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Alice im Nebelland: Ein kalifornisches Märchen
Alice im Nebelland: Ein kalifornisches Märchen
Alice im Nebelland: Ein kalifornisches Märchen
eBook419 Seiten5 Stunden

Alice im Nebelland: Ein kalifornisches Märchen

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Über dieses E-Book

Nachdem Ende der sechziger Jahre in San Francisco eines seiner Häuser eingestürzt und auch sein sonstiges Leben zusammengebrochen ist, zieht sich der Architekt Harriman auf eine Ranch im Norden Kaliforniens zurück, wo er sich mit Renovierungen und, so munkelt man, dem Anbau von Cannabis über Wasser hält. In dieses augenscheinliche Idyll platzt eines Tages seine Ex-Frau, die die gemeinsame Tochter, zu der er zehn Jahre lang keinerlei Kontakt hatte, während der Schulferien bei ihm unterbringen möchte. Alice erlebt an der Seite ihres Vaters und seiner skurrilen Freunde einen abenteuerlichen Sommer und befreit Harriman am Ende nicht nur aus seiner Selbstvergessenheit, sondern auch aus den Fängen von Oberst Garcia, dem diabolischen Kommandanten der örtlichen Drogenbekämpfungstruppe.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum12. Sept. 2019
ISBN9783748561118
Alice im Nebelland: Ein kalifornisches Märchen

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    Buchvorschau

    Alice im Nebelland - Xaver Engelhard

    AliceEbookCover.png

    Alice im Nebelland

    Ein kalifornisches Idyll

    Xaver Engelhard

    Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

    http://dnb.dnb.de abrufbar.

    Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

    Texte: © Copyright by Xaver Engelhard

    Umschlag: © Copyright by Georg Engelhard Herstellung und Verlag:

    epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    E-Book: Bernd Floßmann, Berlin

    Gesetzt aus der Malaga

    Inhalt

    Mai
    Juni
    Juli
    August
    September

    Mai

    Es war einer der ersten Tage im Jahr, an denen warme Luft aus dem Süden die Nebel, die sich sonst über dem kalten Wasser der Humboldt-Strömung bildeten und die Halbinsel vom Rest der kontinentalen Landmasse isolierten, vertrieb, ein beinahe schon schwüler Frühsommertag voll frischer Insekten und aufgeregter Vogelstimmen, von denen allerdings hier drinnen, zwischen langen Reihen bunter, gleichförmiger Waren und unter gleißenden Bahnen fluoreszierenden Lichts, so wenig zu spüren war, als wäre man tief unter der Erde eingesperrt in einem Sarg aus Beton. Harriman fröstelte. Er griff sich noch schnell zwei Kartons Orangensaft, tat sie in seinen Einkaufswagen und fuhr damit zur Kasse.

    „Wie geht’s, meine Süße?" Er lächelte der Kassiererin zu und fuhr sich durch das zurückgekämmte, leicht ergraute Haar. Er trug eine Pilotenbrille und eine lederne Bomberjacke. Er legte Kartons und Tüten auf das Förderband.

    „Oh, hallo!" Die Kassiererin erwiderte sein Lächeln und versuchte dabei, die obere, mit einer Spange verdrahtete Zahnreihe bedeckt zu halten. Unter dem ärmellosen, auf der linken Brust mit dem Logo des Supermarkts bestickten Kittel trug sie einen rosa Jogginganzug. Ihre Turnschuhe waren mit den Namen ihrer liebsten Rockstars bekritzelt.

    „Alles in Ordnung?"

    „Großartig, Mr. Harriman!" Sie vergaß ihren Kaugummi und starrte Harriman mit offenem Mund an.

    „Ist das hier dein Sommerjob?"

    „Was?"

    „Das hier … Harriman machte eine vage Bewegung mit dem Kinn. „Ist das sowas wie ein Sommerjob?

    Sie schüttelte langsam den Kopf.

    „Ich bin mit der High School fertig." Die blau lackierten Fingernägel der rechten Hand gruben sich in den Rücken der linken.

    „Ehrlich? Harriman wölbte die Brauen. „Die Zeit vergeht … Er nahm die Brille ab, um die Kassiererin näher zu begutachten. „Tatsächlich! Du bist erwachsen geworden. Und ziemlich hübsch, muss ich sagen. Er lehnte sich mit der Hüfte gegen das Gehäuse des Förderbands. „Bist du immer noch mit Martha befreundet?

    „Nicht mehr so sehr! Die Kassiererin kaute auf der Unterlippe und holte Luft. „Haben Sie schon ein Los gekauft? Sie blickte mit großen, schwarz umrandeten Augen zu ihm auf.

    „Ein Los?" Harriman runzelte die bis auf ein paar weiße Furchen tief gebräunte Stirn und zog ein Taschentuch aus der Jacke.

    „Sie wissen schon: für die Tombola auf dem Sommerfest."

