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Die 12 Leben des Daniel Vogeler
Die 12 Leben des Daniel Vogeler
Die 12 Leben des Daniel Vogeler
eBook418 Seiten6 Stunden

Die 12 Leben des Daniel Vogeler

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Über dieses E-Book

Daniel Vogeler, 1668 in Hamburg geboren, hat eine schöne Stimme, und das Singen heilt die Schmerzen, die ihm die Widrigkeiten seines Lebens zufügen. Er glaubt, einen guten Charakter zu haben, aber etwas stimmt nicht. An eine gewisse Zeit seines Lebens kann er sich nicht erinnern, und manchmal erscheint ihm im Traum ein Wolf mit gefletschen Zähnen. Dann wacht er schweißgebadet auf und fragt sich, warum ihm beim Anblick eines Gehstocks so merkwürdig zumute ist und ob ihn Magdalene, sein Lenchen, von seiner Schuld retten kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum30. Okt. 2023
ISBN9783947141906
Die 12 Leben des Daniel Vogeler
Autor

Christina Auerswald

Christina Auerswald schreibt historische Romane. Dass es dabei kriminell zugeht, ist keine Frage! Ob historische Skandale, Pleiten oder Morde – alles steckt voller Geschichten. Christina Auerswald ist in einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt aufgewachsen. Von hier führten sie ihre Wege zum Studium der Volkswirtschaft an die Martin-Luther-Universität Halle. Hier bekam sie auch ihre beiden Kinder und lebte fast 20 Jahre in der Saalestadt. Später zog sie für einige Zeit ins Rheinland. Heute hat sie ihren Lebensmittelpunkt in Leipzig.

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    Buchvorschau

    Die 12 Leben des Daniel Vogeler - Christina Auerswald

    Das Haus im Petriviertel

    Daniel Vogeler zögerte, nahm die Mütze ab und knüllte sie in der Linken, ohne es zu merken. Der Wind fuhr ihm durchs Haar und wirbelte eine der kastanienbraunen Strähnen herum, und die silbernen Fäden darin glitzerten in der schwachen Morgensonne. Er war kurz vor dem Ziel seiner Reise, aber im letzten Augenblick schienen seine Kräfte zu versagen. Marie hielt seine andere Hand. Eigentlich hätte er sie festhalten müssen, es war seine Pflicht als Vater, aber in Wahrheit war er in diesem Augenblick zu schwach für diese Aufgabe. Marie war seine Stütze, sein Halt, ohne sie hätte er es nicht einmal bis in diese Straße geschafft. Sie blieb neben ihm stehen und sah ihn fragend an.

    An diesem Morgen im März 1715 blies der Wind nicht so kalt wie in jenem ersten Jahr, das er fern von hier verbracht und das ihn beinahe das Leben gekostet hatte. Überhaupt war der Wind im Norden ein anderer. Er blies stärker und landeinwärts. Die Luft trug den Geruch nach Meer und Salz mit sich, und am Ende des Winters brauchte es lange, ehe der Frühling darin zu riechen war. Wo er heute wohnte, brachen in diesen Tagen die ersten Knospen auf, die Buschwindröschen entfalteten ihre weißen Blüten auf den federnden Waldböden und die Amseln begannen zu jubeln. Hier noch nicht.

    Daniel war trotz der Frühjahrskälte von Dresden hierher aufgebrochen, und er fragte sich erneut, ob er das Recht besaß, der zarten Marie die Beschwerlichkeiten dieser Reise zuzumuten. Sie waren die Elbe hinabgefahren, obwohl noch Reste von Eis auf dem Wasser lagen. Auf dem Schiff empfand man die Kälte stärker, denn die Feuchtigkeit trieb sie wie Nadeln in die Knochen. Der frostklirrende Wind zwang die Passagiere, die meiste Zeit unter Deck zu verbringen, wo es eng war und nach Rattenkot stank. Sie hatten das Schiff im Hamburger Hafen erst vor einer Stunde verlassen, und da sie mit wenig Gepäck reisten, brauchten sie die Entladung der Fracht nicht abzuwarten. Vom Pier waren sie zu Fuß in die Stadt hineingegangen, zwischen den Türmen der Kirchen, den Fassaden von Lagerhäusern und Wohn-häusern aus rotem Backstein hindurch bis ins Petriviertel, bis in die Straße, deren Staub er vor dreiunddreißig Jahren zum letzten Mal von seinen Schuhen gewischt hatte.

    Daniel konnte sich vom Anblick des verwitterten dreistöckigen Hauses nicht lösen. Dreißig Schritte entfernt war er stehengeblieben, obwohl der Wind blies und Maries Kleid um ihre Beine wehte. Vor seiner Tochter durfte er sich keine Blöße geben. Er würde sich entscheiden müssen, ob er hineinging oder nicht, und wenn er ging, musste er mit ihr gemeinsam gehen. Sie würde alles hören und bei allem zusehen, was in diesem Haus geschah.

