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Partisanen: Einen Heldensage aus dem modernen Griechenland
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Partisanen: Einen Heldensage aus dem modernen Griechenland
eBook367 Seiten5 Stunden

Partisanen: Einen Heldensage aus dem modernen Griechenland

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Über dieses E-Book

Kreta während des Zweiten Weltkriegs: Der Archäologe Dr. Reinders soll im Auftrag des deutschen Propagandaministeriums beweisen, dass es sich bei den antiken Minoern um Arier gehandelt hat, während zur gleichen Zeit der Brite Gerald Finton-Macauley mit griechischen Partisanen einen Anschlag auf den Oberkommandanten der deutschen Besatzungstruppen plant. Die beiden Protagonisten stoßen nach verschiedenen Abenteuern aufeinander und arbeiten schließlich zusammen, um zu verhindern, dass die Wehrmacht eine Kirche voll Geiseln in die Luft sprengt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Dez. 2018
ISBN9783742712691
Partisanen: Einen Heldensage aus dem modernen Griechenland

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    Buchvorschau

    Partisanen - Xaver Engelhard

    I – Mai 1942

    Die Klarheit des Winters, die an manchen Tagen die Berge im Norden und das Meer im Süden unmittelbar und in kleinste Details aufgelöst vor den Betrachter stellte, war zum ersten Mal in diesem Jahr dem sommerlichen Dunst gewichen, der alles Ferne verhüllte und die Tempelruine von der restlichen Welt löste und allein stehen ließ, erhaben und fremd. Die Säulen waren farblos, ganz greller Glanz und graue, mürbe Schatten, und sie flimmerten in der Mittagshitze, als wollten sie sich auflösen wie das Traumbild eines Fiebernden. Die Blätter der staubigen Olivenbäume waren erstarrt; die Sonne verharrte im Zenit; und nicht einmal die Eidechsen verließen ihre Verstecke. Die vier Deutschen hatten die Akropolis ganz für sich.

    „Sehr schön!, fasste der General zusammen, klopfte mit der Reitgerte gegen einen seiner Schaftstiefel und drehte sich noch einmal mit dem Stolz und der Zufriedenheit eines neuen Besitzers um. „Auch wenn das alles ziemlich heruntergekommen wirkt. Ich bin zuversichtlich, dass unser Tausendjähriges Reich die Zeiten besser überdauern wird.

    Der ihn begleitende Oberst der Luftwaffe lachte ebenso wie der Herr im leichten grauen Anzug, der gerade erst aus Berlin eingetroffen war und sich im letzten Augenblick der von der deutschen Botschaft organisierten Führung angeschlossen hatte. Nur Dr. Reinders von der Athener Abteilung des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches wandte sich mit einem gequälten Lächeln ab. Er hatte sich nicht lange gewehrt, als sein Chef, Institutsleiter Professor Hörbinger, den Auftrag, Offiziere der siegreichen Invasoren mit ein paar der Kulturschätze vertraut zu machen, die sie erobert hatten, an seinen Assistenten weiterreichte. Die Anmaßung aber, mit der die beiden Offiziere über die Ruinen stapften, ihre wohlwollende Herablassung den ihm so heiligen Stätten gegenüber, waren ihm zuwider. Und sie erinnerten ihn unwillkürlich an die Soldaten, die vor ein paar Monaten auf einem Balkon des Hotel Grand Bretagne gestanden waren und sich einen Spaß daraus gemacht hatten, den verhungernden Kindern unten auf der Straße eine Handvoll Rosinen zuzuwerfen, nur um zu beobachten, wie die Kinder sich um diese balgten und stritten und ihr letztes bisschen Kraft vergeudeten im Kampf um die Leckerbissen, die, selbst wenn es den Kindern gelang, einige davon zu ergattern, deren Tod höchstens um ein paar Stunden hinauszögerten. Schnapp schnapp schnapp! hatten die kleinen Mäuler gemacht und in die Luft gebissen wie die erstickender Fische, und sie gingen ihm nicht aus dem Sinn.

    „Aber so viel verstaubte Kultur macht durstig!, fuhr der General fort. „Dürfen wir die Herren Zivilisten zu uns ins Casino einladen? Dort können Sie sich mal so richtig die Ranzen vollschlagen, was hier, wie Herr Schedel als ein frisch aus der Hauptstadt eingetroffener Besucher vielleicht noch nicht weiß, ein nicht zu verachtendes Privileg ist. Oder, Reinders?