    „Das Sommerfest? Ist es schon wieder so weit? Es wird doch gerade erst Frühling. Sollten wir nicht zuerst einmal den genießen? Harriman hielt die Brille gegen das Sonnenlicht, das vom Parkplatz her durch die Fensterfront sickerte. „Was gibt’s denn zu gewinnen? Er hauchte gegen eines der Gläser und rieb es mit dem Taschentuch sauber.

    „Die Geschäftsleute der Stadt haben wieder viele Preise gestiftet, darunter eine Ballonfahrt und einen Flug auf die Bahamas. Für zwei!"

    „Für zwei, so so! Das könnte uns gefallen, was? Aber im Ballon?"

    „Nein nein! Die Kassiererin errötete. „Sie haben das missverstanden. Es …

    „Ich habe dich missverstanden? Ich dachte, du nimmst mich mit und zeigst mir den Strand."

    „Nein, nicht das! Ich meine, wir wissen ja nicht einmal … Das mit dem Ballon meine ich. Er fliegt nicht zu den Bahamas."

    „Nein? Harriman sah sie mit gespielter Verwunderung an. „Aber was machen wir dann? Irgendwo notlanden?

    „Ich weiß nicht." Sie stellte mit einem kurzen Blick zur Seite fest, dass die Kundin, die sich eben noch hinter Harriman hatte anstellen wollen, ungläubig den Kopf schüttelte und mit ihrem Korb zur nächsten Kasse weiterzog.

    „Du weißt nicht, wiederholte Harriman und putzte das zweite Brillenglas. „Das ist schade, denn so ein Ausflug könnte Spaß machen, oder?

    Die Kassiererin nickte, musste schlucken, fragte sich, ob es wahr war, was man sich über ihn erzählte, und genoss den Schauder, der ihr über den Rücken rann.

    „Was kosten deine Lose denn?"

    „Einen Dollar das Stück!"

    „Einen Dollar! Harriman tat beeindruckt. „Na, dann gib mir mal zehn! Aber keine Luschen, hörst du? Ich kann Luschen nicht leiden.

    „Aber Mr. Harriman …"

    „Ich hab nicht dich gemeint, keine Angst. Du bist alles andere als eine Lusche, das weiß ich. Und nenn mich nicht immer Mister! Harriman alleine reicht vollkommen."

    Die Kassiererin bückte sich und holte einen Schuhkarton voll bunter, zusammengerollter Zettel hervor, die alle einen kleinen Drahtring trugen. Sie hielt ihn Harriman mit zitternden Händen hin.

    „Ich nehm die Roten. Die Farbe der Liebe! Er pickte die entsprechenden Lose mit spitzen Fingern aus dem Durcheinander. „Wollen mal hoffen, dass mir das Glück bringt. Sonst wird das nichts mit unserem Ausflug auf die Bahamas!

    „Okay." Die Kassiererin nickte und sah zu ihm hoch.

    „Wieso bleibt so ein hübsches Mädchen wie du eigentlich hier in Garberville? Du solltest den Typen unten in Frisco oder L.A. die Köpfe verdrehen, anstatt deine Zeit mit uns Provinzlern zu vertun." Harriman stopfte die Lose in eine Jackentasche.

    „Sie sind doch kein Provinzler, Mr. Harriman!"

    „Nein, ich nicht. Harriman lächelte geschmeichelt. „Ich war lang genug fort. Ich wollte schon in deinem Alter nichts wie weg. Vielleicht bist du reifer, als ich es damals war, vielleicht ist dein Vater nicht so ein Arschloch, wie es meiner war, aber geschadet hat es noch keinem, sich ein bisschen umzusehen.

    „Ich dachte mir, ich verdien mir erst einmal ein bisschen Geld und schau dann, ob ich noch Lust auf’s College hab. Vom Lernen hab ich nämlich fürs Erste die Schnauze voll."

    „Was nicht ist, kann immer noch werden, richtig?" Harriman lächelte einem Mann zu, der mit einer Gehhilfe in den Gang zur Kasse humpelte. Die Kassiererin begann, auf der Kasse zu tippen.

    „Macht sieben Dollar und 37 Cent", verkündete sie schließlich.

    Harriman schob eine Hand in die enge Tasche seiner Jeans, holte einen Packen zerknäulter Geldscheine hervor, glättete einen Zwanziger und reichte ihn ihr.

    „Hier! Behalt den Rest für die Lose!" Er nahm die Papptüte, die sie für ihn vorbereitet hatte.

    „Danke!" hauchte die Kassiererin und versuchte sich trotz Zahnspange erneut an einem Lächeln.

    Harriman setzte die Sonnenbrille wieder auf, trat durch die elektrische Schiebetür hinaus ins strahlende Licht und macht sich daran, in Cowboystiefeln die vor ihm ausgebreitete Asphaltwüste des Parkplatzes zu durchqueren.

    „Jetzt machst du dich also schon an kleine Ladenmädchen ran!", rief eine Frau hinter ihm.

    Harriman erstarrte mitten in der Bewegung und fragte sich, ob es eine wirkliche Stimme war, was er da hörte, oder eine, die sich sein schlechtes Gewissen nur einbildete.

