"

    „Ich bin oft hier. Ich besuche die Toten und bringe ihnen Blumen."

    „Dieses Muster …" Joseph fand ein Bündel großer Francs-Scheine und steckte es ein.

    „Das ist von mir! Ich habe es für die Toten gelegt zum Dank. Ich komme hierher, um mit ihnen zu reden, aber sie sagen nichts. Ihre Münder sind voll Erde und Kalk. Sie umarmte sich schaudernd. „Sie haben mir das Leben gerettet mit Maden, die sie in Rattenleichen gezüchtet haben. Eine Art von Leben!

    Joseph zog aus einer anderen Tasche des Manns drei mit Korkpfropfen verschlossene Phiolen voll weißem Pulver und betrachtete sie ratlos.

    „Das gehört mir! Das Mädchen packte Joseph über den leblosen Mann hinweg am Handgelenk. „Geben Sie das her!

    „Lass das! Joseph schlug ihre Hand weg und erhob sich. „Du bist zu jung!

    „Wer sagt das? Die amerikanischen Matrosen lieben es, und die sind auch jung."

    „Du bist kein Matrose!"

    „Sie etwa?"

    „Ich habe auf einem Schiff gearbeitet."

    „Hah! Sie musterte ihn verächtlich. „Als Totschläger und Dieb?

    „Ich habe bei den Schleusen geholfen. Joseph stopfte die Phiolen zu dem Geld in seiner Manteltasche. „Und ich habe dir geholfen. Jetzt verschwinde!

    „Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich will nur was von dem Pulver."

    „Das ist nichts für Kinder. Spiel mit deinen Blumen!"

    „Es ist ewig her, dass ich ein Kind war. Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, wo. Nur an eine Sprache, die hier keiner spricht, und an den Duft von frisch gepressten Trauben!"

    „Und an die Maden!" Wieder zuckte einer seiner Mundwinkel.

    „Das war später. In einer anderen Welt!"

    „Trotzdem bist du nicht alt genug. Du hast niemanden getötet, niemanden verraten."

    „Sie etwa?"

    „In gewisser Weise!"

    „Das glaube ich nicht. Mit Mördern kenne ich mich aus. Sie sind voll Hass. Das Mädchen lächelte milde. „Hass auf andere, aber nicht auf sich selbst! Nie auf sich selbst!

    „Egal! Jedenfalls brauche ich das Zeug dringender als du."

    „Ach ja? Und was, wenn auch ich mich hasse? Dafür, dass ich noch hier bin und nicht bei denen, die ihr eigenes Leben für mich gegeben haben?"

    „Du bist jung. Du wirst einen Weg finden. Wie wir alle, als wir noch jung waren!"

    „Und ein Mörder werden und ein Verräter?"

    „Nein, das nicht! Joseph schüttelte den Kopf und tat ein paar Schritte zurück. „Aber ich muss jetzt gehen!

    „Und was, wenn ich nur ein bisschen Spaß haben will wie die amerikanischen Matrosen?", rief sie ihm hinterher.

    Er antwortete nicht mehr und verschwand durch eine Mauerlücke.


    Eine Frau, die sich bei der Nachbarin Reis geborgt hatte, huschte auf Holzpantinen und im ärmellosen Hauskittel, die neuen Locken mit einer durchsichtigen Plastikhaube geschützt, von einer Gassenseite zur anderen und strich mit ihrer Beute wie eine Diebin an der grauen, nassen Mauer entlang, bis sie die eigene Tür erreicht hatte. Joseph stieg rechts eine Treppe hoch bis zu deren ersten Absatz, einem kleinen Platz, von dem aus noch zwei Gassen abgingen, eine steil bergauf, die andere steil bergab. Im Erdgeschoss eines der schmalen Häuser befand sich ein Laden für asiatische Lebensmittel, aber auch für Papierfächer, Seidengewänder und Räucherstäbchen, wie die staubige Auslage im Schaufenster zeigte. Joseph öffnete die Tür und trat ein. Kaum erklang das Glöckchen über ihm, füllte sich sein Mund mit Speichel und sein Herz beschleunigte. Er holte tief Luft und sog die exotischen Gerüche ein.

