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Rote Scherben
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eBook306 Seiten4 Stunden

Rote Scherben

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Über dieses E-Book

1707/08. Porzellan ist ein heiß begehrtes Gut aus dem fernen China, und die Töpferinnung in Rotterdam kann etwas herstellen, was dem nahekommt. Doch das Gerücht verbreitet sich, dass in Dresden nach dem Rezept für echtes Porzellan geforscht wird. Die Delfter Innungsmeister beschließen, dem einen Riegel vorzuschieben. Willem van Ruysdael erhält den Auftrag, nach Dresden zu reisen und das gute Leben der Delfter zu retten. Unerwartet bekommt er Unterstützung von Magdalene. Aber sie hat schon bald gute Gründe, ihre Reise nach Dresden zu bereuen.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum9. Okt. 2023
ISBN9783947141821
Rote Scherben
Autor

Christina Auerswald

Christina Auerswald schreibt historische Romane. Dass es dabei kriminell zugeht, ist keine Frage! Ob historische Skandale, Pleiten oder Morde – alles steckt voller Geschichten. Christina Auerswald ist in einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt aufgewachsen. Von hier führten sie ihre Wege zum Studium der Volkswirtschaft an die Martin-Luther-Universität Halle. Hier bekam sie auch ihre beiden Kinder und lebte fast 20 Jahre in der Saalestadt. Später zog sie für einige Zeit ins Rheinland. Heute hat sie ihren Lebensmittelpunkt in Leipzig.

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    Buchvorschau

    Rote Scherben - Christina Auerswald

    CHRISTINA AUERSWALD

    Rote Scherben

    __________________________________________

    HISTORISCHER ROMAN

    __________________________________________

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

    Rote Scherben

    Von Christina Auerswald

    © 2023 Oeverbos Verlag, Leipzig

    Alle Rechte vorbehalten.

    info@oeverbos-verlag.de

    https://oeverbos-verlag.de/

    Gesamtherstellung: Oeverbos Verlag, Leipzig

    Umschlaggestaltung: Nasta Reiss, Köln

    Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang

    ISBN 978–3–947141–74–6 print

    ISBN 978-3-947141-82-1 ebook

    Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    logo_xinxii

    Inhaltsverzeichnis

    1. Kapitel

    2. Kapitel

    3. Kapitel

    4. Kapitel

    5. Kapitel

    6. Kapitel

    7. Kapitel

    8. Kapitel

    9. Kapitel

    10. Kapitel

    11. Kapitel

    12. Kapitel

    13. Kapitel

    14. Kapitel

    15. Kapitel

    16. Kapitel

    17. Kapitel

    18. Kapitel

    19. Kapitel

    20. Kapitel

    21. Kapitel

    22. Kapitel

    23. Kapitel

    24. Kapitel

    25. Kapitel

    26. Kapitel

    27. Kapitel

    28. Kapitel

    29. Kapitel

    30. Kapitel

    Porzellan und seine Neuerfindung in Dresden

    Leseprobe: Hollandpelzchen

    Zur Autorin

    Abbildungsnachweis

    1. Kapitel

    In der gleichen Stunde, in der Magdalene Lichtenberg an der Bugspitze des Saaleschiffes ungeduldig auf die Öffnung der Trothaer Schleusentore wartete, um ihre Heimatstadt Halle nach über einem Jahr wiederzusehen, entdeckte ein Botenjunge in einem Gasthaus der holländischen Stadt Delft die Leiche eines Mannes, der erst tags zuvor aus Sachsen zurückgekehrt war. Der Tag ihrer Heimkehr und gleichzeitig der Todestag des jungen Mannes, dessen Namen sie nie erfahren sollte, war der 18. Juni 1707.