    „Sie ist kaum älter als Alice", behauptete die Stimme und offenbarte Wissen, über das nur wenige verfügten. Nicht einmal er selbst hätte spontan zu sagen gewusst, ob sie recht hatte damit.

    Harriman drehte sich mit einem erfrorenen Grinsen im Gesicht um, runzelte die Stirn, als wäre er noch nicht restlos davon überzeugt, es nicht doch mit einer akustischen Halluzination zu tun zu haben, und war einerseits erleichtert, weil er entdeckte, dass eine attraktive Frau an dem Geländer lehnte, hinter dem die Einkaufswagen abgestellt wurden, und wurde andererseits unruhig, denn sie betrachtete ihn mit offenbarem Missfallen und schien ihn zu kennen, ohne dass er zu sagen gewusst hätte, woher. Er überlegte fieberhaft und musterte das mit einer blauen Sonnenbrille getarnte Gesicht, das lange, offene Haar und die offensichtlich großstädtische Kleidung, die aus einer Leinenjacke und einer weiten, gerade geschnittenen Hose, wie man sie hier sonst nur im Fernsehen oder in Zeitschriften zu sehen bekam, bestand, und war sich plötzlich sicher.

    „Maud? Was tust du denn hier?" Ein Speichelfaden spannte sich zwischen seinen offen stehenden Kiefern. Graue Bartstoppel glänzten im Gegenlicht wie Raureif.

    „Rinder kaufen, was sonst?" Maud verzog keine Miene.

    „Rinder? Hier gibt’s keine Rinder mehr." Harriman tat, als nähme er ihre Behauptung ernst, lächelte verlegen und suchte nach weiteren Worten.

    „Dann bin ich vermutlich doch wegen dir hier! Ich dachte mir, ich besorg noch ein Mitbringsel, bevor ich zur Ranch hochfahre. Eine Flasche Wein, ein Stück geräucherten Lachs oder sowas! Aber sie haben nichts, was mir gefällt! Überhaupt gar nichts!" Sie betonte die letzten Worte so, dass sie die Kassiererin ausdrücklich mit einschlossen. Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.

    „Du willst zu mir? Du hättest mich warnen können."

    „Hätte ich, ja. Aber ich wollte dich überraschen und sehen, was aus dir geworden ist, bevor du dich verstellen kannst. Sie stieß sich von dem Geländer ab. „Und ich muss sagen, es hat sich gelohnt. Du siehst grotesk aus in dieser Jacke. Von deinem Verhalten ganz zu schweigen!

    „Meinem Verhalten?"

    Sie nickte.

    „Ach so! Harriman zwang sich zu einem Lachen. „Das war doch nicht ernst gemeint! Ein Scherz, mehr nicht! Ich kenn sie. Sie ist eine Freundin von … von einer Nachbarin. Von deren Tochter, meine ich. Seine Verwirrung legte sich nur langsam. Er betrachtete die Frau, die sich als Maud ausgab, jetzt aufmerksamer, konnte sich aber immer noch kein Bild machen von ihr, weil ihm so viele Gedanken und Gefühle durch das Hirn jagten.

    „Klingt für mich, als hättest du bei der auch schon zu landen versucht. Bei ihrer Tochter, meine ich. Maud lächelte eisig. „Und dafür hast du alles, was wir hatten, aufgegeben? Traurig, kann ich da nur sagen.

    „Ist es nicht ein bisschen früh, um das beurteilen? Du bist doch gerade erst angekommen; und es ist immerhin ein paar Jahre her."

    „Zehn, um genau zu sein! Zehn lange Jahre! Und du bist immer noch genauso leicht zu durchschauen wie früher."

    „Für jemanden mit deinen Vorurteilen bestimmt!"

    „Erfahrungen, mein Lieber, nicht Vorurteile! Du vergisst, dass ich einiges durchgemacht habe. Maud schob die Hände in die Hosentaschen und sah sich um. Der Supermarkt bildete mit einem Sportgeschäft und einer Drogerie ein Karree, das mit seinen rustikalen Holzfassaden und dem umlaufenden, auf rohe Baumstämme gestützten Vordach an ein Fort aus dem Wilden Westen erinnerte. Auf der Hauptstraße, die den Parkplatz begrenzte, stauten sich die Autos vor der einzigen Ampel des Orts. Das große Backsteingebäude auf der anderen Seite der Kreuzung, früher Verwaltungssitz einer Papier- und Sägemühle, stand leer. Die Fensteröffnungen waren mit Brettern vernagelt. „Hat sich ganz schön verändert, das Kaff.

    „Sie nennen es Fortschritt, brummte Harriman und folgte ihrem Blick. „Aber wollen wir unser Gespräch nicht woanders fortsetzen? Es gibt hier in der Nähe ein Cafe mit einem ganz passablen Espresso.

    „Ich weiß, ich weiß. Maud seufzte. „Und eigentlich solltest du dich daran erinnern: Jedesmal, wenn wir unseren jährlichen Besuch bei deinem Vater hinter uns gebracht hatten, hast du uns zur Wiedergutmachung in diesen Schuppen geschleppt und ihn als die größte Errungenschaft der hiesigen Zivilisation seit Erfindung des Totempfahls gepriesen.