    Es mochte sein, dass sie in wenigen Augenblicken, wenn drinnen die Sache auf den Tisch kam, die Achtung vor ihm verlor oder schlimmer, dass sie ihn verabscheute, dass sie sich auf dem Absatz umdrehte und einfach fortging. Es mochte auch sein, dass es gut endete, aber er hatte keine Vorstellung, was gut in diesem Fall bedeutete. Sicher blieb, dass es ein Ende haben musste, so oder so.

    Der Anblick des Hauses presste seine Brust so sehr zusammen, dass er kaum atmen konnte. In den letzten Wochen hatte er sich mehr denn je gefragt, was daraus geworden war, aber nie ohne das drückende Gefühl von Schuld zu empfinden. Er hatte erwartet, es zerstört oder eingefallen zu sehen, verkauft, umgebaut, verschandelt. Seit er das letzte Mal durch diese Tür getreten war, mussten dreiunddreißig Jahre ihre Spuren hinterlassen haben, sowohl an diesem Haus, als auch an den Menschen, die darin gelebt hatten.

    Aber an seinem Elternhaus schien die Zeit vorübergegangen zu sein, ohne es zu berühren. Es sah aus, als wäre eben die Morgenröte jenes 15. Juli 1682 aufgezogen, als hätte er gerade die Tür vorsichtig hinter sich zugezogen, um nicht das kleinste Geräusch zu erzeugen. Die grünen Fensterläden waren geöffnet, die kleinen Scheiben der geteilten Fenster blinkten im Morgenlicht, die glatten Schindeln deckten das spitze Dach lückenlos. Dreiunddreißig Jahre waren eine lange Zeit im Leben eines Menschen. Daniel war nicht mehr vierzehn Jahre alt. Er war siebenundvierzig.

    Vieles war geschehen. Ein Mann von siebenundvierzig weiß um die Endgültigkeit von Entscheidungen und dass eine jede Konsequenzen hervorruft. Der vierzehnjährige Daniel, den er noch immer in sich spüren konnte, wusste das nicht. Vor ihm lag die Welt offen und bestand aus einer Ansammlung von Möglichkeiten, die zu ergreifen er nur die Hand ausstrecken musste. Das Recht, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, wog schwerer als die Leiden anderer. Einen Vierzehnjährigen kümmert nicht, ob sein Weggang eine Flucht ist; es ist ein Schritt in die Zukunft. Ein Vierzehnjähriger will leben; er meint, alle Verantwortung ausschlagen zu dürfen.

    »Ist das das Haus, in dem du geboren wurdest, Vater?«, hörte er Marie fragen. Marie sprach wenig, aber sie erfasste alles rings um sich mit Feingefühl. Sie hatte sich in seinen dunkelsten Stunden auf den Stuhl neben sein Bett gesetzt. Nachdem er ihr gestanden hatte, dass ihn eine alte Schuld quälte, hatte sie lediglich gefragt, wann sie fahren würden. Seine Tochter verstand ihn ohne viele Worte.

    Vor jener dunklen Nacht hatte er niemals erwähnt, dass er von hier stammte. Er redete nie über Vergangenes. Seine Stimme hatte den norddeutschen Klang längst verloren, und kaum jemandem gegenüber erwähnte er seine Kindheit. Lene kannte ein paar Fakten, aber selbst ihr hatte er nur von seinem Irrweg erzählt und nicht von dessen Beginn, der Nacht auf den 15. Juli 1682.

    Daniel stieß den Spazierstock in den Staub der Straße. Er ging niemals ohne einen Spazierstock, der nach der neusten Mode gemacht war. Derzeit waren schwarze Stöcke mit Silberbeschlag am beliebtesten. Dass er mit einem Stock ging, hatte mit diesem Haus zu tun, und dass ihm die Verbindung zu Bewusstsein gekommen war, verdankte er seltsamerweise einem Hochwasser der Elbe im Jahr zuvor.

    Daniel fühlte die Schuld auf seiner Brust liegen wie eine Zentnerlast. Es musste ein Ende haben. Viel zu lange waren die schlimmsten Erinnerungen so tief vergraben gewesen, dass sie nur als dumpfe schwarze Masse auf sein Herz drückten, bis sie sich ihren Weg als Traum bahnten. Der Traum war ein Wolf gewesen, ein gespenstischer, bedrohlicher Wolf.

    Nun stand ihm wieder alles vor Augen. Er wusste noch, welche Farbe die Jacke gehabt hatte, die er an jenem Morgen anzog. Sie war braun gewesen, mit einer schwarzen Kante; einen Flicken auf dem Ellenbogen hatte er einer Prügelei auf dem Schulhof zu verdanken. Um den Hals trug er das grüne Tuch wie jeden Tag. Er sah die Möbel im Schreibzimmer seines Vaters vor sich, den dunklen Schrank mit den Büchern, den Tisch, die schweren Stühle und die Geldkassette auf dem Tisch, leer bis auf einen einzigen Groschen. Er roch noch den allgegenwärtigen Weizen, als würden die Säcke, mit denen sein Vater zu Hunderten handelte, im Haus lagern und nicht in den Speichern am Hafen.

