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Eintausend Meilen
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eBook301 Seiten4 Stunden

Eintausend Meilen

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Über dieses E-Book

August 1716.
Eintausend Meilen zu Fuß durch wildes, fremdes Land? Katharina geht, ihr Kind in den Armen, durch eisigen Wind und Kälte. Stefano im fernen China ist ihr Ziel. Schon in Moskau türmen sich schier unüberwindliche Hindernisse. Denkt Stefano als Missionar im fernen Peking überhaupt noch an sie? Wird er sie überhaupt sehen wollen?
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum4. Nov. 2023
ISBN9783911115032
Eintausend Meilen
Autor

Christina Auerswald

Christina Auerswald schreibt historische Romane. Dass es dabei kriminell zugeht, ist keine Frage! Ob historische Skandale, Pleiten oder Morde – alles steckt voller Geschichten. Christina Auerswald ist in einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt aufgewachsen. Von hier führten sie ihre Wege zum Studium der Volkswirtschaft an die Martin-Luther-Universität Halle. Hier bekam sie auch ihre beiden Kinder und lebte fast 20 Jahre in der Saalestadt. Später zog sie für einige Zeit ins Rheinland. Heute hat sie ihren Lebensmittelpunkt in Leipzig.

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    Buchvorschau

    Eintausend Meilen - Christina Auerswald

    Peking, Mai 1716

    Als das blitzende Metall der Klinge auf den Hals traf, gab es ein knackendes Geräusch. Stefano kniff die Lippen zusammen, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, keine Miene zu verziehen. Ein Stöhnen ging durch die Reihe der Jesuiten neben ihm; keinem war es gelungen, reglos zu bleiben. Der Kopf von Pater Crescentio Falcone polterte zu Boden.

    Der Henker trat zur Seite, um dem Gerichtsdiener Platz zu machen, der ein Pergament entrollte und verlas. Ohne einen einzigen Blick auf den Leichnam zu seinen Füßen verkündete der Diener in weit über den Platz zu hörendem Mandarin-Chinesisch, dass mit dem Tod des Verbrechers der Gerechtigkeit und dem Willen des Allerhöchsten Kaisers Kangxi Genüge getan und die Ahnen der Vorfahren besänftigt waren. Der Allerhöchste habe Gnade bewiesen. Als Todesart sei zuerst das Lingchi bestimmt gewesen, der Tod der tausend Schnitte, um zu sterben wie man langsam bergauf geht. Der Kaiserliche Hofastronom Guànjūn Thomas habe jedoch um Gnade gebeten, weil es in dem Land, aus dem sie kämen, nicht üblich sei, langsam Stückchen des Körpers mit dem Messer abzuschneiden, um den Tod zu schenken. Der Allerhöchste habe seine Ahnen befragt und von ihnen die Erlaubnis erhalten, dem Gnadengesuch des kaiserlichen Astronomen nachzukommen und den auf die verdiente Weise vorgesehenen Tod des Verbrechers in eine Enthauptung umzuwandeln. Damit habe man den Ritualen Tribut gezollt, die jedem Menschen von seiner Wiege her bestimmt seien und niemand das Recht habe, sie ihnen zu verwehren.

    Die Jesuiten links und rechts von Stefano senkten bei diesem Satz den Kopf tiefer. Sie hatten die Anspielung verstanden. Mit dieser Gnade beschämte der Kaiser sie alle, weil sie unverdient war. Der Gerichtsdiener rollte das Pergament ein und stieg von dem Podest, auf dem der Henker seiner Arbeit nachzugehen begann und den Leichnam zur Seite zerrte.

    Die Menschenmenge löste sich auf, die sechs Jesuiten blieben stehen. Es war ihnen befohlen worden, der Hinrichtung zuzusehen, also mussten sie auch warten, bis ihnen erlaubt wurde zu gehen. Nicht weit von ihnen entfernt lag der Tempel der Sieben Winde mit dem heiligen Schrein irgendeiner Gottheit, Stefano hatte vergessen, welcher. Einer der kaiserlichen Beamten musste diesen Platz für sie zum Warten bestimmt haben, weil jeder wusste, dass die Anbetung der vielen einheimischen Götter für die Jesuiten schwer zu ertragen war; es sollte also nichts weiter als eine Provokation sein, sie ausgerechnet hier warten zu lassen.