    „Die Indianer hier hatten keine Totempfähle."

    „Umso schlimmer! Dann war diese Gegend also schon immer kulturelles Brachland. Maud schniefte verärgert. „Rufen sie in deinem Cafe immer noch zum Aufstand der proletarischen Massen auf?

    „Ich glaube, sie beschäftigen sich jetzt eher mit Kristallen und Tai Chi."

    „Na, wenigstens in der Hinsicht seid ihr auf der Höhe der Zeit." Maud holte tief Luft, schob die Brille auf die Stirn, und strich eine Strähne hinters Ohr zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war. Harriman musste lächeln, als er die vertraute Geste sah.

    „Was?", fragte Maud sofort misstrauisch.

    „Nichts! Harriman schüttelte kurz den Kopf. „Ich pack nur schnell das Zeug hier in den Wagen, dann können wir los. Er hob seine Papiertüte hoch und ging zu einem Volvo-Kombi, den er ohne Rücksicht auf die Markierungen des weitgehend leeren Parkplatzes abgestellt hatte, und hoffte, Zeit zu gewinnen, und verschwendete diese Zeit auf fruchtlose Spekulationen darüber, was wohl der Grund für diesen überraschenden Besuch sein könnte nach all den Jahren, in denen es keinerlei Kontakt gegeben hatte zwischen ihm und ihr, zwischen ihm und allen, die mit seinem früheren Leben verbunden waren, zwischen ihm und jenem Teil von sich, der Opfer einer partiellen Amnesie geworden und bis gerade eben für immer verschwunden zu sein geschienen hatte.

    Ein Mann mit Schlitzaugen und Nickelbrille stand hinter der Theke. Seine Schiebermütze passte gut zu den Dampfrohren und Druckanzeigern der altertümlichen Kaffeemaschine, die er bediente, und verlieh ihm den proletarischen Charme eines Lokomotivführers. Er erfüllte mit Gleichmut die Wünsche seiner Kunden, die zwischen vielfältigen Kaffeekreationen in drei verschiedenen Größen wählen konnten, mit Eis gekühlt oder Aromastoffen versetzt. Die Holzmöbel, die in dem langen, schlauchartigen Raum standen, passten nicht zusammen und waren türkis, rosa oder dunkelblau lackiert. Poster an den Wänden warben für Reisen nach Kuba und ins Innere des Bewusstseins oder warnten vor den alljährlichen Invasoren, den Truppen der Drug Enforcement Administration, die die Gegend im Herbst, zur Erntezeit, heimsuchten und mit Waffengewalt wieder der Herrschaft der Zentralgewalt in Washington zu unterstellen versuchten.

    Harriman und Maud nahmen ihre Becher in Empfang und trugen sie nach draußen, wo gerade zwei Plätze unter einem der beiden Sonnenschirme frei wurden.

    „Wie geht’s ihr denn, der Kleinen?", fragte Harriman, als sie sich auf ihren Stühlen eingerichtet und die Sonnenbrillen zurechtgerückt hatten.

    „Sie ist mittlerweile ziemlich groß. Du würdest sie nicht wiedererkennen."

    „Vermutlich. Harriman nickte, ein hohles Lächeln im Gesicht. „Ich erinnere mich noch, wie ich ihr das Fahrradfahren beigebracht habe.

    „Und wenig sonst! Außerdem ist das ist über zehn Jahre her; und Fahrradfahren tut sie schon lange nicht mehr."

    „Nein?" Es sah Maud entsetzt an.

    „Sie sagt, bei uns in der Stadt ist es zu hügelig."

    „Ihr wohnt jetzt im Zentrum?"

    Maud nickte.

    „Nun, Fahrradfahren ist was fürs Leben. Harriman nippte grübelnd an seinem Kaffee. „Das ist wie Schwimmen. Das braucht man immer wieder.

    „Im Moment braucht sie weder das eine noch das andere."

    „Wirklich?", Harriman sah erstaunt zu Maud hinüber.

    „Wirklich!", bekräftigte Maud hämisch.

    „Das ist schade. Er seufzte. „Naja, ich denke, ich war trotzdem ein ziemlich guter Vater. So lange es währte.

    „Bilde dir bloß nichts ein! Du warst nicht besser als der Durchschnitt; und es hat nicht lange gewährt."

    Harriman lehnte sich mit einem Schnurrbart aus Milchschaum zurück, betrachtete die Autos, die nach links und rechts rollten, und streckte die Stiefelspitzen in die wärmende Sonne.

    „Warum hast du sie nicht mitgebracht?"

    „Weil ich nicht wusste, wie groß dein Interesse an ihr ist! Ich wollte nicht, dass du sie noch einmal verletzt."

    „Wie fürsorglich! Aber ist sie nicht allmählich alt genug, um selbst zu entscheiden, was sie will?"