    Magdalene Lichtenberg erkannte die Spitzen der Türme von Halle, nachdem das Schiff um die Klausberge herum an der Saaleinsel vorbeigefahren war. Ihr Boot war ein zweimastiger Lastensegler, kleiner als das Schiff, mit dem sie die Elbe herabgefahren war. Gaffel- und Rahsegel blieben gerefft, denn der Wind reichte nicht für das Kreuzen, das Boot wurde getreidelt. Acht Männer genügten, um ein Schiff dieser Größe gegen den Strom zu ziehen. Jeder von ihnen hielt das Seil über eine Schulter und stemmte sich dagegen. Das Ufer war flach und sumpfig, für die Treidler hatte man einen Knüppeldamm errichten müssen. Die Männer gingen in kleinen Schritten hintereinander. Das Schiff bewegte sich gleichmäßig, aber nicht schneller als der alte Mann am Stock, der ein Stück weiter oben über die Straße ging. Magdalene wippte ungeduldig auf den Fußspitzen. Die Türme schoben sich so gemächlich in ihr Blickfeld, dass sie sie im Dunst zuerst für das Trugbild hielt, das die Erwartung ihr vorgaukelte. Ihr Herz klopfte heftig, und sie meinte, alle um sie herum müssten es sehen. Auf dem Deck standen außer Magdalene nur die beiden Saaleschiffer, ein Salzhändler in grüner Tuchjacke und eine hagere Alte, die so wie sie den Weg vom Saalhorn nach Halle zu Wasser nahmen.

    Das Schiff besaß nur geringen Tiefgang. Auf dem Hinweg von Halle hatte es Salz geladen gehabt, die Tonnen hatten die Ladefläche bedeckt und waren an den Bordseiten vertäut gewesen. Aus der Schiffswand ragten die Ringe, durch die man sonst Seile zog, um die Salzlasten gegen das Schlingern des Schiffes festzuhalten. Mit dieser Fracht waren die Schiffe unterwegs, so oft es das kostbare Handelsgut erforderte und der Wasserstand des Flusses es zuließ. Stromaufwärts gab es nicht viele Waren mitzunehmen. Die Kohle aus Rothenburg für die Halleschen Siedefeuer war erschöpft, deshalb konnte man die Passage billig bekommen.

    Die Treidler auf dem schmalen Pfad gingen ruhig ihren Weg. Es waren hagere Männer mit groben Jacken und verschlissenen Stiefeln. Sie hoben die Köpfe nicht. Manchmal hörte man sie kurz rufen; ihnen genügte ein »He!« oder »Ab!«, als würden sie die schöne Sprache der Menschen in dieser Gegend nicht beherrschen, das Hallesch, das Magdalene so lange nicht gehört hatte.

    2. Kapitel

    In Delft war inzwischen eine Menge Leute zusammengelaufen, die der Botenjunge mit seinen Schreien aufgeschreckt hatte. Sie standen mit entsetzten Gesichtern um die Leiche des Mannes herum, in dessen Rücken ein Messer steckte, das er sich zweifellos nicht selbst dorthin verbracht hatte. Noch dazu war eine Menge Blut auf die hölzernen Dielen seiner Kammer geflossen und hatte sich als dunkler See um seinen Leib ausgebreitet. Der Doktor, den man rief, berührte den Mann nicht einmal. Der Tote war keine dreißig Jahre alt und trug die soliden Kleider eines Handwerkers, obwohl seine Hände weich und weiß aussahen. Er war schon kalt und das Blut zu einer schwarzen Kruste eingetrocknet. Die Wirtin erklärte, sie habe den jungen Herrn nur ein einziges Mal gesehen, als er das Zimmer gemietet habe. Sie hätte keine Ahnung, wie er hieße, aber sie sei sich sicher, er wäre ein friedlicher Geselle gewesen und bestimmt kein Raufbold.

    In der Menge der Schaulustigen fand sich auch Hendrik de Hoghe, ein Innungsmeister der Töpfer, ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann mit einem gepflegten Vollbart. Der hätte Genaueres über den Mann sagen können, wenn er gewollt hätte. Er galt etwas in der Stadt, deshalb hörten die Leute auf ihn, und es war überhaupt gut, dass in all der Aufregung jemand wusste, was zu tun war. Niemand nahm Anstoß daran, dass er die erregten Gemüter beruhigte und Anweisungen gab.

    Zuerst ließ er das Zimmer von Schaulustigen räumen. Widerwillig verließen die Leute den Platz, um sich vor der Tür umso heftiger allerlei Spekulationen zu widmen, was geschehen sein könnte und wer der junge Mann sei. Der eine oder andere meinte, ihn schon einmal gesehen zu haben, es müsse aber einige Monate her sein. An seinen Namen konnte sich keiner erinnern.