    Die Luft war zum Schneiden dick. Morcheln hingen an Schnüren aufgereiht unter der Decke; offene Säcke voll Curry, getrockneten Algen und diversen Reissorten standen auf dem Boden; die Regale waren mit Nudelpackungen, klebrigen Soßenflaschen und Konserven gefüllt, deren Etikette chinesische Schriftzeichen und die Gesichter lachender, schlitzäugiger Kinder zeigten. Weiter hinten gab es Pantoffeln in kleinen Größen, Lampen aus Reispapier und weite Strohhüte. Joseph nickte dem jungen Vietnamesen hinter der Kasse zu.

    „Ah Monsieur Joseph, wie schön, dass Sie uns wieder beehren! Aber heute ist gar nicht ihr Tag!" Er lächelte und legte den Kopf schief.

    „Ich weiß. Aber es gerät gerade alles ein wenig in Unordnung!"

    „Maman San wird sich freuen, sich um Sie kümmern zu dürfen." Der Vietnamese trat zu einem Abschnitt in der Theke, der sich hochklappen ließ, um den Weg in den hinteren Teil des Ladens freizugeben.

    „Könnt ihr das hier gebrauchen?" Joseph holte die drei Phiolen mit dem weißen Pulver aus der Tasche und legte sie auf die Theke.

    „Woher haben Sie das? Der Vietnamese betrachtete die Phiolen, ohne sie zu berühren. „Von den Italienern? Er blickte fragend auf.

    „Von einem Bekannten! Es heißt, es ist sehr stark, aber ich weiß nicht, wie ich es nehmen soll."

    „Dann fragen Sie Ihren Freund! Der Ton des Vietnamesen wurde schärfer. „Es ist gefährlich. Für Sie und für uns! Wir wollen es nicht und können Ihnen damit auch nicht helfen.

    „Entschuldigung! Joseph lächelte verlegen und steckte die Phiolen wieder ein. „Es war dumm von mir.

    „Nehmen Sie sich in Acht vor dem Pulver! Der Vietnamese sah Joseph streng an. „Nur böse Menschen verkaufen es!

    „Verstehe!"

    Der junge Mann öffnete den Durchgang, geleitete Joseph zu einer Türe in der rückwärtigen Wand und drückte eine versteckte Klingel. Kurz darauf wurde die Tür von einer kleinen, etwa 60jährigen Vietnamesin geöffnet. Sie lächelte, wodurch ihre Augen vollends zwischen den braunen, von feinen Falten überzogenen Wangen und den dünnen Brauen verschwanden. Ihr Haar war noch schwarz und hing in einem langen Pferdeschwanz über ihrem Ao Dai aus himmelblauer Seide.

    „Ah, Monsieur Joseph!" Sie kreuzte die Unterarme vor der Brust, verbeugte sich leicht und trat zur Seite. Ein leichter Patchouli-Geruch entstieg ihrem Ausschnitt.

    Joseph bahnte sich einen Weg zwischen zwei schweren Vorhängen hindurch und gelangte in einen dunklen Raum, dessen Größe nur schwer abzuschätzen war. Außer drei verhalten glimmenden Lampions bildeten kleine Öllämpchen die einzige Lichtquelle. An die Stelle der Ausdünstungen der Lebensmittel im Laden traten der Duft von Räucherstäbchen und ein anderer: dumpf und moderig mit einer Moschus-Note. Es waren nur ein paar weitere Gäste anwesend, wohlhabende Beamte und Offiziere, die die Pfeife im Kolonialdienst kennengelernt hatten, wie Joseph inzwischen wusste. Ein chinesischer Händler war ein wenig abseits, hinter einem mit Drachen bemalten Paravent untergebracht. Sie alle lagen mit glasigen, gleichmütigen Augen auf Polsterliegen, deren Beine in goldenen Tatzen ausliefen, und sogen an Bambuspfeifen oder nippten an Porzellanschälchen. Eine Angestellte in einem grauen Pyjama ging auf Holzpantoffeln herum und schenkte aus einer Kanne grünen Tee nach.

    Maman San wies Joseph eine Liege zu, die ebenfalls durch einen Paravent abgetrennt war. Er entledigte sich der Schuhe und des Trenchcoats, öffnete den Gürtel, streckte sich auf dem Möbel aus und schob sich eine feste, mit Seide bezogene Rolle unter den Nacken. Er lächelte. Eine dünne, bitter-süße Geruchsfahne war ihm in die Nase gestiegen.