    „Sie hat dich vergessen, auch wenn du dir das, egozentrisch, wie du bist, vielleicht nicht vorstellen kannst. Sie hat lange genug dafür gebraucht. Du bist für sie nur noch eine Episode aus ferner Vergangenheit. Es gibt viele Menschen, die ihr inzwischen mehr bedeuten." Mauds Nase war groß und gebogen, zu groß für das ansonsten schöne Gesicht; und Harriman war seit jeher überzeugt, dass sie nur wegen dieser Nase klug und selbstbewusst geworden war in einer Zeit, in der es schönen Frauen meistens noch genügt hatte, schön zu sein.

    „Sprichst du nur von ihr oder auch von dir selbst?"

    Maud zögerte.

    „Von uns beiden", behauptete sie schließlich.

    „Ihr wart von Anfang an unzertrennlich. Habt euch selbst genügt. Ich habe da nur gestört."

    „Soll das etwa eine Entschuldigung sein?" Maud holte ein Päckchen Gitane aus der Jackentasche, steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an.

    Harriman zuckte mit den Achseln.

    „Nein. Es gibt keine Entschuldigung und keine Erklärung. Das einzige, was ich weiß, ist, dass ich das Leben gelebt habe, das allgemein gelebt wird, und dass mir das nicht bekommen ist. Es war irgendwann nicht mehr zu ertragen. Das mit dem Haus war dann nur noch der Auslöser. Ich hatte einfach das Gefühl, dass alles anders werden muss."

    „Und dazu kehrst du ausgerechnet in das Kaff zurück, in dem du aufgewachsen bist, und steigst Mädchen nach, die kaum älter und vermutlich genauso verwirrt und hilflos sind wie die Tochter, die du im Stich gelassen hast! Maud sog an ihrer Zigarette und schüttelte den Kopf. „Ich begreif es nicht. Wenn du dich wenigstens geändert hättest, wenn du irgendwie weise und glücklich geworden wärst! Aber so? Es wirkt alles so sinnlos.

    „Ich weiß nicht, ob ich glücklich bin, aber ich bin zumindest nicht mehr so unglücklich, wie ich es war."

    „Schön!, Maud zwang sich zu einem Lächeln. „Was treibst du denn? Arbeitest du?

    „Ich halte mich mit Umbauten über Wasser. Ein Mann in einem grauen Anzug trat aus dem Café, schlug Harriman leicht auf die Schulter, musterte Maud neugierig und ging weiter. Harriman sah ihm hinterher. „Der Kerl, der sich um meine Buchhaltung kümmert!, erläuterte er.

    Maud nickte desinteressiert.

    „Und was ist mit dir? Immer noch so erfolgreich?"

    „Wenn man so will … Ich hab ein paar Mal den Job gewechselt und bin jetzt stellvertretende Programmchefin." Ihr Blick folgte einem Sattelschlepper voll Baumstämmen.

    „Herzlichen Glückwunsch!"

    „Spar dir deinen Sarkasmus! Ich weiß genau, du verachtest mich im Grunde dafür, dass ich Karriere gemacht habe. Aber ich kann dich beruhigen: Ich habe gekündigt."

    „Warum das denn?" Er sah sie verblüfft an.

    Sie beugte sich nach vorne, drückte die Zigarette auf dem Gehweg aus und legte die geknickte Kippe auf die blaue Packung.

    „Ich will nicht mehr den ganzen Tag mit Müll zu tun haben. Ich werde mir einen schlecht bezahlten, dafür aber, sagen wir mal, gehaltvolleren Job suchen. Maud verschränkte die Arme und erwiderte herausfordernd seinen Blick. „Ich werde eine billigere Wohnung brauchen und vielleicht sogar nach Seattle ziehen.

    „Nach Seattle? Aber … Harriman schüttelte den Kopf. „Was sagt denn Alice dazu?

    „Du meinst, ich sollte sie um Erlaubnis bitten?" Sie lächelte spöttisch.

    „Nein, aber sie ist schließlich auch betroffen. Ich meine …"

    „Willst du wirklich wissen, was sie denkt?"

    „Natürlich, ja!"

    „Nun, frag sie einfach!"

    „Wie bitte? Ist sie doch hier?" Harriman sah sich suchend um.

    „Nein! Das hier ist keine meiner verdammten Fernsehshows. Sie ist zu Hause in San Fran, hockt in ihrem abgedunkelten Zimmer und hört Musik. Aber ich brauche jemanden, der im Sommer auf sie aufpasst, während ich versuche, in Seattle Fuß zu fassen."

    „Was ist mit ihren Großeltern?"

    „Tot! Ein Selbstmordpakt!" Maud zog einen Mundwinkel herab.

    „Wie romantisch!"

    „Ich wusste, dass du das sagen würdest, aber es war nur Krebs. Meine Mutter war unheilbar krank; und mein Vater wollte nicht allein bleiben. Sie haben die Nerven verloren; und ich weiß jetzt nicht mehr, wohin mit Alice. Es kommt irgendwie alles zusammen. Sie hat Probleme in der Schule, was einer der Gründe dafür ist, dass ich weniger arbeiten will, und sie macht auch sonst gerade eine schwierige Phase durch. Sie könnte ein wenig Anleitung gebrauchen. Vielleicht eine andere Sicht aufs Leben! Und da bist du mir eingefallen. Vorgestern, nachdem … Sie lachte. „Ich weiß, es ist total verrückt, aber ich dachte mir, ich versuch’s einfach mal.