    »Ja«, er nickte Marie zu, »in diesem Haus bin ich geboren.«

    Erstes Leben: Springinsfeld

    Die Weizenhandlung des Claus Vogeler im Petriviertel von Hamburg hatte ihr Entstehen einem stattlichen Erbe zu verdanken. Damit hatte er das Haus gekauft und den Handel begründet, und da Gott ihm außerdem eine reiche Kaufmannstochter zur Frau schenkte, sagte man den beiden Kindern eine glänzende Zukunft voraus, selbst dann noch, nachdem ihre Mutter starb, ehe die Kinder halbwüchsig waren. Claus heiratete ein zweites Mal, um eine Mutter für die beiden zu haben, für die Ältere, Kathrine genannt, und den Jüngeren, der wie sein Vater Claus hieß.

    Die neue Frau, die zwanzigjährige Marie Ernestine Eib, konnte er sich leisten zu heiraten, obwohl sie kein Geld mitbrachte. Es sei eine Herzensheirat, munkelten die Nachbarweiber, und die Händler der Gilde schüttelten die Köpfe über die Unvernunft des Claus Vogeler, der eine reiche Witwe hätte bekommen und seinen Handel verdoppeln können.

    Es schien zunächst, als hätten die Kaufleute unrecht. Marie Ernestine brachte Claus zum Singen, und der Handel ging ihm so leicht von der Hand, dass sich sein Wohlstand auch ohne reiche Heirat mehrte. Sie bekamen bald ein Kind, einen Jungen, den sie Daniel nannten. Im eisigen Februar des Jahres 1668 ertönte der erste Schrei dieses Jungen in Vogelers Haus, und Claus Vogeler war außer sich vor Freude. Der neugeborene Daniel war im Besitz aller Glieder, wog mehr als fünf Pfund und krähte bei seiner Taufe laut durch das Kirchenschiff von Sankt Petri. Er hatte dieselben kastanienbraunen Haare wie seine Mutter und schon von Geburt an dieselbe Augenfarbe wie sein Vater, ein tiefes Grau. Der Vater übergab den Neugeborenen zur genaueren Inspektion stolz den vier Paten, die er ausgiebig bewirtete: ein Kaufmann aus seinem Viertel, ein Rechtsgelehrter der Universität Marburg, der sich hier niedergelassen hatte, die Frau eines Ratsherrn und die unverheiratete Schwester des holländischen Gesandten. Neben dem ersten bekam Daniel also vier weitere Vornamen, nämlich Cord Heinrich Julius Amadeus, die ersten beiden nach den Vornamen seiner männlichen Paten, die beiden anderen auf Wunsch der Frauen. Fünf Vornamen bedeuteten Sicherheit und Wohlstand, mehr Namen hatten nicht einmal die Kinder der Patrizierfamilien im Nikolaiviertel.

    Der Name Julius war aus dem Namen der ersten Patin gebildet worden, die Julia hieß und eine gebürtige Genuesin war. Der Name Amadeus stammte aus der Feder der Holländerin, die von allen Paten die reichste war. Ihr mochte man nicht widersprechen, obwohl der Name ungewohnt klang. »Der Name bedeutet, er wird Gott lieben«, erklärte die Dame mit fester Stimme und dem harten, nach Röcheln klingenden Akzent der Holländer, »das Beste wäre, aus ihm würde ein Priester, wo Ihr doch für den Handel schon einen älteren Sohn habt, Herr Vogeler.«

    Claus Vogeler, der seine heftige Abwehr vor der Dame verbarg, überdachte in den darauffolgenden Wochen ihre Äußerung. Es mochte sein, dass seine Liebe zu diesem Kind ihm den Blick verstellt hatte, denn was sie sagte, klang vernünftig. Sein älterer Sohn war bereits zehn Jahre alt und zeigte alle Anlagen eines guten Kaufmanns. Es gab keinen Grund, den Neugeborenen zum jüngeren Teilhaber zu machen, wenn dadurch das Vermögen geteilt werden musste. Das solide Einkommen eines Gottesmanns, wenn es ihnen gelänge, eine gute Pfarrei für Daniel zu bekommen, konnte besser sein als das ungewisse Schicksal eines Kaufmanns.

    In den folgenden Monaten fuhr das Glück fort, über dem Vogelerschen Haus zu lachen. Frau Marie Ernestine sang und trällerte durch die Stuben, dass es Claus Vogeler jedes Mal das Herz wärmte, wenn er heimkam. Der kleine Daniel wuchs und gedieh, die Weizenernte im Sommer versprach gut zu werden, und das wiederum ließ auf einen gewinnbringenden Handel hoffen. Die Preise gingen zurück, als das Angebot groß war, aber dafür gab es weit größere Mengen an Weizen zu verkaufen. Viele Städte füllten ihre Kornspeicher für Notzeiten auf, wenn das Getreide billiger war, und Claus Vogeler besaß gute Verbindungen zu den Hansestädten entlang der Elbe, die für solche Geschäfte in Frage kamen. Täglich ging er zum Hafen, prüfte Schiffsladungen und siegelte Kontrakte. Er besaß zwei große Speicherhäuser und war in der Lage, wenn nötig, weiteren Speicherplatz zu mieten.