    Der dürre Dr. Reinders nickte pflichtschuldig. Ganz Athen hungerte; und von diesem Hunger waren allein die deutschen und italienischen Besatzungstruppen ausgenommen. Selbst die hier ansässigen deutschen Zivilisten blieben nur dank der Bemühungen der Botschaft vom Schlimmsten verschont. Die übrige Bevölkerung, die durch Flüchtlinge aus dem Norden und aus Kleinasien zu allem Überfluss stark angeschwollen war, musste um die immer knapper werdenden Vorräte kämpfen und auf den Märkten und in den Läden für die wenigen Lebensmittel, die die Hauptstadt erreichten, inflationär steigende Preise bezahlen. Überall streunten bettelnde, bis auf den geblähten Bauch stark abgemagerte Kinder herum; Männer, die in einem Sack sämtliche ihnen verbliebene Habe geschultert hatten, schlurften durch die Gassen; und auf dem Gehsteig hockten Frauen mit leerem, glasigem Blick und wussten nicht, wohin. Vor den wenigen Geschäften, die überhaupt noch Lebensmittel verkauften, standen teilweise mehrere Hundert Leute an. Jeden Morgen schoben Männer, die wandelnden Skeletten glichen, schwere Karren durch die Straßen und sammelten die Leichen der Verhungerten ein. Zehntausende waren bereits gestorben; und oft waren es Väter und Mütter, die das letzte ihnen verbliebene Essen den Kindern gegeben hatten, die bald als Waise in unruhigen Rudeln durch die Stadt streiften.

    „Sie sollten das Angebot tatsächlich annehmen," riet Dr. Reinders dem blassen Herrn Schedel, der sich während der Besichtigung im Gegensatz zu den beiden Soldaten nicht die Mühe gemacht hatte, kulturgeschichtliches Interesse zu heucheln, und mit den Händen in der Tasche zwischen den Tempeln herumspaziert war und den wissenschaftlichen Erläuterungen nur beiläufig und mit einem ironischen Lächeln zugehört hatte. Gelegentlich trat er gelangweilt einen Trümmerbrocken ins Gebüsch. Er erweckte den Anschein, als versuche er nur, die Zeit tot zu schlagen. Dr. Reinders fragte sich, warum er unbedingt hatte mitkommen wollen, da ihm die antiken Ruinen und ihre Geschichte offensichtlich ganz egal waren.

    „Sollte ich das, ja? Schedel musterte den Archäologen mit höhnischen Augen und ließ ihn spüren, dass es ihm nicht zustand, dem geheimnisvollen Besucher irgendwas zu empfehlen. „Vielleicht würde ich aber lieber zu Stavros gehen!

    Stavros war der Wirt der Taverne Hypnos, die schon unter dem Diktator Metaxas ein beliebter Treffpunkt der Mächtigen gewesen war und diesen Status auch unter den Invasoren, denen gelegentlich der Sinn nach griechischer Küche und kriecherischer Ehrerbietung stand, beibehalten hatte und deshalb einige Privilegien genoss, zuvorderst das regelmäßiger und reichhaltiger Lebensmittellieferungen.

    „Im Augenblick eine der wenigen Alternativen, wenn Sie hier anständig essen wollen, habe ich mir sagen lassen. Dr. Reinders zuckte mit den Schultern. Schedel widerte ihn noch mehr an als die Offiziere. „Überall sonst laufen Sie Gefahr, Katzen oder Schlimmeres vorgesetzt zu bekommen, falls es überhaupt was zu essen gibt.

    „Sehr schön! Schedel rieb sich die Hände. „Ich habe gehört, es ist das Borchardt Athens. Haben Sie vielleicht Lust, mich dorthin zu begleiten? Unseren Herren Offizieren macht es sicher nichts aus, uns dort abzusetzen. Er blickte kurz zu dem General, aber der war in ein Gespräch mit dem Kollegen von der Luftwaffe vertieft. „Und keine Sorge: Ich lade Sie ein. Besser gesagt: Das Reich lädt Sie ein." Er genoss schmunzelnd Reinders’ Verwunderung und spürte vielleicht sogar etwas von den Gewissensbissen, die er mit dieser Einladung in seinem Gegenüber hervorrief, denn der Archäologe hatte das Hypnos bisher nicht nur aus Geldmangel gemieden, sondern auch wegen der Klientel, die dort verkehrte: Kollaborateure und Profiteure auf Seiten der Griechen, auf Seiten der Deutschen bräsige, selbstherrliche Offiziere, die vor allem Verachtung empfanden für das Land, in dem sie stationiert waren, und diese durch ihr Gehabe dauernd zum Ausdruck brachten.