    Hendrik de Hoghe stand einen Moment still vor dem Toten und verrichtete ein Gebet, dann bedeckte er den Leichnam mit einem Tuch, damit dessen Würde nicht länger verletzt wurde. De Hoghe ließ nicht zu, dass ihm eine der Regungen, die ihn durchfluteten, anzusehen war. Der Verlust des jungen Mannes schmerzte ihn zutiefst, aber weitaus stärker schauderte ihn davor, was er angesichts dieses gewaltsamen Todes fürchten musste. Er gab der Wirtin einen Gulden für die Totenwäscherin und die Totenkleider, befahl ihr, über die Umstände des grausigen Geschehens zu schweigen und begab sich zum Innungshaus. Von dort liefen wenige Augenblicke später mehrere Botenjungen in alle Richtungen der Stadt, in jedes Haus, in dem einer der Zunftgenossen wohnte. De Hoghe bat sie, umgehend in das Innungshaus zu kommen. Eine äußerst dringende Sitzung war erforderlich.

    Der Name des Toten in Delft war Martijn Bekker. Diese Tatsache war den versammelten Innungsmeistern der Töpferzunft bekannt, aber nur ihnen, und dort würde sie bleiben. Hendrik de Hoghe als Wortführer stand auf, während er in der Runde der Meister sprach, und damit gab er seinen Vorschlägen den Charakter von Anweisungen. Anfangs war die Frage auf den Tisch gekommen, ob Martijn Bekker nicht ein zufälliges Opfer sei. Ein Räuber hätte es auf sein Geld abgesehen haben können. De Hoghe knurrte die Antwort, und jeder der Innungsmeister nickte, weil er die Wahrheit sagte. Das Geld sei noch dagewesen, der Beutel des jungen Mannes an seinem Gürtel unangetastet. Konnte es Zufall sein, dass dieser junge Mann nach anderthalb Jahren in Dresden ausgerechnet am Tag seiner Rückkehr daran gehindert wurde, über das Ergebnis seiner sorgfältigen Suche zu berichten? Sei ihnen nicht klar, dass genau eines aus seinem Gepäck verschwunden sei, und zwar die Aufzeichnungen über die Entdeckungen, die Bekker bei sich gehabt haben musste?

    Die Innungsmeister nickten bedeutungsschwer, und der eine oder andere rieb sich die Arme, als ob ihn fröstelte. Ja, es sei kein Zweifel, bestätigten sie, Martijn Bekker war gezielt ermordet worden, damit er ihnen nicht Bericht erstattete.

    Das bedeutete, sie mussten etwas unternehmen, um Bekkers Auftrag erneut auszuführen, und zwar ohne Aufsehen zu erregen und die Delfter in Angst und Schrecken zu versetzen.

    Bekkers Bestattung solle schnell und still erfolgen, beschlossen sie. Der Tote besaß weder Frau noch Kind. Er war der Stiefsohn von Hendrik de Hoghe gewesen, gut ausgebildet im Töpferfach und den Meistern treu ergeben. Das waren die Gründe, warum gerade er für die Sache ausgewählt worden war.

    Sie hatten vor anderthalb Jahren in derselben Runde der Innungsmeister gesessen und dem jungen Martijn die Aufgabe anvertraut, und er hatte sie zweifellos genauso ausgeführt, wie es zwischen ihnen allen besprochen worden war. Dass er nun erstochen in seiner Kammer gefunden wurde, bewies, dass am vermeintlichen Erfolg seiner Mission etwas faul sein musste. Die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, dass er aus Dresden einen Verfolger bis nach Delft mit sich gezogen haben musste, was wiederum bedeutete, dass die Dresdner wussten, was Martijn Bekker getan hatte. Spätestens mit seiner Ankunft in Delft kannten sie auch seine Auftraggeber. Der Botenjunge war zu Bekker ins Gasthaus geschickt worden, damit er dem Obersten der Innungsmeister, seinem Stiefvater, endlich Bericht erstattete, da er zum vereinbarten Treffen in der Stunde zuvor nicht erschienen war.