    Einen Teil des Weizens bezog er aus den moskowitischen Ländern, einen anderen von den Bauern in der fruchtbaren Börde, und seine Abnehmer waren zahlreicher als die Finger dreier Männer. Er hielt sich viel auf seine Buchführung zugute, obwohl er Schwierigkeiten mit dem Lesen hatte. Rechnen konnte er ausgezeichnet, am besten im Kopf, und wenn das nicht reichte, unter Zuhilfenahme einiger Finger. Das Schreiben und Lesen lag ihm nicht, wegen der winzigen Buchstaben, die vor seinen Augen zu hüpfen begannen und sich in ein undurchdringliches Gewirr von Hell und Dunkel verknoteten. Seinem Erfolg tat dies keinen Abbruch. Überdies beschäftigte er Schreiber, die sich um die Bücher kümmerten.

    Daniel lernte zwischen Weizensäcken laufen. Seine Mutter ging tagsüber oft mit ihm auf Besuch zum Vater, der sich um das Be- und Entladen seiner Schiffe kümmerte. Sie trug stolz den blütenweißen patrizischen Kragen, obwohl der längst aus der Mode gekommen war. Die boshaften Nachbarn behaupteten, es läge daran, dass sie vom Stand her nach oben geheiratet und keine Ahnung von solchen Dingen hätte. Marie Ernestine machte sich nichts aus Geschwätz. Sie liebte Kleider in leuchtenden Farben und bestimmte selbst, was sie für schön hielt.

    Claus schenkte seiner Frau und seinem kleinen Sohn alle Aufmerksamkeit. Claus der Jüngere, den man in der Sprache der Stadt zur Unterscheidung meist nur de Jong nannte, und Kathrine, die auf ihren zwölften Geburtstag zuging, störten seine Freude an der neuen Familie, denn sie waren nie so vergnügt wie Marie Ernestine, lachten nicht bei ihren Späßen und mochten in ihren Gesang nicht einstimmen. Zwischen dem Tod ihrer Mutter und seiner neuen Heirat hatten zwei Jahre gelegen, sodass die Trauerzeit längst vorüber war. Claus Vogeler verstand nicht, warum seine älteren Kinder immer noch die Mundwinkel hängen ließen. Er hatte Kathrine befohlen, die Schule zu verlassen, denn für ein Mädchen wusste sie genug. Vor allem wusste sie besser zu lesen und zu schreiben als ihr Vater, das mochte er nicht täglich vor Augen gehalten bekommen. Deshalb arbeitete sie im Haus und wurde gründlich in allen Tätigkeiten unterwiesen, die ihr eines Tages für ihren eigenen Haushalt nützen würden. Er besaß Mägde für solcherlei Unterweisungen, und Kathrine war beschäftigt.

    Mit Claus de Jong war es schwieriger. Der Junge zeigte in der Lateinschule kaum Ambitionen. Auf eine gewisse Weise konnte sein Vater das verstehen, denn die Schule war auch ihm ein Graus gewesen. Aber um seinem Ruf als reicher Händler gerecht zu werden und für die Nachfolge zu sorgen, war de Jong zu einem halbwegs akzeptablen Schulabschluss verpflichtet.

    De Jong sah das anders. Die Schule war ihm lästig und auch nach Hause kehrte er nicht gern zurück. Er konnte in der neuen Frau seines Vaters keine Spur mütterlicher Fürsorge entdecken; ihm schien, als gelte ihr Interesse ausschließlich ihrem eigenen Kind. Mit seiner Schwester hockte er abends in der Nähe des alten Ofens, schweigend und mit verschränkten Armen, bis ihnen gestattet wurde, ins Bett zu gehen. Seine Anteilnahme galt einer Beschäftigung, die sich der Kenntnis des Vaters entzog; er lief, wenn die Schule beendet war und ihn daheim niemand erwartete, in die Nähe des Hafens, wo es einen Schmied gab, der ihm das Zusehen bei seiner Arbeit nicht verwehrte. De Jong liebte das Schmiedefeuer. Er sah, wie die Gluthitze des Feuers hartes Eisen in eine rotglühende, formbare Masse verwandelte. Er sah, welche Kraft hinter einem Hammerschlag des Schmieds steckte, der mit diesem groben Gerät Eisen in neue Formen brachte. Einmal hatte der Schmied ihm erlaubt, den schweren Schmiedehammer anzuheben; de Jong hatte ihn nicht einmal vom Boden zu bewegen vermocht. Das wurmte ihn. Er begann, seinen Körper zu stärken, indem er, wo er konnte, schwere Dinge anhob. Der Schmied gab ihm dazu den einen oder anderen Rat, denn dass es wichtig war, die Dinge auf die richtige Weise zu packen und aufzuheben, verstand sich schon beim Zuschauen.