    „Ich weiß nicht recht. Ich habe viel zu tun."

    „Jetzt, im Krieg? Sind Sie etwa doch Soldat?"

    War dies eine versteckte Drohung? Dr. Reinders’ Status als Unabkömmlicher war nur schwer zu begründen und beruhte allein auf den guten Beziehungen seines Chefs zur Botschaft. Ihn zu verlieren war Dr. Reinders’ größte Sorge.

    „Ich bin vielleicht nicht direkt Soldat, aber ich bilde mir ein, als Zivilist immerhin für das Ansehen der deutschen Wissenschaft zu kämpfen."

    „Also wenigstens ein Patriot! Gut zu wissen! Schedel schlug den Weg vom Hügel hinab ein, über den die beiden plaudernden Offiziere bereits mit hinter den Rücken verschränkten Armen schlenderten. „Und worin genau besteht Ihr Dienst an der deutschen Wissenschaft?

    „Ich katalogisiere Kapitelle." Dr. Reinders errötete leicht. Er hatte mit diesem Bekenntnis noch niemanden beeindrucken können und zweifelte manchmal sogar selbst an der Bedeutung dessen, was er tat. Immerhin hielt Professor Hörbinger, der seit vielen Jahren an einem auf drei Bände angelegten Standardwerk zur antiken Säulenordnung, ihren landschaftlichen Besonderheiten und ihrer historischen Entwicklung arbeitete, seinen Assistenten für unersetzlich.

    „Wie nett! Europa steht in Flammen; und Sie katalogisieren Kapitelle. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen."

    Dr. Reinders hob den weißen Strohhut, den er trug, und wischte sich mit einem Taschentuch über die darunter verborgene Glatze. Ihn beruhigte das Wissen, dass er viel zu unwichtig war, als dass man extra jemanden aus Berlin geschickt hätte, um ihn einzuberufen und der Wehrmacht zuzuführen. Trotzdem musste er schlucken. Er beschleunigte die Schritte und hoffte, mit Schedel würden auch die Gespenster seiner Paranoia zurückbleiben.

    „Sie nehmen also meine Einladung an?" fragte Schedel, als er zu Dr. Reinders aufschloss. Dieser war anders als die beiden Offiziere noch nicht in den Opel geklettert, der samt griechischem Fahrer von der Botschaft zur Verfügung gestellt worden war, sondern hatte lieber im Schatten der riesigen Platane, die den Parkplatz überwölbte, eine der würzigen griechischen Zigaretten geraucht, die inzwischen vom Genussmittel zu einer Art Ersatzwährung aufgestiegen waren und Reinders seither eigentlich nicht mehr schmeckten.

    „Wie gesagt, ich habe leider keine Zeit. Schon dieser Ausflug war für mich nur schwer einzurichten. Dr. Reinders warf die Zigarette, die er nur halb geraucht hatte, auf den Boden und trat sie sorgfältig aus. „Dabei komme ich immer wieder gerne hierher!

    „Wohingegen Sie sich von einem Mittagessen in meiner Gesellschaft, noch dazu im verruchten Hypnos, wenig versprechen! Verstehe! Aber ich kann Ihnen versichern, Sie werden es nicht bereuen. Im Gegenteil! Der Besuch des Hypnos wird Ihnen mehr nützen als zehn Besuche dieses Trümmerhaufens hier. Gute Beziehungen haben noch keinem geschadet. Am wenigsten jemandem wie Ihnen!"

    Wusste er, was in Syrien passiert war? Dr. Reinders erstarrte; sein Gesicht prickelte. Er gab sich mit einem Nicken geschlagen, beobachtete, wie der zufrieden lächelnde Schedel zu den Offizieren in den Fond kletterte, und setzte sich vorne neben den Fahrer. „Wir fahren erst einmal zur Taverne Hypnos," teilte er diesem mit; und der Grieche nahm es stoisch zur Kenntnis.