    Harriman setzte die Sonnenbrille ab, legte sie auf den Tisch und rieb sich die Schläfe. Seine Brust bot nicht mehr genug Platz zum Atmen. Die Straße vor ihm war ein wenig zur Seite gekippt.

    „Gibt es denn keine Ferienlager mehr?"

    „Alice ist 15, verflucht noch einmal! Ihr brauchst du mit Kanufahren und Geschichten am Lagerfeuer nicht mehr zu kommen. Sie hat zu ihrem CD-Spieler ein engeres Verhältnis als zu mir." Maud betrachtete die Straße hasserfüllt, als störe sie der friedliche Anschein, weil er nicht zu ihren Sorgen passte.

    „Es ist lange her."

    „Du bist ihr Vater. Maud zuckte mit den Achseln. „Das ist die Gelegenheit, dir diesen Titel wirklich zu verdienen. Sicherlich die letzte!

    „Du hättest anrufen sollen. Das kommt alles sehr plötzlich und überraschend."

    „Ich habe mich nicht getraut. Und ich wollte dir keine Gelegenheit geben, dir irgendwelche Ausflüchte einfallen zu lassen. Sag ja oder nein, aber erspar mir deine Lügen!"

    „Ich brauche keine Lügen mehr. Deshalb bin ich ja hierher zurückgekommen. Harriman kratzte mit einem Löffel an dem eingetrockneten Milchschaum in seinem Becher. „Musst du es denn jetzt gleich wissen? Du weißt doch gar nichts über mich. Ich könnte zum Alkoholiker geworden sein.

    „Du warst auf dem besten Weg dorthin."

    „Eben."

    „Und?"

    Er schüttelte kurz den Kopf.

    „Nichts außer Wein zum Essen!"

    „Kochst Du noch?"

    „Jeden Tag!", vermeldete er stolz.

    „Für dich allein?"

    „Nicht immer."

    „Du lebst also mit jemandem zusammen?"

    Er schüttelte den Kopf.

    „Du?"

    „Nein. Aber es gibt da jemanden, der das möchte."

    „Und?"

    „Man wird sehen."

    Harriman kraulte kurz einen Husky am Hals, der hechelnd im Eingang des Cafés stand, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinterm Kopf.

    „Also, was machen wir jetzt? Willst du bei mir auf der Ranch übernachten? Das würde mir Zeit zum Überlegen geben. Und du könntest mir ein bisschen über das Mädchen erzählen, das du bei mir abladen willst."

    Maud zuckte mit der linken Schulter.

    „Besser als das Motel!"

    „Es gibt bei mir draußen eh keins mehr. Das Sea Breeze hat vor ein paar Jahren dicht gemacht."

    Sie waren schon fast bei seinem ehemals weißen, inzwischen ergrauten Volvo-Kombi angelangt, als Harriman noch schnell zu den Zeitungsautomaten am Eingang des Supermarkts ging, um sich die Henderson Valley Times zu kaufen. Maud sollte nicht glauben, dass er die Welt unbeobachtet zu Grunde gehen ließ.

    „Findest du den Weg noch?" fragt er, als er wieder beim Auto angelangt war.

    „Ich glaube, ich folg dir besser. Aber ich muss erst noch tanken! Mir geht der Sprit aus. Im konkreten wie im übertragenen Sinn."

    Er blieb überrascht stehen und schlug sich mit der zusammengerollten Zeitung gegen den Oberschenkel. Dieses Eingeständnis von Schwierigkeiten und vielleicht sogar Hilfsbedürftigkeit sah Maud nicht ähnlich. Probleme waren für sie früher die Stufen gewesen, über die sie zu größerem Wissen, verbesserten Fertigkeiten kletterte. Sie hatte immer in allem triumphiert und Zweifel nicht einmal ansatzweise gekannt.

    „Geld?"

    „Nein, keine Angst! Überzeugung!"

    Harriman blinzelte benommen. Er brachte es nicht mehr fertig, sich für die Probleme anderer zu interessieren. Er interessierte sich nicht einmal mehr für die eigenen.

    „Wo parkst du denn?"

    „Dort drüben! Der blaue Nissan!"

    Harriman stieß einen leisen Pfiff aus.

    „Hoffentlich schaffst du mit dem Flunder die Auffahrt. Sonst musst du ihn unten an der Straße stehen lassen."

    „Wird schon gehen." Sie winkte ihm mit dem Autoschlüssel in der Hand. Harriman lächelte, öffnete die Tür des Volvos, warf die Zeitung zu den Lebensmitteltüten auf dem Beifahrersitz und stieg ein.