    De Jong war ein eifriger Schüler. Er übte Lasten auf den Schultern zu tragen beharrlicher, als er jemals für irgendeine Lateinübersetzung paukte. Zunächst eigneten sich für diese Übung die Weizensäcke in den Lagerhäusern seines Vaters, die er schon nach wenigen Wochen auf die Schultern heben, später durch das Lagerhaus tragen und zu Dutzenden stapeln konnte. Das Umstapeln der Säcke gehörte zu den täglichen Arbeiten in Vogelers Lagerhäusern, und de Jongs Hilfe wurde gern angenommen. Man stapelte um, um mögliches Ungeziefer zu beseitigen – Mäuse lieben Weizen – und um die Wärme zwischen den Säcken zu kontrollieren. Immer wieder kam es vor, dass ein Lagerhaus abbrannte, weil sich unter bestimmten Umständen die dicht gepackten Säcke so erhitzten, dass ein Feuer ausbrach. So war die Gegend am Hafen, wo die Öffnungen in den Backsteinwänden von Flügeltüren und Seilwinden umkränzt waren, eher de Jongs Heimat als das Haus im Petriviertel.

    Der Vater, dem die Anstrengungen seines Sohnes im Lagerhaus zugetragen wurden, war zufrieden. Schon immer hatte er mehr auf praktische Fähigkeiten gegeben als auf theoretische, und er verzieh dem Sohn deshalb die schlechten Noten der Lateinschule. Als der Rektor ihn vier Jahre später zu einem ernsten Gespräch lud und eindringlich die Mängel des jungen Claus aufzählte, lachte er nur. De Jong durfte die Schule verlassen.

    Claus, der Vater, mochte seinen älteren Sohn gern, aber den jüngeren liebte er. Daniel war ein fröhliches Kind, das die Herzen der Menschen mit seinem Lachen eroberte. Er lachte ebenso viel wie seine Mutter. Er strahlte, wenn er sie sah, und ließ sich noch im Alter von drei Jahren auf dem Arm tragen. Wenn Claus Vogeler seine Frau deshalb ermahnte, perlte ihre Stimme übermütig: »Wenn ich ihn runterlasse, verschwindet der kleine Springinsfeld, und ich finde ihn nicht wieder.« Dann konnte auch sein Vater nichts mehr sagen, denn gegen das liebliche Lachen war er machtlos.

    Daniel war fünf Jahre alt geworden, ohne dass er weitere Geschwister bekommen hatte. Zweimal war seine Mutter in anderen Umständen gewesen, hatte zwei Kinder tot zur Welt gebracht. Seine Eltern beteten dafür, dass ihnen wenigstens Daniel erhalten blieb.

    Gott erhörte sie. Der Junge blieb gesund, weder Krätze, Schwindsucht noch Pocken suchten ihn heim. Eher als er Worte formulieren konnte, gingen ihm die Melodien seiner Mutter ein, und so sang er schon als Dreijähriger aus vollem Hals Lieder, deren Sinn er erst später verstehen lernte. Überhaupt lernte er leicht; er verstand es, sich bei sämtlichen Mitgliedern des Haushalts, bei allen Mägden, Hausknechten und Arbeitern in den Lagerhäusern beliebt zu machen.

    Sogar seine Halbschwester Kathrine war ihm zugetan und steckte ihm hin und wieder Leckereien aus der Küche zu oder ließ sich eines seiner Geschenke verehren, Dinge wie die Feder einer Eule oder ein Stück buntes Glas.

    De Jong ignorierte den Kleinen. Dass sie denselben Vater hatten, machte Daniel in de Jongs Augen nicht gleich zu einem Verwandten. Dass jedermann Daniel für seinen wachen Verstand lobte und dass er schon als Fünfjähriger mit einem Stück Blei aus dem Kontor Pergamente mit merkwürdigen Bildern vollschmierte, ärgerte ihn. Er sah, dass alles verschwendet war, was immer Daniel verbrauchte oder benutzte, das teure Papier, das Blei, die Kreide. Wenn der Kleine zu de Jong kam, der nach dem Ende seiner Schulzeit in Vaters Kontor arbeitete, dann tat der junge Claus so lange, als ob er ihn nicht sah, bis es dem Kind langweilig wurde. Wenn Daniel ihm Leckerbissen aus der Küche oder einen Fund aus dem Hafen brachte, Steine oder Knöpfe, dann nahm er die Dinge entgegen und lächelte nicht einmal. Erst, als den Kleinen ein schlimmes Schicksal traf, ein ähnliches, wie ihm selbst zugestoßen war, fand er Mitgefühl.