    Maman San trug ein Tablett herbei, auf dem ein Öllämpchen mit Glassturz, ein dunkles, etwa 50 Zentimeter langes Bambusrohr sowie diverse andere Gerätschaften lagen. Im unteren Drittel des Bambusrohrs klaffte ein rundes, etwa drei Zentimeter großes Loch, das in ziseliertes Silber gefasst war.

    „Schwerer Tag?" Maman San stellte das Tablett neben der Liege ab und kauerte auf dem Boden nieder. Sie zündete das Öllämpchen an und untersuchte in dessen schwachem Licht das Innere eines kleinen Terrakottagefäßes mit zwei verschieden großen Öffnungen. Sie kratzte mit einem langen, schmalen Spatel darin herum, schüttelte ein paar Kohleflocken auf den Boden, nahm einen feuchten Tuchstreifen, wickelte ihn um den Rand der größeren der beiden Öffnungen, presste diese auf den silbernen Sattel des Bambusrohrs und schuf so eine luftdichte Verbindung zwischen Tonkugel und Rohr.

    „Die letzten Tage waren grausam. Wohin ich auch gehe, ich treffe überall auf diesen fetten Engländer, und ich habe keine Ahnung, was er von mir will."

    „Du gar nicht wissen, was grausam." Maman San lächelte nachsichtig.

    „So? Da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher."

    „Du nicht verloren Mann und Kind." Mama San lächelte noch immer, schüttelte kurz den Kopf und erhitzte den tönernen Pfeifenkopf über der Öllampe.

    „Dafür eine Frau! Joseph beobachtete die sehnigen Hände, die die Pfeife im Licht der Öllampe hin und her drehten. Mama San selbst war im Halbdunkel verborgen. „Außerdem bist du doch mit Mann und Kind hierhergekommen!

    „Falscher Mann, richtiges Kind! Richtiger Mann gestorben an Fieber. Richtiges Kind auch!" Die Vietnamesin öffnete ein Schächtelchen, in dem ein kleiner, schwarzer Klumpen lag.

    „Und deine Tochter?"

    „Richtiges Kind von falschem Mann! Sie wischte den langen Spatel an ihrem Gewand ab, drehte ihn um, spießte mit dem Stiel den schwarzen Brocken auf und legte ihn auf die inzwischen aufgeheizte Außenwand des Pfeifenkopfs, wo sie ihn vorsichtig hin und her rollte. „Wenn du arm, kein Schmerz! Keine Zeit für Schmerz, kein Geld für Opium!

    Er beobachtete, wie der Klumpen aufweichte, erste Fäden zog und bernsteinfarben wurde

    „Und deiner Tochter geht es gut?"

    „Ausgezeichnet! Sie nicht kennen Heimat, nicht Nizza, nicht Opium. Nur Lausanne und reiche Freundinnen von teurer Schule!" Mama San legte das erwärmte Stück Opium, das jetzt von gummiartiger Konsistenz war, in die Schachtel zurück, trennte ein Viertel davon ab, steckte es wieder auf das dünne, nadelförmige Ende des Spatels und rollte es auf dem immer noch warmen Pfeifenkopf hin und her, bis daraus ein kleiner, perfekt geformter Zylinder geworden war.

    „Ein glückliches Kind!"

    „Sehr glückliches Kind! Keine Überschwemmung, kein Fieber, kein Krieg!" Maman San klebte das Opium in die zweite Öffnung des Pfeifenkopfs, zog den Spatel vorsichtig heraus, sodass er ein kleines Luftloch zurückließ, und reichte Joseph das Mundstück der Pfeife.

    „Und keine Maman San!", murmelte Joseph und drückte seine Lippen gegen das Bambusrohr. Die Vietnamesin hielt den Pfeifenkopf über das Öllämpchen und achtete darauf, dass er nicht zu heiß wurde, denn das Opium sollte verdampfen, aber nicht verbrennen. Sie nickte Joseph zu, worauf dieser an der Pfeife sog. Der Opiumdampf stieg erst in den Terrakottakopf, wo er abkühlte und mögliche Verunreinigungen als Niederschlag an den Wänden zurückließ, und gelangte durch das vom langjährigen Gebrauch harzgetränkte Bambusrohr in die Mundhöhle und schließlich die Lunge. Nach einem einzigen, tiefen Zug ließ Joseph den Kopf zurück auf die Nackenrolle sinken.

    „Du malen deine Träume?" Maman San bereitete die nächste Portion des Rauschgifts vor.