    Dass sie abseits der anderen Leute standen, wäre nicht nötig gewesen. Sie fielen sowieso auf, in erster Linie wegen ihrer teils blonden und braunen Haare und ihrer Körpergröße. In ihrer Heimat war keiner von ihnen besonders groß gewesen, aber hier ragten sie aus der Masse der Chinesen heraus. Sie trugen Kleider, die denen der Einheimischen ähnelten, lange Gewänder, ihrem Wunsch entsprechend dunkel und ohne Stickereien. Niemand von den Umstehenden verstand diesen Wunsch nach Schmucklosigkeit. Wer hier etwas auf sich hielt, zeigte mit der Farbe und kunstvollen Bearbeitung seines Rocks sein gutes Einkommen und die Nähe zum Kaiser.

    Nachdem die sterblichen Reste von Pater Crescentio in einem Korb weggebracht worden waren – Stefano vermied den Gedanken, was man möglicherweise damit tun würde – drängten die Palastwachen die sechs Jesuiten von ihrem Platz fort in Richtung zur Schranke vor der Hinrichtungsstätte. Sie folgten Pater Joachim bis zum Eingang des kleinen Hauses, in dem sie wohnten und ihre Andachten abhielten. Es war eine der Hütten am Rand des Platzes, mit Stroh gedeckt statt mit gebrannten Ziegeln, die man hier in hoher Kunstfertigkeit zu geschwungenen Dachgiebeln auftürmte. Es war eine der Wohnstätten armer Palastbediensteter, von denen es eine unübersehbare Zahl gab, sobald man sich aus der Mitte der Pracht entfernte. Ganze Familien mit drei oder vier Generationen lebten in einer einzigen Kammer, mit rußgeschwärzten Wänden vom Rauch der Herdfeuer, gestampftem Lehm als Fußboden und einem Loch für die Notdurft hinterm Haus. Das Loch störte Stefano nicht, wohl aber das Stroh auf dem Dach. Es regnete an vielen Stellen durch, kaum konnte man die wertvolleren Besitztümer wie die Bibel oder die Messgewänder vor Feuchtigkeit schützen. Es bedeutete auch, dass sie nach jeder Regenzeit das Dach neu decken mussten, weil kein Stroh den Regen dieses Landes länger als eine Jahreszeit lang ertrug.

    Auch dies war ein Zeichen der Geringschätzung; noch vor drei Jahren, hatte man Stefano bei seiner Ankunft erzählt, wohnten sie weit besser, im Palast ganz in der Nähe von Bruder Thomas, bis man sie plötzlich, mit der fadenscheinigen Begründung, die Kartografen müssten sich mehr in der Stadt aufhalten, weiter vom Kaiser entfernte. Die sechs Männer traten über die Schwelle ihrer Hütte. Erst als sich die Tür hinter dem letzten von ihnen schloss, wagte Stefano tief einzuatmen.

    »Was auch immer Pater Crescentio getan hat, dass er dafür sterben musste, ist unrecht«, rief Pater Vincent.

    Pater Dominique runzelte die Stirn. »Das stimmt nicht. Ihm ist sogar die Gnade erwiesen worden, nicht durch das Lingchi zu sterben. Er hat große Sünden begangen, nicht nur nach chinesischem Recht. Er hat gegen seine Gelübde verstoßen und uns und unseren Orden in Misskredit gebracht. Wird man nicht von jetzt an gegen uns alle sprechen?«

    »Was ist mit unseren Verdiensten? Tun wir nicht alles für den Kaiser, was er befiehlt? Haben wir ihm nicht großartige Karten seines Reiches gemacht? Kann er nicht mit unserer Hilfe besser herrschen?«