    Hendrik de Hoghe hatte das Gepäck des Mannes mit in ihr Versammlungszimmer gebracht. Es war ein Bündel aus unscheinbaren Kleidern. In der Mitte einer zusammengerollten braunen Jacke fand sich ein Tuch, in das etwas eingeschlagen war.

    Es waren Scherben einer Vase. Die Innungsmeister begannen, sie zu betrachten und zu begutachten. Die Stücke gingen von Hand zu Hand, die Männer schüttelten die Köpfe, murmelten und bekamen rote Gesichter. Der Tote hatte ihnen die Frage, was in Dresden derzeit passierte, mit diesen Scherben hinreichend erklärt. Es war kein Porzellan. Wäre es das gewesen, hätte es kaum jemand bezahlen können. Genau das war das Geschäft der Delfter, dass sie etwas machen konnten, was Porzellan erstaunlich nahekam, aber viel billiger war als die Importe aus China.

    Allerdings waren diese roten Scherben alles andere als beruhigend. Sie waren in höchstem Maße verstörend. Die Vase war mindestens so gut gewesen wie das, was die Delfter machten, und sie ließ vermuten, dass die Dresdner sich nicht damit zufriedengaben. Wenn die Dresdner solche Töpferkunst machen konnten, dann arbeiteten sie an etwas anderem, viel Wichtigerem, das eine Gefahr für ganz Delft werden konnte. Wenn dies so wichtig war, dass jemand den jungen Bekker unbedingt an seinem Bericht hindern musste, dann war die Gefahr groß.

    Die Innungsmeister saßen rot und bleich in ihren Stühlen, sie schwitzen oder froren, und jeder von ihnen wechselte mehrmals die Gefühle zwischen Unglauben und Furcht. Hendrik de Hoghe wusste erneut Rat. Er hielt eine Rede, dass man nicht tatenlos zusehen dürfe, wie die Lebensgrundlage einer stolzen und würdigen Stadt zerstört wurde. Jemand musste her, der besser war als Martijn Bekker. Es musste der Beste von allen sein. Der sollte nach Dresden fahren, herausbekommen, was genau sie dort taten und am besten den dortigen Manufakteuren ihr Handwerk legen.

    Die Innungsmeister murmelten empört. »Ihr wollt doch nicht, dass wir einen hinschicken, der Männer unserer eigenen Zunft umbringt? Zu welchen Sünden seid Ihr bereit?«, schimpfte ein alter Meister.

    »Zu welchen Sünden waren die Dresdner bereit?«, entgegnete de Hoghe. »Sie haben Martijn umbringen lassen. Wir dürfen nicht untätig herumsitzen, bis wir alle betteln gehen, weil niemand mehr unsere schönen Teller und Krüge, unsere Vasen und Schalen haben will. Wollt ihr, dass keiner mehr kauft, was wir im Schweiß unseres Angesichts herstellen? Dass man unsere Werke als wertlos bezeichnet, weil andere etwas scheinbar Besseres beherrschen?«

    Alle Töpfermeister standen auf, riefen und brüllten und reckten die Fäuste in die Luft. »Niemals wird das geschehen!« »Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halte auch die rechte hin, oder was?« »Wollt Ihr wie Schafe zur Schlachtbank geführt werden?«

    Der Tumult war so groß, dass die Magd, die ihre Krüge auffüllen wollte, die Tür erschreckt schloss und unverrichteter Dinge floh. De Hoghe rief seine Leute zur Mäßigung. Die Männer im Raum beruhigten sich, nahmen wieder Platz und lauschten dem Plan des Hendrik de Hoghe, der ihnen einen Ausweg vorschlug. Sie würden einen Boten nach Rotterdam schicken, vier Meilen entfernt von Delft, knapp zwei Stunden zu Pferd. Er habe Kenntnis davon, sagte de Hoghe ruhig, dass es in Rotterdam jemanden gäbe, der die Macht zu außergewöhnlichen Schritten besaß. Das sei die Batavia-Handelsgesellschaft. Diese Gesellschaft pflegte einige unbedeutende Handelsbeziehungen, hauptsächlich deshalb, um ihren wirklichen Geschäftszweck zu verdecken.