    Marie Ernestine Vogeler war ein weiteres Mal mit einem Kind schwanger. Daniel war fast sechs Jahre alt, de Jong war sechzehn und Kathrine siebzehn. Claus Vogeler hätte kein weiteres Kind gebraucht, strotzten doch die drei in seinem Haus vor Gesundheit. Er war seiner Marie Ernestine zugetan wie am ersten Tag und konnte nicht aufhören, sie zu begehren.

    Sie hatte ihre Fröhlichkeit nicht verloren, obwohl die Schwierigkeiten ihres Haushalts wie Brandung an den Klippen immer wieder an ihr zu nagen versuchten. Die Mägde richteten es; eine kluge Altmagd und eine gefüllte Schatulle verhinderten, dass Marie Ernestine sich um Fragen bemühen musste, die sie nicht überblickte.

    Dieses Mal fiel der Tag der Niederkunft mit dem Beginn des neuen Jahres zusammen. Sie hatten die Glocken auf Sankt Petri das Jahr 1674 einläuten hören, als Frau Marie Ernestine in die Wehen fiel; zum Ende desselben Tages lag sie noch immer in unsäglichen Schmerzen. Claus Vogeler hörte ihre Schreie aus dem oberen Stockwerk des Hauses, in das er sich nicht wagte. Er ging in der Küche auf und ab und schaute nicht hin, wenn die Mägde mit immer neuen Schüsseln von heißem Wasser treppauf und mit blutgetränkten Tüchern treppab gerannt kamen. In der Nacht auf den zweiten Januar stellte sich die Altmagd neben ihn und zog ihn am Ärmel. Ohne dass sie ein einziges Wort sagte, wusste Claus Vogeler, was die Stunde geschlagen hatte.

    »Wenn Ihr sie noch einmal sehen wollt, wäre es jetzt Zeit«, murmelte die Alte. Er folgte ihr die Treppe hinauf und erschrak angesichts der Unordnung in seinem Schlafzimmer und der bleichen Gesichter ringsum. Keine der Frauen, weder die Hebamme noch die Mägde, hatten in den vergangenen dreißig Stunden ein Auge zugetan, auch nicht seine Frau. Das Kind steckte noch in ihrem Leib, und die Hebamme, die auf jede erdenkliche Art versucht hatte, den Fötus herauszuziehen, war am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt.

    Marie Ernestine öffnete kurz die Augen, als Claus neben ihr niedersank, und schon allein das schien die letzte Kraft aus ihr zu saugen. Mit rissigen Lippen murmelte sie: »Sieh zu, dass etwas Anständiges aus Daniel wird«, und verschied.

    Der kleine Daniel schlief nebenan in der Kammer. Niemand hatte sich in den letzten Stunden um ihn gekümmert. Er spürte, dass ein furchtbarer Einschnitt sein Leben getroffen hatte. In der hinteren Ecke seines Zimmers rollte er sich ein, die Decke aus dem Bett um sich gehüllt. Das Knistern der Wände, das Heulen des Eiswinds und das Klackern der Schritte auf der Treppe waren sein Schlaflied. Die Geräusche drangen mit aller Macht in seine Träume. In diesen Stunden träumte er zum ersten Mal von einem Wolf, der ihn verfolgte, das Maul weit aufgerissen, und so schnell er auch lief, der Wolf blieb ihm auf den Fersen. Diese Nacht blieb wie mit Bleilettern in sein Herz geprägt, mehr als der Gang zum Friedhof, bei dem er das Heulen vieler alter Weiber hörte, seinen Vater weinen sah und wo er nicht verstand, was die hölzerne Kiste mit seiner Mutter zu tun haben sollte.

    Von dieser Zeit an änderte sich Daniels Leben grundlegend. Nicht nur, dass das Singen seiner Mutter fehlte; auch der Vater veränderte sich. Er wurde zu dem grimmigen Knauser, der schon früher in ihm gesteckt haben mochte. Eine Magd kümmerte sich um Kleidung und Essen für den Kleinen, und Daniel war den Rest des Tages sich selbst überlassen. Mit seinen sechs Jahren wäre er alt genug gewesen, die Schule zu besuchen, aber niemand kam auf den Gedanken, sich darum zu bemühen. Für eine Weile war Kathrine Daniels Halt. Sie sang zwar keine Lieder, aber sie sprach mit ihm, kämmte ihn und hörte sich seine Schilderungen von Spielen und Streifzügen an. Das Mädchen hatte hellblondes, beinahe weißes Haar, und auch ihre Brauen und die Farbe ihres Gesichts leuchteten hell. Die Farbe ihrer Augen war in ein Grün übergegangen, von braunen Sprenkeln durchsetzt, das die Blicke der Leute auf sich zog. Ihre Glieder waren gerade, die Gestalt schlank und die Zähne weiß und voll-ständig.