    »Das verringert nicht die Schuld Pater Crecentios.«

    Stefano fuhr mit der Hand unter seinen Kragen. Er dachte daran, dass Crescentio ihm noch drei Wochen zuvor lachend auf die Schulter geschlagen und gesagt hatte: »Was willst du? Es gehört zu meiner Missionsarbeit, im Geheimen zu wirken.«

    Stefano hatte ihn dringend zur Vorsicht gemahnt. Leider kannte er Crescentio inzwischen gut genug, um sich keine Illusionen darüber zu machen, wie der Mann seine Arbeit auslegte. Er wirkte mit einer Art der Überzeugung, die eher mit seiner Männlichkeit zu tun hatte als mit dem Heiligen Geist. Crescentio war ein schöner Mann gewesen, selbst in den Augen der Chinesen, die den kurzen Lidern der Europäer nichts abgewinnen konnten. Seine blonden Locken und blauen Augen wirkten so exotisch, dass ihm oft die Blicke folgten, anders als bei Stefano, dessen schwarzes glattes Haar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Haar der Chinesen besaß. Sie hatten beide die gleiche schlanke, mittelgroße Figur, aber Crescentio fehlte die Ausstrahlung im Blick, durch die man Stefano insgeheim Zauberkräfte zuschrieb. Selbst wenn Stefano die gehabt hätte, eine Rettung für Crescentio hätte er nicht bewirken können. Der blonde Mann hatte geglaubt, dass er sich das Recht zu seinen Taten nehmen durfte, ja, dass niemand von seinen Vergehen wüsste, nicht einmal seine Brüder.

    Stefano hatte es erkannt. Er sah Zeichen, die sonst niemand sah, das verräterische Rot auf den Wangen, wenn Crescentio vom Gebet zurückkam, das Lächeln, das er nicht verbergen konnte und das ihn seit Monaten aussehen ließ wie einen Schuljungen, eine Art von Grinsen, als hätte Crescentio ein Kraut geraucht, das ihn in eine andere Welt versetzte.

    Das war er wirklich, und Stefano konnte genau sehen, wie gleichgültig dem anderen die Strafe war, die er unweigerlich dafür bekommen würde. Er sah es, weil er selbst schon einmal so gefühlt hatte. Derjenige, dem noch nie so etwas widerfahren war, konnte sich nicht vorstellen, welche Macht der Teufel besaß, wenn er sich den Anschein der Liebe gab. Er machte aus jedem Mann einen dummen Jungen und ließ ihn alle Gelübde vergessen. Crescentio hatte vor zehn Jahren die Priesterweihe abgelegt, in vollem Bewusstsein und großem Ernst alle Gelübde seines Ordens geleistet, und er hatte es ehrlichen Herzens getan. Zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht ahnen können, dass ihm eines Tages diese Frau begegnen würde. Der Teufel konnte die Gestalt einer Frau annehmen, er war in Crescentios Fall in den Körper einer zierlichen Chinesin mit blitzenden schwarzen Augen unter dem langen Lidstrich geschlüpft.

    Anfangs waren Stefano die Chinesen, Männer und Frauen, alle gleich erschienen, bestenfalls an ihren Kleidern zu unterscheiden. Er redete die Leute mit falschen Namen an, beging Fehler beim Aussprechen der Höflichkeitsformeln und ließ Dienern Ehrbezeigungen zukommen, die daraufhin in nervöses Kichern ausbrachen. Er hatte mehrere Wochen gebraucht, bis die Gesichter zu ihm sprachen. Er fand Unterschiede in den Augen, der Miene, der Form des Gesichts und der Nase. Seine Brüder, die schon länger hier waren, meinten, anfangs sei es jedem von ihnen so gegangen, aber Stefano konnte es sich kaum verzeihen.