    „Ich muss sagen, das moderne Athen macht einen noch bedauernswerteren Eindruck auf mich als die Ruinen des antiken. Schedel strich sich die Falten aus dem Anzug, nachdem er aus dem Opel geklettert war und sich von den Offizieren verabschiedet hatte. „Überall nur Dreck, Verwahrlosung, Gleichgültigkeit, Treibenlassen und Rückständigkeit! Die ganze zeitgenössische griechische Kultur, sofern man sie überhaupt als eine solche bezeichnen will, scheint mir von Nichtstun und Faulheit geprägt.

    „Vieles davon ist sicher auf den Krieg zurückzuführen, wandte Dr. Reinders ein, der an sich selbst bereits einen gewissen Hang zum Treibenlassen und Nichtstun festgestellt hatte, ohne davon sonderlich beunruhigt zu werden. „Er hat die Menschen entwurzelt und ihrer Erwerbsmöglichkeiten beraubt.

    „Der Krieg ist keine Entschuldigung, blaffte Schedel und schritt voran durch den Torbogen der Taverne, der in Dr. Reinders Augen mit seinen aufgemalten Kanneluren und fetten Voluten so schamlos und verlogen wirkte wie das ganze Etablissement. „Im Gegenteil! Am Krieg kann sich der Einzelne wie auch eine ganze Nation aufrichten. Sie müssen sich doch bloß die Häuser hier anschauen: Das ist gebauter Verfall; das ist Verwesung aus Stein; da gibt es nichts, was die nächsten Jahre, noch viel weniger die kommenden Jahrtausende zu überdauern verdiente. Der heutige Grieche ist ein Bastard, ein gründlich balkanisierter Abkömmling der ehemals aus dem Norden eingewanderten Dorer, die noch groben Fels und überhaupt widerständige Materie in Höheres zu verwandeln verstanden. Fallmerayer hat das ganz richtig erkannt: Dieser slawisch degenerierte Saustall schreit förmlich nach einer Blutauffrischung. Ein Krieg ist genau das, was die Griechen gebraucht haben, um aus ihrer tausendjährigen Apathie geweckt zu werden, dieser empörenden Gleichgültigkeit ihrem Erbe und ihrer Zukunft gegenüber, ihrem geschichtlichen Auftrag als einem der wenigen zu höherer Kultur befähigten Völker überhaupt. Und schon verdüsterte sich Schedels Blick weiter, weil ihm der kleine, spitzbäuchige Stavros als Inbegriff der griechischen Gastfreundschaft mit buschigem Schnurrbart und weit ausgebreiteten Armen entgegentrat. „Schon gut, schon gut!, wehrte Schedel die Freundschaftsbekundungen des Wirts in geläufigem Demotiki ab. „Führen Sie uns einfach zu unserem Tisch!

    Die Taverne lag in der Nähe des Markts inmitten eines großen, von Reben überrankten, mit bunten Lampions geschmückten Gartens. Zwei Köche in Schürzen standen vor einem riesigen Grill, auf dem ein ganzes Lamm und ein Schwertfisch lagen; auf einer leicht erhöhten Bühne saßen drei Musiker und spielten griechische, aber auch deutsche und italienische Volksweisen. Das Publikum an den Tischen war bunt; und mindestens die Hälfte trug Uniformen der Achsenmächte, wobei sich die der italienischen Marine mit ihren goldenen Epauletten und Tressen durch besondere Pracht auszeichneten. Die verschiedenen Nationen okkupierten jeweils eigene Tische; und auch Zivilisten und Soldaten mischten sich bis auf wenige Ausnahmen nicht.

    „Retsina?" fragte Stavros, als sich Schedel und Dr. Reinders an einem für zwei gedeckten Tisch niedergelassen hatten.

    „Selbstverständlich!", antwortete Schedel.

    Stavros nickte mit einem verbindlichen Lächeln, gab die Bestellung an einen Kellner in einer weißen, im verelendenden Athen geradezu anstößig sauberen Jacke weiter und zog sich zurück.

    „Ihr Griechisch ist ausgezeichnet," stellte Dr. Reinders neidisch fest, der auch nach Jahren noch immer mit der modernen Umgangssprache zu kämpfen hatte und sich mit der Ilias leichter tat als mit den wenigen Zeitungen, die es überhaupt noch zu lesen gab und die schon vor dem Krieg meist nicht der Lektüre gelohnt hatten, inzwischen aber jeden Wert über den des Zunders oder Schuhputzmittels hinaus verloren hatten.