    Aus diesem Grund hatte sie schon mit siebzehn mehr Verehrer, als dem Vater lieb war. Mehrmals musste er junge Männer vertreiben, die sich ohne jeden Zweck vor dem Haus aufhielten. Einem nahm er ein Sträußchen frisch gepflückter Blumen ab, ein anderer hatte versucht, dem Mädchen über eine der Hausmägde einen Brief zukommen zu lassen. Bevor sie einem dieser Galane erlag, musste er sie unter die Haube bringen, also wartete er nicht lange und machte mit dem ersten ernstzunehmenden Anwärter den Ehevertrag fest. Kathrine Vogeler galt als reich, obwohl das Glück den Weizenhändler vom Todestag seiner Frau an verlassen hatte. Bis zu Kathrines Hochzeit im Sommer des Jahres 1675 hielt Claus Vogeler den Anschein des Wohlstands aufrecht. Sie heiratete einen Tuchhändler aus einer der reichen Gilden der Stadt, kaum zehn Jahre älter als sie und wohnhaft in einem weit entfernten Zipfel des Nikolaiviertels. Diese Distanz war für den kleinen Daniel zu groß. Er sah seine Halbschwester nicht mehr.

    Claus Vogeler schickte seinen Jüngsten erst mit acht Jahren in die Schule. Er kam nicht auf den Gedanken, dass der Kleine bereits lesen konnte. Der hatte sich in den Monaten zuvor dort aufgehalten, wo es ihm die Laune eingab, und einer seiner liebsten Plätze war das Zimmer seiner Mutter, das jetzt leer stand. Hier befanden sich vier Bücher, aus denen ihm die Mutter früher vorgelesen hatte. Daniel fragte jeden, den er sah, nach der Bedeutung der Zeichen, und der Hausknecht, der lesen gelernt hatte, konnte es ihm sagen. So brachte sich Daniel Vogeler im Alter von sieben Jahren in vielen einsamen Stunden selbst das Lesen bei. Wenn er las, empfand er die Einsamkeit nicht. Wenn er eines der Wörter entziffert hatte, war es, als hörte er die Stimme seiner Mutter. Er murmelte das Wort, das er aus Buchstaben zusammengesetzt hatte, immer wieder und lauschte dem Klang nach.

    Wenn er nicht im zweiten Stock seines Elternhauses hockte, spielte er draußen zwischen den Häusern. Ihm war gleich, ob seine Spielkameraden die Kinder von Fischern oder Patriziern waren. Die meisten, mit denen er angelte oder Schiffe aus Schilf baute, gingen in Lumpen gekleidet, die wenigsten von ihnen trugen Schuhe, schon gar keine ledernen wie er. Sie lehrten ihn grobe Schläge einzustecken, zu schwimmen und Holz zu schnitzen, und er brachte ihnen weiches Brot und Zuckerkringel. Mehr als einmal verschenkte er sein Eigentum und lachte, wenn man ihn dafür ansah, als wäre er im Kopf nicht richtig. Als Gegenleistung erbat er sich Lieder. Wenn eines der Kinder ein Lied für ihn sang, meinte er den anderen Gesang zu hören, den von früher, und war in eine Wolke aus Wohlbefinden gehüllt.

    Niemand kümmerte sich um ihn. Die Mägde hatten genug damit zu tun, den Niedergang des Hauses zu verbergen. Der Vater verschwand gemeinsam mit de Jong am Morgen aus dem Haus, verbrachte den Tag im Kontor und in den Lagerhäusern und kehrte in der halben Nacht zurück. De Jong war ernst und still wie seit jeher und ein kräftiger Mann mit breiten Schultern geworden. Die kindische Anliegen seines Halbbruders, die er unermüdlich zu besprechen versuchte, strengten ihn nur an. Was interessieren einen Mann, der sich Gedanken um die Verschiffung von zehn Wispeln Weizen machen muss, die Splitter von Feuersteinen? Was kümmert einen Mann, der in seinen wenigen freien Stunden am liebsten zu einer alten Schmiede wanderte, das Betteln eines Kindes um ein Stück Papier?

    Der Vater erinnerte sich der Pläne, die er einst mit Daniel gehabt hatte. Die holländische Patin hatte dem Jungen einen kleinen Betrag hinterlassen, den der Vater für eine gute Pfarrstelle anzulegen gedachte. Bis dahin verwahrte er die Münzen in seiner Schatulle unterm Bett. Daniel würde eines Tages Pfarrer werden, so viel war sicher, und das entsprach auch dem Gelöbnis, das er seiner Frau am Sterbebett gegeben hatte.

    De Jong hatte seine Freude am Schmieden behalten. Längst war er stark genug, selbst den Schmiedehammer zu schwingen. Nichts konnte ihn davon abhalten, jede freie Minute in der heruntergekommenen Schmiede zu verbringen. Er wusste, dass sein Vater die Sache nicht gutheißen würde, und behielt sie deshalb für sich. Selbst an den Sonntagen, wenn das Schmiedefeuer gelöscht blieb, hockte er sich zu dem alten Schmied, der Freude daran hatte, sein Wissen mit einem Jüngeren zu teilen. Draußen in St. Georg fühlte sich de Jong wohl, aber das Geschäft war sein Erbe, er würde eines Tages den Weizenhandel fortführen. Anders als sein Vater kannte er die Kniffe derjenigen, die auf der Waage mit zusätzlichem Blei betrogen, in den Lieferscheinen Striche hinzufügten und die Liefertermine verzögerten, um den Preis hinaufzutreiben. Nichts von allem erregte ihn, denn es gehörte zu Gottes Plan, sein Schicksal zu tragen.