    Jinjin war der Name der Frau, für die Crescentio entflammt war. Sie war die Tochter des zweiten Palastschreibers auf dem vierten Hof im Regierungsbezirk von Peking, der goldenen Stadt. Der beträchtliche Rang ihres Vaters mochte einer der Gründe für die harte Strafe sein, aber der Hauptgrund war Crescentios Stellung als Jesuit. Früher, in den alten Zeiten, war ein Jesuit, der für den Kaiser arbeitete, unangreifbar. Solche Zeiten waren lange her und der Kaiser war alt geworden. Auch die wunderbaren Arbeiten des Uhrmachers Stadlin und der Kartografen, zu denen die sechs Jesuiten in Pater Joachims Unterkunft zählten, konnten den Erhabenen nicht besänftigen. Seitdem der Papst seine Vorgaben geschärft hatte, war es noch schlimmer geworden.

    Mit demselben Schiff, das Stefano vor vier Monaten in dieses Land getragen hatte, war auch ein Sendschreiben gereist, in dem Papst Clemens sein Vorgehen bekräftigte. Stefano hatte die Tasche bei sich getragen, weil er als einziger Jesuit an Bord gleichzeitig ein Bote war. In der Tasche befanden sich mehrere Briefe an einzelne seiner Brüder, geschrieben von anderen Brüdern sowie Korrespondenten, das Angebot eines Verlegers, der eine Reisebeschreibung Chinas kaufen wollte, und zwei private Briefe. Sie enthielten Nachrichten für Crescentio und Dominique, die beide aus Rom stammten und deren Familien über den Tod eines Vaters, einer Schwester und die Heirat von Brüdern zu berichten hatten. Mit diesen Briefen war Stefano ein willkommener Gast gewesen. Keiner gestand das Heimweh ein, aber alle hatten an jedem Wort der Briefe teil, schlossen beim Vorlesen die Augen und verrichteten stumme Gebete.

    Crescentios Tod, beschlossen sie, würde bekanntgegeben werden, dessen Ursache nicht. Die sechs Männer sahen einander bei dieser Übereinkunft in die Augen.

    »Wir sagen, er wäre an einem Meuchelmord gestorben«, versuchte Vincent.

    Darauf redeten alle durcheinander. »Dann werden sie nach seinem Begräbnis fragen.« »Man wird ihn für einen Märtyrer halten, und er ist alles andere als das.« »Wir dürfen nicht lügen und damit eine Sünde begehen!«

    Es folge ein ratloses Schweigen, bis Joachim sagte: »Er könnte an einer Seuche gestorben sein und sie mussten seinen Leichnam verbrennen.«

    »Dann werden sie nach der Art der Seuche fragen und wie viele gestorben sind«, antwortete Roman.

    »Wir werden überhaupt nichts zur Ursache angeben, dann sündigen wir nicht. Bis es zu einer Nachfrage kommt, wissen wir Rat.«

    »Bruder Simone, du hast jedes Mal den besten Einfall.«

    Stefano lächelte. Er hatte sich daran gewöhnt, dass sie ihn mit diesem fremden Namen anredeten, schließlich war es sein Ordensname. Eine Zeitlang hatte er geglaubt, es sei richtig, dass sein Oberer in Rom ihm diesen Namen gegeben hatte und dass Stefano ihn zur Buße ertrug. Seine Abreise aus Rom war so überstürzt erfolgt, dass er gerade noch Zeit gehabt hatte, sich von seiner Familie zu verabschieden. Es war gut, dass er die Wahrheit über seinen Namen wusste. Seine Mutter hatte ihm, als sie von der Missionsreise erfuhr, endlich von ihrem Vater erzählt, Stefano Bianchi, der rechtzeitig vor dem Gelübde aus dem Orden ausgetreten war und dessen Vornamen er trug. Das also war jener Stefano, der in den Augen von Pater Renardi in Rom ein solcher Sünder war, dass der Pater sich weigerte, einen Enkel mit demselben Vornamen in seinem Orden zu akzeptieren.