    „Sprachen fallen mir leicht. Wie eigentlich alles!" Schedel streifte sich eine blonde, fast farblose Tolle aus der hohen Stirn. Es war eine nüchterne Feststellung; und sie wirkte nicht angeberisch, sondern glaubhaft. Dr. Reinders, dem im Gegenteil alles schwer fiel und der bisher nur wenige wirkliche Triumphe in seinem Leben gefeiert hatte - eine Stelle als Assistent des berühmten Professors Hörbinger ergattert zu haben, war einer von diesen, und den hatte er eher seiner Anspruchslosigkeit, was Gehalt und Urlaubstage anging, zu verdanken, als seinen Qualitäten als Wissenschaftler -, Reinders nickte niedergeschlagen und wusste, es mit einem Menschen zu tun zu haben, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Er wunderte sich allerdings, was solch ein Mensch von einem kleinen, mittelmäßigen Akademiker und wenn nicht reuigen, so doch gebrannten, jede Versuchung ängstlich meidenden Sünder wie ihm wollte, und war froh, die Einladung, die auszuschlagen ihm recht betrachtet wohl gar nicht möglich gewesen wäre, angenommen zu haben. Wenigstens seine Neugierde würde befriedigt werden.

    Der Kellner erschien mit einem Tonkrug voll Wasser und einem voll Wein. Schedel bestellte geübt einen großen Teller Mezedes. Als der Kellner ihn fragte, ob er etwas vom Grill wolle, schüttelte er den Kopf, bat aber Reinders, sich davon nicht den Appetit verderben zu lassen, was dieser sich zu Herzen nahm, denn der Geruch des Lamms war ihm nach all den Monaten, in denen es auch für ihn ein ständiger Kampf gewesen war, genug zum Essen aufzutreiben, unwiderstehlich in die Nase gestiegen.

    „Ich bin nämlich Vegetarier, erläuterte Schedel, als der Kellner auch Dr. Reinders’ Bestellung aufgenommen hatte und wieder verschwunden war. „Interessant, nicht wahr?

    Dr. Reinders schaute tatsächlich überrascht auf, denn er hatte fleischlose Ernährung bisher mit Entsagung, Krankheit und wahnhaftem Sektierertum assoziiert, glaubte aber nicht, dass Schedel von einem dieser Übel betroffen war.

    „Diese Diät reinigt den Geist. Sie schärft ihn geradezu, habe ich festgestellt."

    „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie da nachhelfen müssen." Dr. Reinders erschreckte die Aussicht, dass sein Geist gleich von einer gefüllten Lammhaxe benebelt werden würde, keineswegs. Er hatte den ganzen Winter hindurch aus reiner Not kaum ein Stück Fleisch zu sich genommen und meinte nicht, davon profitiert zu haben. Er plante, sich endlich mal wieder den Bauch bis über die Sättigungsgrenze hinaus voll zu schlagen und danach an Professor Hörbinger vorbei in den Institutskeller zu schleichen, wo er sich zwischen einigen Stelen ein kleines Versteck für gelegentliche Nickerchen eingerichtet hatte. Dort würde er sich wie ein Hund zusammenrollen und sich mit einem wohligen Gefühl ganz der Verdauung widmen und sich darin auch nicht von den antiken Büsten und Kapitellen um ihn herum stören lassen. In dem Winter, als die Athener zu Zehntausenden verhungert und die Toten überall auf den Straßen gelegen waren, war das Essen für ihn immer wichtiger geworden, je weniger er davon konkret zu fassen bekam, was ihm, wenn er philosophisch gestimmt war, wie eine merkwürdige Form von Platonismus vorkam. Als Deutschem war es ihm zwar besser ergangen als den meisten Griechen, von denen nur die wenigsten die Mittel hatten, um auf dem Schwarzmarkt einzukaufen, als Zivilist hatte er aber wie das gesamte Volk unter der enormen Verknappung an Ressourcen und Lebensmitteln zu leiden, die Folge der planmäßigen und rücksichtslosen Ausplünderung des Landes vor allem durch die deutschen Besatzer war. Wehmütig hatte er sich jedes Brotkantens erinnert, den er früher einmal achtlos weggeworfen hatte, und mit ständiger Wachsamkeit hielt er nach Gelegenheiten Ausschau, über einen Kollegen, der Bekannte bei der Wehrmacht hatte, oder mittels zufälliger Kontakte zur Botschaft oder zu griechischen Händlern eine Packung Reis, ein paar Konserven, eine Kanne Olivenöl zu ergattern. Er war zum Krämer geworden, zum Geizhals, zum Spekulanten. Das Essen, ein sinnlicher Genuss, dem er früher eher geringe Aufmerksamkeit geschenkt hatte, wurde zu seiner zentralen Obsession und drohte, sein Interesse für Kapitelle im Speziellen und die antike Kultur im Allgemeinen zu verdrängen.