    Genau den benötigten sie jetzt.

    3. Kapitel

    Magdalene war so lange fort gewesen, dass es ihr wie Jahre vorkam, dabei waren es nur dreizehn Monate. Jeden Baum am Ufer suchte sie nach Anzeichen des Wiedererkennens ab, und sie fand zuerst ein paar Hütten, die sie schon einmal gesehen zu haben glaubte, dann die Ziegelbauten am Kröllwitzer Ufer und den Turm der kleinen Kirche von Trotha, die von ihrer Anhöhe grüßte. Sie hörte die ersten Halleschen Laute, als jemand vom Ufer den Schiffern Grüße zurief. Die Sonne strahlte hell, als wollte sie Magdalene zeigen, wie sehr auch sie sich freute, dass die junge Frau heimkam. Heim! Endlich heim!

    Sie passierten die Kröllwitzer Fähre und mussten bei Gimritz noch eine letzte Schleuse durchfahren. Die Schleusentore, von einem Pferdegöpel bewegt, öffneten sich unerträglich langsam. Das Wasser strömte hinein und hob das Schiff sanft und beinahe unmerklich an. Als die Schleuse vollgelaufen und das Schleusentor auf der anderen Seite geöffnet war, hatte Magdalene ihre Nägel schon tief in die Handballen gegraben. Ihre Geduld war am Ende, am liebsten wäre sie vom Schiff gesprungen und zu Fuß weitergelaufen. Wo sich der Fluss verbreiterte, beendeten die Treidler ihre Arbeit und die Schiffer fuhren die Ruder aus, um das letzte Stück aus eigener Kraft zu fahren. An diesem heißen Tag lag Windstille über der Saale, und das Schiff näherte sich unter dem sanften Platschen der Ruder gemächlich dem Halleschen Hafen. Es war der Salzhafen unweit der Hallmauer, wo die Stege für die Lastensegler auf derselben Höhe verliefen wie die Karrenwege der schweren Salzfuhren.

    Kaum war das Schiff nahe genug an den Stegen, sprang Magdalene über die Bordwand. Die beiden Schiffer pfiffen ihr gleichzeitig hinterher. Sie konnten nicht wissen, dass es keine tollkühne Vorführung, sondern ein Sprung mit einiger Erfahrung war. Schiffsfahrten hatte Magdalene nicht bloß auf ruhigen Flüssen hinter sich. Sie war die lange Strecke übers Meer von Hamburg nach Rotterdam gefahren und von Amsterdam zurück nach Hamburg. Dagegen nahm sich das bisschen Schaukeln auf Elbe und Saale wie ein Kinderspiel aus. Magdalene war so schnell an Land, dass die Schiffer kaum noch ihr »Auf Wiedersehen!« hören konnten. Nach Hause, alles drängte sie nach Hause!

    Der Weg bis zu ihrem Anwesen war nicht lang. Nur das Stück über die Halle, ein paar lange Schritte die Klausstraße hinauf, dann sah sie ihr Haus. Wie sehr sie es vermisst hatte, spürte sie an der heißen Flut, die bei seinem Anblick durch ihre Adern pulste.

    Einen Moment blieb sie stehen, weil sie zu sehr keuchte. Die Vögel zwitscherten wie verrückt, Karren fuhren polternd auf der Straße, Leute gingen an ihr vorbei. Magdalene konnte die aus dicken Steinquadern gemauerte Wand ihres Hauses sehen, in der sich die Tür zum Spezereiengeschäft befand, darüber im Fachwerk die Fenster der Kammern und des Erkerzimmers. Die Ladentür öffnete sich, ein Mann trat heraus und schloss sie hinter sich. Das Geschäft war also geöffnet.

    Magdalene hatte sich während ihrer Fahrt immer wieder ausgemalt, auf welche Weise sie ihr Haus betreten würde. Durch die Ladentür? Dann würde sie direkt auf den zugehen, der hinterm Ladentisch stand, wer auch immer es war, ihr Mann Jakob oder der Lehrling Andreas. Oder über den Hof? Dann käme sie durch die Küchentür herein, und vielleicht waren Grete oder Mechthild gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten. Auf dem Hof konnte sie Marie treffen, falls das Mädchen nicht in der Stube spielte. Das Wetter war gut genug für ein Spiel im Freien, und sie war sicher, dass Marie auf dem Hof Schnippstein spielte oder Reifen laufen ließ.