    Stefano lächelte, wenn er an seinen Großvater dachte. Mochten sie ihn Bruder Simone nennen, er war Stefano Cavallari und würde es bleiben, auch wenn sie das schlechte Vorbild mit einem neuen Namen auszulöschen versuchten. Sein Großvater war ein stolzer und aufrechter Mann gewesen, dessen er sich nicht schämen musste. Er hatte einen besseren Weg gewählt als Crescentio, der die schöne Jinjin entehrt hatte, nachdem er vier Jahre lang in Peking den katholischen Glauben zu verbreiten versuchte. Jinjin hatte zwei Wochen zuvor einem Kind das Leben geschenkt, das eindeutig europäische Züge trug, und ihr eigener Vater hatte es ein Geschenk des Himmels genannt, dass sie bei der Geburt gestorben war. Das Kind war ihr fünf Tage später gefolgt, und Stefano zweifelte nicht daran, dass das ihrer Familie eine Erlösung war. Es war unerwünscht gewesen, der personifizierte Beweis für eine grauenhafte Sünde. Wie hatte Crescentio nur glauben können, dass es einen guten Ausgang nahm? Hatte er gedacht, man würde Jinjin unbehelligt mit einem solchen Kind in ihrem Haus wohnen lassen, so nah beim Kaiser, dessen Wohl die einzig bedeutende Aufgabe im Leben von Jinjins Vater war und der mit Offenbarung der Schande seine Stellung verloren hatte? Jinjin, von Crescentio getauft, hatte am Ende ihres Lebens den Trost der letzten Ölung aus seiner Hand erhalten, aber ehe sie ihren letzten Atemzug tat, war ihr das Kind schon entrissen und Crescentio verhaftet gewesen. Das heimliche Verhältnis war durch die unvermeidlichen Aufregungen der Geburt entdeckt worden, und Crescentio, der sich einbildete, sein Orden würde ihn schützen können, hatte nicht einmal mehr eine Beichte ablegen können.

    Nun war er also tot, und aus den sieben Jesuiten in der kleinen Hütte unterhalb der Mauern des vierten Hofes waren sechs geworden. Tagsüber arbeiteten sie an der Fertigstellung der großen Karten, die die Ergebnisse der monatelangen Vermessungsarbeiten in verschiedenen Teilen Chinas enthielten. Stefano begleitete die anderen in die Stube der Zeichner, wo auf ihre Bitte hin große Tische nach europäischem Vorbild angefertigt worden waren, an denen sie arbeiten konnten. Er war im Zeichnen und in der Kartografie nicht gebildet genug, um ihnen eine echte Hilfe sein zu können, aber es gab sonst nichts, was er tun konnte. Sein Auftrag war gewesen, die Missionsarbeit zu stärken, und er hatte sich vorgestellt, dass er in eine kleine Gemeinde irgendwo auf dem Land gehen und als Priester arbeiten würde. Er kannte aus seiner früheren Arbeit für Pater Renardi die Berichte, die zwei ihrer Missionare aus China geschrieben hatten, und glaubte, auf die Gefahren und Schwierigkeiten vorbereitet zu sein. Aber die Berichte, aus denen er sein Wissen zog, waren einige Jahre alt; die Verhältnisse hatten sich geändert, für die Arbeit der Jesuiten eindeutig zum Schlechten. Seine hiesigen Brüder hatten ihn aufgeklärt, dass es keine Gemeinde gab, die er betreuen konnte. Die wenigen Christen im Land, die sich hatten bekehren lassen, waren in den festen Händen einiger würdiger Jesuiten mit langer Erfahrung, und die Aussichten, neue Gläubige zu gewinnen, gering.

    Warum, hatte Stefano nicht gefragt. Er machte sich lieber sein eigenes Bild, und die ersten Schlussfolgerungen zog er aus ihren Gesprächen und auch daraus, worüber sie eben nicht sprachen. Er war Zeuge gewesen, wie sie das Sendschreiben des Papstes eröffnet und immer wieder vorgelesen hatten. Es ging um die Riten der Einheimischen. Wenn man neue Christen gewänne, schrieb der Papst, dann müsse man sie auch vollständig im wahren Glauben erziehen und von ihnen verlangen, dass sie ihren Götzen abschworen. Zu den Götzen gehörten auch die Götter, als die sie ihre verstorbenen Ahnen ansahen.