    „Der Geist kann gar nicht scharf genug sein. Gerade in Zeiten des Krieges! Im Frieden darf man Nachsicht üben mit sich und seinen Feinden und diese ein wenig einlullen, damit sie um so überraschter sind, wenn man wieder losschlägt, denn losschlagen müssen wir ja, das ist schließlich unsere Bestimmung und Berufung als Deutsche, und losschlagen tun wir jetzt, und zwar ohne Nachsicht und mit voller Kraft, und soll hinterher bloß keiner sagen, er habe es nicht gewusst, denn wir haben es nie verborgen; und es müsste angesichts unserer Geschichte auch allen bekannt sein, dass Krieg für uns ein Naturbedürfnis ist. Schedel holte erschöpft Luft, trank aus dem Wasserglas und lehnte sich mit gerötetem, leicht verschwitztem Gesicht zurück. „Ich empfinde den Krieg als fast so befreiend und reinigend wie die fleischlose Diät.

    „Er bringt zumindest eine weitgehend fleischlose Diät mit sich. Dr. Reinders’ Blick wanderte zu einem Tisch in der Nähe, wo unter einer Gruppe italienischer Offiziere große Heiterkeit ausbrach. „Für die Meisten von uns!

    „Was ja kein Nachteil sein muss! Gerade, wenn man auf dem Gebiet der Propaganda kämpft und mit feinem, quasi chirurgischem Gerät auf die Schwächen des Gegners zielt und nicht wie das Militär mit großen Kanonen auf seine Stärken! Schedel lachte, als wäre ihm ein Witz gelungen. Er hatte sich wieder erholt und schenkte beiden von dem Wein ein. Er nahm sein Glas und stieß mit Reinders an. „Auf den Krieg und darauf, dass er uns noch lange so jung erhalte wie jetzt!

    Reinders nickte mit einem belanglosen Lächeln und nippte an dem Glas. Auch ihm ging es jetzt besser. Es war erstaunlich, wie rasch man im Garten der Taverne das restliche Athen vergessen konnte. Sogar den Krieg hätte er vergessen, wäre er von seinem Gastgeber nicht ständig daran erinnert worden. Währenddessen ging einer der italienischen Offiziere zu den Musikern, sicherte sich deren Begleitung, baute sich auf der kleinen Bühne auf, wartete, bis auch der Lärm an den deutschen Tischen zurückgegangen war, breitete die Arme theatralisch aus und schmetterte „O sole mio in den nachmittäglichen, noch sonnengebleichten Himmel. Der Italiener erntete für seinen Vortrag von seinen Landsleuten enthusiastischen, von den sichtlich um Neutralität bemühten Griechen höflichen und von den Deutschen nur spärlichen Beifall; und in den Reihen Letzterer wurde schon besprochen, wer auf diese Herausforderung mit welcher Waffe antworten solle, bis endlich ein dicker Oberleutnant mit „Am Brunnen vor dem Tore ins Feld geschickt wurde.

    „So geht es angeblich bis tief in die Nacht. Schedel, der kurz zur Bühne hinter sich geblickt hatte, verdrehte an Reinders gewandt die Augen. „Dabei haben beide Nationen auf dem Gebiet der Musik wirklich Großes geleistet! Wie die Deutschen und Italiener ja überhaupt die beiden einzigen wirklich musikalischen Nationen sind! Musikalisch, aber natürlich mit unterschiedlichem Gewicht! Ein Rossini wirkt verglichen mit Wagner ja geradezu albern. Trivialer Klamauk, aber immerhin melodiös, was einem Russen niemals gelingt! Der Engländer hat gar keine Musik, der Franzos’ nur süße Sentimentalität, was etwas ganz anderes und viel Schlimmeres ist als die Leidenschaft der Italiener. Aber an die Tiefe der deutschen Musik reicht nichts heran. Beethoven, Wagner: Das atmet alles Schicksal. Da finden die Vorsehung und die Verpflichtung zu Größe und Herrschaft ihren angemessenen Ausdruck. Denn es ist ja auch eine Last: Das wir nicht ruhen können, bis unser Auftrag erfüllt und die Welt erlöst ist. Noch ist es nicht so weit; und es ist in meinen Augen allen gewaltigen Erfolgen zum Trotz gar nicht sicher, ob es uns diesmal gelingen wird, aber das ist auch gar nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist viel mehr, dass wir es immer wieder versuchen werden, weil es uns im Blut liegt, und dass wir keine Ruhe geben werden, bis wir endlich die Welt beherrschen zum Wohle aller, denn es kann ja gar kein Zweifel mehr daran bestehen, dass wir vom Schicksal dazu ausersehen und als einzige bereit und befähigt sind, diese schwere Aufgabe zu übernehmen.