    Ehe sie sich auf ihre kleine Tochter freuen konnte, verdunkelte die Erinnerung an den Brief, den ihr Bruder ihr in Amsterdam zu lesen gegeben hatte, ihre Vorfreude. Es mochte sein, dass Marie nicht hier war. Grete hatte im letzten Monat geschrieben, dass ihre kleine Schwester bei ihrem Vater war, bei Daniel Vogeler, weil sie sich um den Haushalt und Marie nicht gleichzeitig kümmern konnte.

    Magdalene nahm sich vor, ihrer ältesten Tochter diese Schwäche zu verzeihen. Alles war wiedergutzumachen, solange Marie gesund war und auf ihre Mutter wartete.

    Magdalene öffnete die Ladentür, und eine dreifache Glocke ertönte. Sie hing über der Tür, das Türblatt bewegte den Schlegel. Das war neu. Das hatten sie früher nicht gehabt. Aus dem Labor hörte sie leichte, leise Schritte, dann erschien eine Frau. Es war eine junge Frau, schlank und hochgewachsen, mit einer Haube, die einen Schatten auf das Gesicht warf.

    Es war Grete, tatsächlich Grete, Magdalenes älteste Tochter. Es war eine unfassbar groß gewachsene Grete mit herben Gesichtszügen. Ihr Gesicht, entstellt von den Narben einer Pockenerkrankung, hatte früher jeden gegraust. Vielleicht lag es an Magdalenes Wiedersehensfreude, vielleicht daran, dass Grete älter geworden war: Die Kerben in der Haut schienen verwachsen zu sein, Gretes Züge waren noch immer gezeichnet, aber nicht mehr zerklüftet.

    Das Mädchen blieb jäh an der Tür vom Labor zum Laden stehen. Ihre Augen weiteten sich, der Mund öffnete sich ohne Ton. Magdalene schob ihr Tuch vom Kopf und ließ ihr Bündel fallen. Sie lief los und Grete auch, und sie fielen sich mit einem Schrei in die Arme.

    In wenigen Tagen würde Grete dreizehn Jahre alt werden. Als Magdalene Halle verließ, war sie noch elf Jahre alt gewesen. Daran dachte sie, als sie ihre Tochter festhielt. Sie flüsterte nur: »Grete, ach, mein Gretchen!« und weinte, schniefte, konnte gar nicht wieder aufhören. Sie streichelte immer wieder den Kopf, die Schultern, rieb über den Rücken ihres Kindes, während Grete an ihrem Hals schluchzte.

    Endlich ließen sie sich los. Magdalene hielt ihre Tochter an den Schultern und streckte ihre Arme. »Grete, was siehst du erwachsen aus!«

    Aus dem eckigen, flachbrüstigen Kind war eine junge Frau geworden, die das Kleid in der Taille eng geschnürt trug. Grete musterte Magdalene ebenso. »Mutter, ach, Mutter!«, flüsterte sie. »Ich habe gebetet und gebetet, dass du wiederkommst. Ich war verzweifelt und habe geglaubt, dass Gott uns verlassen hat. Gestern kam dein Brief, der uns aus der Ungewissheit erlöst hat. Und jetzt bist du schon einen Tag später selbst hier! Was für ein Glück! Oh, Mutter, ich bin so froh!« Sie brach erneut in Tränen aus.