    Davon hatte Stefano in den Berichten an Pater Renardi gelesen. Merkwürdig, dass die Sache eine ganz andere Bedeutung bekam, wenn man sich selbst in dem Land befand! Er sah, dass seine Brüder auf die Worte im Sendschreiben hin schwiegen. Sie diskutierten nicht darüber, suchten nicht nach Auslegungen, lasen nur vor. Das fand Stefano seltsam. Er hätte es getan, und er wäre auch dem Argument entgegengetreten, dass die Worte eines Papstes nicht auslegungsbedürftig seien. Dabei musste er vorsichtiger sein als jeder andere, wenn es um das richtige Verhalten gegenüber einer päpstlichen Weisung ging.

    Der Gehorsam gegen den Papst war das entscheidende Gelübde jedes Jesuiten, und in Rom hatte man Stefano für kurze Zeit unterstellt, genau jenes Gelübde gebrochen zu haben. Es war die schlimmste Zeit in Stefanos Leben gewesen, jene Tage in der Klause, in denen er mit dem Gedanken gespielt hatte, eine Todsünde zu begehen und seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Es waren die Tage nach dem letzten Wiedersehen mit Katharina.

    Stefano erinnerte sich genau an die kurze Zeitspanne, als er ihren Anblick zum letzten Mal genießen durfte. Sie stand in Pater Renardis Zimmer, wo der Obere den feinen Besuch empfangen hatte, und tat, als könne sie nur polnisch sprechen. Daher hatte man Stefano gerufen. Stefano war zu diesem Zeitpunkt seit drei Tagen bei Wasser und Brot in der Klause eingesperrt und hatte mit dem Leben abgeschlossen. Geblendet vom Licht und kaum Herr seiner Füße, war er dem Scholaren in Pater Renardis Zimmer gefolgt. Katharina zu erkennen, im Gegenlicht eines strahlenden Sommertages, hatte ihm beinahe die Sinne geraubt. Sie war es, sie war es wirklich. Ihre Haut hatte unter der Sonne Italiens die vornehme Blässe verloren, und ihre dunklen Augen leuchteten stärker als je zuvor. Sie war voller Mitgefühl für ihn, er hörte es aus ihrer Stimme, sah ihren zarten Mund, den er noch vier Tage zuvor leidenschaftlich geküsst hatte, und musste alle Kräfte aufbieten, um dem Pater ein paar Sätze auf Latein zu sagen und damit in seiner Rolle als Dolmetscher glaubhaft zu bleiben.

    Pater Renardi hatte etwas gemerkt, sei es, dass er den Blickwechsel zwischen ihnen deutete oder die Länge der Übersetzung bezweifelte. Nachdem Katharina fort war, öffnete er hinter Stefano die Tür der Klause und sagte kalt: »Du bist dem Teufel erlegen. Der Teufel hat die Gestalt dieser Frau angenommen, und du hast nicht genug Stärke gehabt. Nicht nur, dass du es an Gehorsam gegenüber dem Papst hast fehlen lassen, du bist auch nicht keusch gewesen. Ich werde Monsignore Agnelli von diesem Vergehen unterrichten. Du wirst aus der Gemeinschaft der Brüder Jesu ausgeschlossen.«

    Das war der tiefste Punkt in Stefanos Leben. Er hatte geglaubt, er sei bereit, jeden Preis für Katharina zu zahlen, aber er hatte nicht gewusst, dass es so wehtun würde. Er verbrachte die Stunden dieser Nacht damit, gegen die Versuchung anzukämpfen, sich das Leben zu nehmen. Die Bibel seines Großvaters, sein größter Schatz, sein Trost und sein Glück, enthielt auch jenes aus einem Pflanzenextrakt gepresste Mittel, das ihm einen leichten Übergang ins Jenseits verschaffen würde.