    Inzwischen war auch die Platte mit den Mezedes serviert worden; und Schedel tat davon die meisten auf seinen Teller und schob den Rest - mit Hackfleisch gefüllte Dolmades und ein paar Scheiben Salami - Dr. Reinders zu, der beherzt und um die Schärfe seines ohnehin begrenzten Geistes unbekümmert zugriff. Der Nachmittag gefiel ihm immer besser. Vor allem, weil von ihm offenbar nicht erwartet wurde, dass er zur Konversation beitrug.

    „Kreta ist Ihnen ein Begriff?" fragte Schedel unvermittelt.

    „Die Insel?" fragte Dr. Reinders zurück, als wolle er die schädliche Wirkung von jahrelangem Fleischkonsum veranschaulichen.

    „Richtig geraten: Eine Insel im Mittelmeer! Schedel lachte herablassend. „Und die größte Luftlandeunternehmung aller Zeiten!

    Dr. Reinders nickte. Neuzeitliche Militäraktionen bedeuteten ihm nichts. Schon die Römer, ungebildete, zutiefst bäuerliche Emporkömmlinge, fanden kaum mehr sein Interesse. Hätte er nicht unentwegt fürchten müssen, irgendwann selbst darin verwickelt zu werden, und wäre die Lebensqualität in Athen nicht davon abhängig gewesen, er hätte sich kaum um das aktuelle Kriegsgeschehen bekümmert. So aber hoffte er, dass möglichst bald alles vorüber war, damit er sich wieder ohne Sorgen und vor allem ausreichend und ansprechend ernährt ganz der steinernen Hinterlassenschaft der alten Griechen widmen konnte.

    „Ein Triumph ohnegleichen! Wenn auch mit dem einen oder anderen Wermutstropfen!"

    „Die Verluste sollen recht hoch gewesen sein." Dr. Reinders beobachtete voll Vorfreude, wie die Lammkeule vor ihm abgestellt wurde.

    Schedel, der von seinen frittierten Auberginenscheiben naschte, machte mit der anderen Hand eine wegwerfende Bewegung. „Das waren alles Märtyrer. Jeder einzelne von ihnen hat sein Leben mit Begeisterung für Führer und Vater­land hingegeben. Der Tod spielt keine Rolle für sie. Sie wissen: Sterben sie, hebt ein anderer ihr Schwert auf und kämpft an ihrer Stelle unser aller Kampf weiter."

    „Dann ist ja gut!" Dr. Reinders, dessen Speichelfluss bereits deutlich angeregt wurde, war fest entschlossen, sich sein Lamm durch nichts und niemanden verdrießen zu lassen. Ganz bestimmt nicht von einem größenwahnsinnigen Vegetarier!

    „Nicht ganz! Die Art und Weise, wie einige dieser jungen Männer gestorben sind, ist ein Skandal. Sie wurden noch in den Geschirren ihrer Fallschirme hängend ermordet. Mit Mistgabeln und Küchenmessern abgestochen! Von Zivilisten! Von Frauen, Kindern und Greisen! Ihre Leichen wurden geschändet! Und daraus ist mit Unterstützung der perfiden Engländer eine richtige Partisanenbewegung geworden, die uns Schwierigkeiten macht und Truppen bindet, die wir lieber anderswo einsetzen würden."

    Dr. Reinders säbelte einen ersten fetttriefenden Fetzen von der vor ihm stehenden Haxe, schob ihn sich mit zitternder Hand in den Mund, schloss die Augen und begann, mit wonnigem Gesichtsausdruck zu kauen.