    Erst nach einer Weile nahm Magdalene wahr, dass im Türrahmen des Labors noch jemand stand. In dem jungen Mann erkannte sie mit Mühe Andreas Brodsame, der gerade Lehrling in ihrem Spezereienhandel geworden war, als sie zu ihrer Reise aufbrach. Er musste jetzt siebzehn Jahre alt sein, wenn sie richtig gerechnet hatte, aber sein Blick wirkte älter. Ein breiter Streifen aus Sommersprossen lag quer über seiner Nase. Er zog nicht das lustige Gesicht, das zu den hellbraunen Punkten gepasst hätte, sondern zeigte Erleichterung und gleichzeitig Sorge. »Frau Meisterin«, sagte er gesetzt, »ich bin froh, Euch wiederzusehen.«

    Grete löste sich von ihrer Mutter und nahm ihre Hand. Ihr Lächeln versank. »Mutter, bitte, du bist sicher müde von deiner Reise, aber du musst auf der Stelle mit zu Jakob kommen. Wir fürchten jeden Augenblick das Schlimmste. Es wäre gut, wenn er dich noch einmal sehen könnte, bevor er uns verlässt.«

    Magdalenes Herz, das bis zu diesem Augenblick freudig geklopft hatte, schien zu gefrieren. »Was hat er?«, fragte sie, während sie durch die Küche eilten. Grete zuckte die Schu-tern. Magdalene rannte hinter ihr die Treppe hinauf. Jeder Balken dieses Hauses war ihr so vertraut, als wäre sie nie fort gewesen. Das Knarren der Stufen, die Türklinke, der Geruch in den Mauern, alles war ihre eigene Welt und durchdrang sie mit dem Gefühl, endlich zu Hause angekommen zu sein. Wie hatte sie nur ihre Lieben so lange alleinlassen können?

    Grete öffnete die erste Tür im Obergeschoss. Sie durchquerten Erkerzimmer und Kontor, hinter dem Jakobs und Magdalenes Schlafzimmer lag. Magdalene blieb im Kontor stehen und legte die Hand auf Gretes Arm. Das Mädchen verstand. Magdalene ging allein hinein.

    Aus den Kissen ragte Jakobs Gesicht. Seine Augen waren geschlossen, aber er atmete. Seine Arme lagen reglos auf dem Deckbett.

    Magdalene trat mit vorsichtigen Schritten näher. Behutsam nahm sie am Rand des Bettes Platz. An der Veränderung seines Atems spürte sie, dass er den Besuch bemerkt hatte, aber er öffnete die Augen nicht. Sie betrachtete ihren Mann einen Moment lang schweigend. Sein Gesicht war bleich, er war schmal geworden. Sein kahler Schädel glänzte verschwitzt.

    Magdalene begann, seine Wangen zu streicheln. Jakob öffnete die Augen. Der blasse, verschwimmende Blick erfasste sie, und er blinzelte. Sie beugte sich zu ihrem Mann, ihrem besten Kameraden, und küsste seine Wange. »Ich bin es, die Magdalene«, sagte sie. »Jakob, ich bin wieder da.«

    Ein Stöhnen drang aus seiner Kehle. Sein Blick hielt kurz an ihrem Gesicht inne, fuhr aber an ihr vorbei an die Decke. Jakob hob die Hände und schlug sie vors Gesicht. 

    »Ich bin es wirklich, Jakob, ich lebe. Und du auch. Jakob, ich bin so froh, dass ich wieder zu Hause bin.«

    Da nahm er die Hände vom Gesicht und sah sie an. »Bist du es wirklich, Magdalene?«, flüsterte er. »Bist du wirklich hier? Ich habe so oft von dir geträumt, dass ich jetzt meinen Augen nicht traue.«

    Sie berührte noch einmal seine Wange mit ihren Lippen. »Einen Kuss geben dir deine Traumbilder nicht, oder?«, fragte sie. Sie lächelte ihn an, und tatsächlich fanden seine Mundwinkel den Weg nach oben.

    »Ach, Magdalene!« Jakob schluchzte auf. »Ich war mir sicher, du wärst tot. Und jetzt bist du hier! Meine Frau ist wieder da! Herr im Himmel, ich danke dir!« Seine blassen Augen schwammen.

    »Wie geht es dir?«, fragte sie.

    Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wichtig. Hauptsache, du bist wieder da, du bist heil. Ach, Magdalene, heute ist der glücklichste Tag seit dreizehn Monaten!«

    Ihre Hände fanden sich, sie blieben sitzen, die Finger ineinander verschlungen, die Blicke einander abtastend. Die Sonne strahlte, sie drückte Wärme ins Zimmer und leuchtete jeden Winkel aus.

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