    Er tat es nicht. Er murmelte immer wieder einen Satz, den sein Großvater in dieses Buch geschrieben hatte. »Wenn der Tod dich nicht als Sieger antrifft, soll er dich wenigstens als Kämpfer finden.« Das rettete ihm das Leben. Am darauffolgenden Tag war irgendetwas passiert. Er erfuhr kurz danach, was es war. Zuerst spürte er das veränderte Benehmen Pater Renardis, der am Mittag kam und ihn persönlich aus seiner Klause befreite.

    »Du wirst eine neue Mission erhalten, Bruder Simone«, sagte er, und es war keine Rede mehr davon, dass Stefano aus dem Orden ausgestoßen werden sollte. »Vier Stunden bekommst du, um dich vorzubereiten, dann geht dein Schiff.«

    Stefano war nicht in der Lage gewesen zu sprechen. Mit seinen nächsten Worten gab Pater Renardi ungefragt Antwort auf die Frage, die Stefano am meisten auf der Seele brannte. »Deine polnische Gräfin war noch einmal hier. Sie hat Monsignore Agnelli gestanden, dass sie irgendeinen Führer der Aufstände in Polen heiraten wird. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich habe geglaubt, du wärst wie dein Großvater dem Teufel erlegen, aber die Frau hat bloß teuflisch viel Mut. Sie hat unfassbar viel für ihren Grafen und dessen Mission getan.«

    Keine Entschuldigung, nur diese Worte. Sie hatten Stefano die Freiheit gebracht, aber sie hatten ihm auch ein Messer ins Herz gestoßen. Er hätte es wissen müssen. Katharina hatte alles nur für Kasimir Orlowski getan; die Sache mit Stefano mochte für sie ein Ausrutscher sein. Sie hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie ihren Grafen heiraten wollte, wie es seit langem beschlossen war. Stefano und sie waren monatelang zusammen unterwegs gewesen, und immer wieder hatte sie von der Heirat mit ihrem Kasimir gesprochen. Erst auf der letzten Etappe ihrer gemeinsamen Reise waren Stefano und Katharina sich nähergekommen. Im Gebirge zwischen Graz und dem Alpenpass, während der Übernachtung in einer Höhle, waren sie einander verfallen. Stefano hatte von Anfang an gewusst, dass es für Katharina nicht das gleiche war wie für ihn. Er liebte sie mit ganzer Seele, seit er sie zum ersten Mal auf ihrem stämmigen Pferdchen hinter sich reiten gehört hatte, aber sie war eine jener oberflächlichen Frauen, die die Unterwerfung eines Mannes unter ihre Schönheit für selbstverständlich hielten. Sie hatte die Begegnung mit ihm genossen, das hatte sie gesagt und seinen Körper begehrt. Aber sie hatte ihm nicht Gleiches mit Gleichem vergolten. Sie war nicht von der unstillbaren Sehnsucht durchdrungen, die er von sich kannte. Sie sah nicht sein Bild vor sich, wenn sie einschlief. Trotzdem liebte er sie mit jeder Faser und konnte den Gedanken, dass sie keine richtige Frau, sondern die Hülle für den Angriff des Teufels auf ihn war, kaum ertragen. Doch war es so.

    Vier Stunden blieben ihm. Er brauchte nichts packen, weil er nichts außer seiner Bibel besaß, und die hatte er bei sich. Er nutzte die vier Stunden, um seine Mutter zu besuchen. Er fand bei ihr, was er nicht erwartet hatte: Herzenswärme und große Nähe. Stefano war nur der vierte von fünf Söhnen, er hatte immer geglaubt, ihr nicht besonders viel zu bedeuten, aber in diesen Stunden gab sie ihm alles zurück, was er je vermisst zu haben glaubte. Sie erzählte ihm von seinem Großvater, von dessen Wunsch und Vermächtnis, ausgerechnet diesen einen ihrer Söhne vor allen anderen auszuzeichnen. Dieser eine sollte tun, was

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