    „Und das überrascht Sie?" fragte er, als er endlich den ersten Bissen hinuntergeschluckt hatte. Er verstand nicht einmal ansatzweise, worauf Schedel hinaus wollte, machte sich aber deshalb keine Sorgen. Er würde es bald erfahren, egal, ob es ihn interessierte oder nicht. In der Zwischenzeit würde er sich ganz in den Genuss dieses Lamms versenken, der ihm tiefer und leidenschaftlicher vorkam als alles, was Wagner oder Rossini zu bieten hatten. Nicht einmal die im Hintergrund unermüdlich trällernden Soldaten konnten ihn darin noch beirren.

    Der bisher so beharrlich redende Schedel geriet ins Stocken.

    „Man war davon ausgegangen, dass die deutschen Truppen als Befreier vom britischen Joch gefeiert und von der lokalen Bevölkerung mit offenen Armen empfangen werden würden. Dass dem nicht so ist, das ist … Im Zusammenhang mit den Griechen drängt sich der Begriff des Tragischen förmlich auf. Schließlich liegt hier ein Fall von Verblendung vor; und die Betroffenen handeln ganz offensichtlich wider ihre eigenen Interessen und wider die Interessen ihres Volkes. Sie erkennen die eigenen Brüder nicht und töten sie ihm Wahn."

    „Was für Griechen nicht ungewöhnlich ist! Dr. Reinders ließ es sich weiter schmecken. Seine Lammkeule hatte teutonische Ausmaße. Wenigstens in dieser Hinsicht hatte die Okkupation Gutes bewirkt. „Hier kämpft doch seit Generationen jeder gegen jeden und eine Sippe gegen die nächste.

    „Das mag sein. Schedel verzog angesichts dieses Einwands, der nicht in sein Argumentationsschema passte, säuerlich das Gesicht. „Aber gelegentlich halten sie doch zusammen!

    „Stimmt! Gegen die Perser und Türken!"

    Wieder verzog Schedel unwillig das Gesicht.

    „Gegen die Italiener auch! Und eben gegen uns! Sogar auf Kreta, das von den Briten besetzt war! Es schmerzte Schedel sichtlich, dies zuzugeben. „Und das, obwohl wir mit den Griechen verwandt sind!

    „Sie halten die Griechen für Germanen?" Dr. Reinders blickte erstaunt auf.

    „Bedeutende Rassenforscher wie Hans Günther sind der Ansicht, dass zumindest die hellenische Oberschicht von Einwanderern aus dem Norden abstammte. Vor allem Sparta und Mykene, aber natürlich auch Athen gelten längst als arische Gründungen. Diese gemeinsame arische Wurzel würde nicht zuletzt die besondere Affinität erklären, die wir Deutsche seit langem für die antike griechische Kultur empfinden."

    „Es gibt nur wenige materielle Belege für diese Thesen. Dr. Reinders wog skeptisch den Kopf. „Und es ist doch sehr fraglich, ob man eine stammesgeschichtlich begründete Veranlagung braucht, um für die Schönheit antiker Kunst empfänglich zu sein.

    „Es gibt geheime Sympathien, da bin ich mir sicher. Kein Volk versteht die Griechen wie wir, kein Volk hat sich um das antike Erbe der Griechen so verdient gemacht wie wir. Schon allein deshalb sollten die Griechen und vor allem die Kreter in uns und nicht im imperialistischen Albion, diesem neuzeitlichen Nachfolger von Venezianern und Türken, ihre natürlichen Verbündeten sehen."

    „Allein, sie tun, was sie wollen!" Dr. Reinders schmunzelte. Dass solch absurdes, für Außenstehende und vor allem für einen sturen, methodisch denkenden Deutschen unerklärliches Verhalten für Griechen durchaus typisch war, behielt er lieber für sich. Er wollte die Dinge, die Schedel mit großer Geste vereinfachte, nicht wieder komplizieren.

    „Das stimmt; und sie schaden uns und auch sich selbst damit. Schedel seufzte und schüttelte traurig den Kopf. „Da gilt es noch Einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten. Wir müssten den Griechen zum Beispiel unsere gemeinsame Abstammung durch handfeste Belege vor Augen führen, wie es Ihr verehrter Kollege Dr. Müller bereits getan hat.

    „Ich verstehe nicht …"

    „Na in Mykene! Er hat dort doch sogar mit Hakenkreuzen verzierte Kultgegenstände ausgegraben."

    „Es ist sehr zweifelhaft …"

    „Zweifel gibt es immer, und Zweifel sind ein Zeichen der Schwäche. Ein

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