    Sie fuhren auf der Landstraße nach Norden, bogen Richtung Küste ab und gelangten auf kleinere, zuletzt ungeteerte Straßen. Turmhohe Redwoods rückten unmittelbar an den Schotter heran und machten aus der Straße, die sich durch die hoch aufstrebenden Stämme schlängelte, einen hölzernen Tunnel. Zwischen den Bäumen standen Farne und Sträucher. Nebelfetzen hingen in den wie ein Kreuzgewölbe aufgefächerten Kronen. Eine feierliche Stimmung befiel selbst die, welche wie Harriman durch langjährige Gewöhnung längst dagegen immun hätten sein sollen und zudem von Grübeleien abgelenkt wurden. Mitten im Wald zweigte eine unscheinbare Piste ab. Die steile, von tiefen Schlaglöchern perforierte Auffahrt erklomm in engen Windungen einen Hügel, die Bäume wurden kleiner, der Wald lichter, bis endlich hinter einer Kuppe die windzerzausten, mit ersten Frühlingsblüten und taumelnden Bienen geschmückten Weiden der Ranch begannen. Die Zäune waren verfallen; Spitzwegerich, Vogelmiere, Disteln und Sauerampfer wuchsen zwischen den Gräsern. Am Ende der Straße warteten ein großes, verwittertes Holzhaus und ein paar schiefe Nebengebäude. Ein Hufeisen aus Eukalyptusbäumen grenzte sie gegen die Wiesen und den Wind ab. Harriman und Maud stellten ihre Fahrzeuge auf einer mit Kies abgestreuten Fläche neben einem rostigen, kaum mehr fahrtüchtigen Pritschenwagen ab. Sie stiegen aus; und Maud streckte und dehnte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht.

    „Die Straße ist eine Zumutung und in viel schlechterem Zustand, als ich sie in Erinnerung hatte."

    „Ich weiß. Ich müsste mal wieder einen Grader drüber schicken, aber für mich allein lohnt sich das irgendwie nicht und eine gepflegte Straße macht nur neugierig. Das Letzte, was ich brauche, sind irgendwelche Deutsche, die im Sommer versuchen, ihren Winnebago hier hochzuwuchten."

    „Nicht sehr wahrscheinlich!" Maud sah sich missbilligend um.

    „Du glaubst gar nicht, bis wohin die vordringen in der Meinung, dort campen zu können. Entweder sind sie zu geizig oder sie wollen es noch idyllischer und einsamer, jedenfalls meiden sie den Campingplatz unten am Strand und schlagen sich lieber in die Büsche; und dann darf ich schauen, wie ich sie wieder los werde, wenn ihr Schiff im Straßengraben festhängt, und stolpere überall im Wald über Müll und Klopapier und muss froh sein, wenn sie mir beim Grillen nicht alles abfackeln. Ich hab überall Schilder aufgestellt, aber so weit scheinen ihr Englisch und ihr Verstand nicht zu reichen, dass sie die respektieren."

    „Sind tatsächlich nicht zu übersehen, deine Schilder. Ein bisschen übertrieben, oder?"

    „Überhaupt nicht! Ich will einfach keinen Ärger mit Leuten, die sich auf meinem Besitz den Knöchel brechen und sich hinterher beschweren. So was kann dich ein Vermögen kosten."

    „Ich finde die Ehrfurcht vor Privatbesitz, die diese Schilder predigen, einfach nur peinlich." Maud wandte sich zum Zeichen dafür, dass zu diesem Thema alles gesagt war, dem Haus zu.

    „Du hast gut reden. Harrimann holte die Tüten aus dem Auto. „Du hast von den Pflichten und Risiken, die Grundbesitz mit sich bringt, keine Ahnung.

    Maud kümmerte sich nicht um seinen Einwand und ging auf das Gebäude zu, dessen Verwahrlosung offensichtlich war. Die rostrote Farbe blätterte von den Brettern der Fassade. Die Dachrinne hing an zwei Stellen herunter. Kleine Sträucher hatten auf dem Dach Fuß gefasst. Auf der Veranda, die sich über die ganze Front erstreckte, standen ein Schaukelstuhl und eine Tiefkühltruhe. Zwei Fahrräder, ein Windkarpfen und ein Glockenspiel hingen von den Deckenbalken.Die Dielen knarzten und wippten unter Mauds Füßen.

    „Bist du sicher, dass hier jemand wohnt?" Sie drehte sich nach Harriman um und runzelte skeptisch die Stirn.

    „Hat sich ziemlich verändert." Maud sah sich in dem großen Wohnraum um, der sich bis unter den First öffnete. Die Gewehre und Golftrophäen, an die sie sich noch erinnerte, waren ebenso verschwunden wie die Vitrinen voll Nippes und Souvenirs von Reisen durch die alte Welt, die der ganze Stolz von Harrimans Mutter gewesen waren. Stattdessen standen jetzt selbstgebaute Regale aus Ziegelsteinen und Birkenbrettern an den Wänden. Ein paar bereits vergilbte Entwurfszeichnungen zu einem Haus aus Fertigteilen hingen über einem langen Refektoriumstisch. Ein zerschlissener Clubsessel hatte sich zu einem aerodynamischen Ledersofa aus Italien gesellt. Zeitschriften, keine jünger als zwei Jahre, quollen aus zwei Lattenkisten. Auf einer Kommode standen ein paar glasierte Keramikschüsseln.