    „Ich male nicht mehr. Und ich träume von nichts." Josephs Züge begannen bereits, sich zu entspannen. Nach der vierten und letzten Pfeife waren sie vollends zu kindlicher Formlosigkeit zurückgekehrt, dem Gesicht, das er vor der Geburt gehabt hatte, vor dem ersten Schmerz. Seine Pupillen waren so klein wie die Nadelspitze, mit der Maman San den Ruß aus dem Terrakottakopf kratzte. Sie trug das Tablett davon und kam mit einem anderen zurück, auf dem eine Kanne, eine Teeschale und wieder eine kleine Öllampe standen. Sie ließ sich auf den Hacken nieder, schenkte Joseph Tee ein, beobachtete ihn noch einen Moment lang, erhob sich lautlos und verschwand.


    Rinnsale spritzten von den Ecken der Zeltplanen, Tropfengirlanden zierten die Kanten. Joseph knabberte an einer socca, einem Fladen aus Kichererbsenmehl, hatte sich hinter einer Etagere mit Kübeln voll Rosen in verschiedensten Farben und Größen postiert und atmete durch den Mund, weil er den süßen Duft nicht mehr ertrug. Er beobachtete einen Marktstand auf der gegenüberliegenden Seite des schmalen Gangs, durch den dem schlechten Wetter zum Trotz Touristen und Einheimische schlenderten. Die Männer hatten die Krempen ihrer Hüte weit ins Gesicht gezogen, die Frauen schützten die Frisuren mit bunten Schirmen, die blass wirkten neben den Blumen, die in allen Farben des Spektrums leuchteten und Josephs Herz hätten schwer werden lassen, hätte er ihnen noch als Maler gerecht werden wollen.

    „Kennen Sie sie?" Der Engländer hatte sich unbemerkt von hinten angeschlichen und folgte über Josephs Schulter hinweg dessen Blick.

    „Nein!" Joseph drehte nicht einmal den Kopf, um zu sehen, wer ihn so überraschend angesprochen hatte.

    „Nein? Der Engländer runzelte die Stirn und schüttelte sich, weil Regenwasser in seinen Kragen getropft war. „Aber sie gefällt Ihnen!

    „Sie wurde mit Maden großgezogen."

    „Tatsächlich? Der Engländer schmunzelte. „Es scheint ihr nicht geschadet zu haben. Und sie ist herrlich jung!

    „Viel zu jung!" Josephs Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an.

    „Sie hat genau das richtige Alter, will ich meinen: jung genug, um von nichts Bösem zu wissen, alt genug, um von einem verdorbenen Bohemien etwas darüber lernen zu wollen. Der Engländer sah Joseph an. „Oder sollten ausgerechnet Sie Gewissensbisse haben?

    „Sie redet mit den Toten."

    „Und deshalb starren Sie sie seit einer Viertelstunde an?"

    „So lange beobachten Sie mich schon?" Joseph wandte sich endlich nach dem Engländer um.

    „Ich weiß, es gehört sich nicht, einem Menschen hinterher zu spionieren, aber Sie tun ja offenbar das Gleiche."

    „Es ist wie ein Ballett, was sie macht." Joseph widmete sich wieder der Betrachtung des Blumenmädchens und seufzte.

    „Sie bewegt sich in der Tat ausgesprochen elegant. Der Engländer sah zu, wie das Mädchen, dessen Blässe durch ein schwarzes Kleid weiter betont wurde, mit graziösen Bewegungen Pflanzen aus Emailkübeln nahm, sie mit einer Schere zurechtschnitt und auf andere Eimer verteilte. Dann begann sie, aus Blumen, Zweigen und Farnen Sträuße zu komponieren. Einen von diesen verkaufte sie einem distinguiert wirkenden Herrn, der einen weißen Filzhut trug und seinen Spazierstock mit dem Griff an den Unterarm gehängt hatte. Als er ihr das Geld gab, hielt er ihre Hand fest und flüsterte ihr etwas zu. Das Mädchen nickte, ohne eine Miene zu verziehen, machte die Hand frei, steckte das Geld in eine Metallkasse und nahm sich aus dieser einen kleineren Schein, den sie in einer Tasche ihrer Schürze verschwinden ließ. „Aber wir können nicht ewig hier im Regen stehen und warten! Ich gehe jetzt zu ihr und gestehe ihr meine unsterbliche Liebe. Und beschweren Sie sich hinterher bloß nicht, dass ich sie Ihnen ausgespannt hätte! Die Bahn ist frei. Kommen Sie! Der Engländer berührte Joseph leicht an der Schulter, verließ den Schutz ihres Verstecks und marschierte in seinen Sandalen entschlossen zu dem Blumenstand hinüber.