    „Ich hab den ganzen alten Krempel rausgeschmissen."

    „Wirkt irgendwie leer." Maud drehte sich einmal um sich selbst.

    „Ich hab einfach nicht genug Möbel, um das ganze scheiß Haus damit zu füllen."

    „Schon gut, schon gut! Sollte kein Vorwurf sein. Aber ein bisschen mehr als eine aufgeblasene Junggesellenbude hatte ich mir schon erwartet!" Sie fuhr mit dem Finger über eines der Regalbretter und präsentierte ihm die graue Kuppe.

    „Das ist aber genau das, was ich bin: ein verdammter Junggeselle!"

    „Nicht vor dem Gesetz! Wir sind immer noch verheiratet, falls du dich erinnerst."

    Harriman nickte und trat an eines der Fenster, die mit Moskitogittern, aber nicht mit Vorhängen ausgestattet waren.

    „Es gab für mich bisher keinen Grund, das zu ändern. Du wirst für mich immer meine Ehefrau bleiben. Außer du willst …" Er sah sich nach ihr um.

    Maud schüttelte den Kopf.

    „Wir sind noch nicht so weit. Er trennt sich gerade erst von seiner Frau."

    „Kinder?"

    Sie nickte.

    Er fluchte leise.

    Sie lachte.

    „Komisch, dass dich das Schicksal anderer Kinder mehr berührt als das deiner eigenen Tochter!" Sie verschränkte die Arme und betrachtete neugierig Harrimans Rücken, der sich dunkel von der hellen, in Holz gefassten Scheibe abhob.

    Er schwieg eine Weile.

    „Das stimmt nicht. Aber ich hab es einfach nicht mehr ertragen. Ich …"

    „Du bist davongelaufen und hast dich versteckt."

    „Könnte man auf den ersten Blick fast meinen. Er seufzte, blickte auf die Weiden hinaus, auf denen sich das hohe Gras wellte. Harriman, der im Gegensatz zu seinem Vater keine Rinder mehr hielt, ließ sie zweimal im Jahr mähen und verkaufte das Heu. „Hast du Hunger? Er wandte sich wieder der Besucherin zu. „Ich hab Chili con carne eingefroren, das könnte ich aufwärmen."

    „So hungrig wie ich bin, bräuchtest du dir die Mühe gar nicht zu machen. Wenn du mir ein paar Brocken los klopfst, lutsche ich die auch so."

    Die Küche wurde immer noch von einem Kohleherd beherrscht. Rußgeschwärzte Pfannen und Töpfe, manche davon riesigen Ausmaßes, hingen an der Wand. Auch der Elektroherd, der sich in eine Ecke duckte, wirkte altertümlich.

    „Ah, Fortschritt!", rief Maud bei seinem Anblick trotzdem aus.

    „Die neuen taugen alle nichts." Harriman blieb noch einen Moment stehen, als erwarte er Widerspruch, dann ging er auf die Veranda hinaus, von wo er mit einem reifbedeckten Plastikbehälter zurückkehrte.

    „Man fragt sich, ob du hier schon richtig eingezogen bist. Ein zehnjähriges Provisorium! Und das bei einem Architekten, dessen Mission es war, die Welt zu verändern!"

    „Zu verbessern sogar!" Harriman lächelte und schüttelte versonnen den Kopf. Er nahm einen Topf von der Wand, stellte ihn auf den Herd und kippte den gefrorenen Block Chili hinein.

    „Du warst so ein Perfektionist! Es war furchtbar anstrengend, mit dir zusammenzuleben."

    „Du siehst, ich habe mich gebessert."

    „Da bin ich mir nicht so sicher. Du wirkst ein wenig heruntergekommen, ehrlich gesagt. So ganz allein am Rand der Zivilisation …"

    „Übertreibst du da nicht ein bisschen? Du tust ja gerade so, als wäre ich ein Waldläufer mit langem Bart und speckigen Hirschlederleggings."

    „Viel fehlt nicht, wenn ich mir dich so anschaue! Aber ein Waldläufer wüsste wenigstens, wie man Knöpfe annäht."

    „Ich weiß. Harriman befingerte automatisch das karierte Hemd, das sich nicht mehr ganz schließen ließ. „Aber mit so was warten wir hier in der Wildnis immer auf den Winter.

    „Ist der immer noch so trostlos?"

    „Wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Muss an der Umweltverschmutzung liegen." Er kramte einen Holzlöffel aus einer tiefen Schublade und drehte damit den Eisklotz im Kreis.

    Der lange Tisch musste erst von einem Haufen bekritzelter Blätter befreit werden, bevor sie mit ihren dampfenden Tellern und ein paar dicken Scheiben Weißbrot daran Platz fanden.

    „Arbeitest du an deinen Memoiren?" Maud warf Harriman einen spöttischen Blick zu. „Wäre vielleicht ganz gut, wenn du mich vor der Veröffentlichung einen Blick drauf werfen ließest,

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