    „Sind Sie verrückt?", rief Joseph dem Engländer hinterher, konnte ihn aber nicht aufhalten und folgte widerwillig.

    Der Engländer legte sich den nassen, zusammengeklappten Schirm auf die Schulter und entblößte sein gelbes Gebiss, als die junge Verkäuferin auf das seltsame Paar aufmerksam wurde.

    „Mein junger Freund hier behauptet, Sie können mit den Toten sprechen."

    „Ihr junger Freund hat keine Ahnung." Sie hatte nur Augen für Joseph, als rede sie eigentlich mit ihm.

    „Er tut zumindest so. Die nach oben gezwirbelten Schnurrbartenden des Engländers zuckten. „Aber vielleicht können Sie mir trotzdem helfen: Ich hätte da nämlich ein paar Fragen an eine Frau, die vor einigen Jahren unter tragischen Umständen in Paris ermordet wurde.

    „Die Toten rufen nach mir, aber ich verstehe sie nicht."

    „Das ist einerseits sehr bedauerlich, andererseits nicht weiter verwunderlich, denn Sie wirken mit Ihrer knospenden Schönheit auf mich wie der Inbegriff der Jugend, und die hat normalerweise keinerlei Verständnis für den Tod."

    „Wir verwesen von innen. Mit jedem Menschen, den wir verlieren, sterben wir ein bisschen."

    „Und jeder neue Mensch, den wir kennenlernen, wirkt belebend! Besonders, wenn er jung und schön ist und so herrliche Blumen verkauft! Der Engländer wies mit großer Geste auf die Pflanzen in den Kübeln. „Aber hat sich Ihr Chef das auch gut überlegt? Eine attraktive Verkäuferin lockt zwar Kundschaft an, neben Ihnen verblasst aber sogar das prächtigste Bouquet.

    „Er ist nicht mein Chef, sondern mein Vater."

    „Und sicher mächtig stolz auf seinen Sprössling!"

    „Ich bin adoptiert." Sie wandte sich endlich dem Engländer zu und zwang sich zu einem Lächeln.

    „Dann ist ihm immerhin ein toller Fang gelungen!"

    „Er wusste nicht, wo ich herkomme und dass dort keiner überlebt hat. Am wenigsten die Kinder!"

    „Ausnahmen bestätigen die Regel! Was sich übrigens auch von unserem Freund hier behaupten lässt! Der Engländer wies auf Joseph, der ihn entsetzt anblickte. „Er ist Künstler, aber so bescheiden, dass er niemandem davon erzählt.

    „Künstler?" Das Mädchen warf Joseph einen Blick zu, der kein erneuertes Interesse verriet.

    „Maler! Der Engländer nickte kräftig. „Spezialist für Porträts und Blumenstücke! Kein Wunder, dass er Sie schon eine ganze Weile studiert hat: Sie als nur mit ein paar Blumen bekleidete Flora, das wäre ganz nach seinem Geschmack. Nur ist er als Deutscher ähnlich verklemmt wie wir Engländer und traut sich deshalb nicht zu fragen.

    „Er ist Deutscher?" Der Blick des Mädchens verfinsterte sich abrupt.

    „Ich bin weder Deutscher noch Maler." Joseph verdrehte die Augen.

    „Dafür aber ein widerspenstiger Lügner! Der Engländer grinste und lüpfte kurz die karierte Schirmmütze mit dem großen, orangen Bommel. „Und ich bin Ryder Rawlings. Ein alter Freund dieser undurchsichtigen Gestalt! Er legte einen Arm um Josephs Schultern.

    „Ich kenne ihn kaum. Joseph schüttelte den Arm ab. „Aber in einem hat er Recht: Ich habe mich nicht getraut, dich anzusprechen. Ich wollte mich für das entschuldigen, was auf dem Friedhof passiert ist.

    Sie nickte. Sie verzog keine Miene, als fürchte sie, die schöne Maske könnte Schaden leiden.

    „Auf dem Friedhof? Sie haben sich auf dem Friedhof getroffen?" Ryder blickte verwirrt vom einen zum anderen.

    „Und Sie sind wirklich

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