    Gottes Plan hatte auch für das Leben seines kleinen Bruders gesorgt, den de Jong mit milderem Blick betrachtete als früher. Seit der Kleine in die Schule ging, war er beschäftigt und raubte ihm keine Zeit mehr mit nichtigen Anliegen. Ein- oder zweimal im Monat kam der Junge in die Lagerhäuser. Er lauschte dort, das konnte de Jong an seinem abwesenden Blick sehen, aber worauf, war ihm ein Rätsel. Ein Lied klang nicht hier; nirgends mehr erklang Gesang, in den Lagerhäusern nicht und erst recht nicht in Vogelers Haus im Petriviertel.

    Das Vermögen genügte noch, um gerade so über die Zeit zu kommen. Daniel ging mit sauberen Kleidern in die Schule und schrieb mit seinem Graphit wunderschöne Buchstaben auf die Schiefertafel. Das passte, denn er würde Pfarrer werden, ein Tintenpisser, zu dem solche wunderlichen Neigungen passten. Nicht nur das Schreiben und Lesen, auch andere von Daniels Fähigkeiten schienen sich wie erhofft in die künftige Laufbahn einzufügen. Das Singen, das der Junge ausgezeichnet beherrschte, konnte für jede Gemeinde ein großer Gewinn sein. Es würde ihm, sah der alte Claus Vogeler voraus, den Weg zu einer einträglichen Pfarrei ebnen.

    Zweites Leben: Gymnasiast

    Als der Junge zwölf war, besuchte der Rektor der Lateinschule den Weizenhändler, und dieses Mal war es andersherum. War es zu de Jongs Schulzeit darum gegangen, dass die Leistungen für den Abschluss nicht genügten, so hörte Claus Vogeler nun erstaunt die Nachricht, dass sich sein Jüngster in der Schule langweile, weil er den Stoff längst beherrschte und die anderen Schüler mit Späßen vom Lernen und Beten abhielt. Niemand nahm ihm das übel, die Schüler so wenig wie die Lehrer und der Rektor, denn Daniel besaß dasselbe Strahlen im Blick, mit dem seine Mutter die Menschen bezaubert hatte, dasselbe unbekümmerte Auftreten, um das ihn jeder beneidete.

    Der Rektor schlug vor, ihn auf das höhere Gymnasium zu schicken. Bei diesen Fähigkeiten sei es angebracht, sagte er, und im Übrigen für die geplante Laufbahn als Priester, die allseits bekannt war, der richtige Weg. Dass der frühe Wechsel auch für seine Schule gut war, verschwieg er, denn die Disziplin von vierzig oder fünfzig Kindern in der Schulstube ließ sich kaum aufrechterhalten, wenn ein auf Störung bedachter Schelm wie Daniel in ihrer Mitte saß.

    Der Vater erschrak. Das Schulgeld fürs Gymnasium betrug ein Mehrfaches von dem der Lateinschule, und zudem war gerade eine größere Flaute in seiner Kasse eingetreten. Ein wichtiges Geschäft hatte sich als Fehlschlag erwiesen. Der Weizen, den er verkauft hatte, war bei der Ankunft im Kornhaus einer großen Stadt verdorben, und nun erhielt er keinen einzigen Pfennig für die Ware, die ihn sechshundert Taler gekostet hatte. Er widersprach nicht und sagte dem Rektor nicht, wo ihn der Schuh drückte. Als strenger Protestant begab sich Claus Vogeler schnurstracks in die Petrikirche und klagte seinem Gott im Stillen, in Wahrheit ohne Gnade zu erhoffen, denn dass Gott seinen Schutz von den Vogelers genommen hatte, wusste der Weizenhändler schon seit dem Tod von Marie Ernestine. Er betete, weil er sich keinen Rat wusste.

    Beim Heimkommen hörte Daniel den Vater rufen. Mit gesenktem Kopf trat er vor ihn. Der Vater sagte: »Es geht um deine Zukunft, mein Sohn.«

    Daniel sah ihm in die Augen. Das hatte er lange nicht mehr getan. Sonntags, wenn sie zusammen den Gottesdienst besuchten, standen sie nebeneinander und beteten, aber sonst waren sie sich kaum einmal nahe genug, um miteinander zu reden. Die Mahlzeiten nahmen sie getrennt ein, denn Daniel aß in der Abenddämmerung bei den Mägden in der Küche wie zu den Zeiten, als er ein kleines Kind gewesen war, und der Vater aß mit de Jong halb in der Nacht im großen Esszimmer.

    Geschäftliches gab es zwischen ihnen nicht zu besprechen, weil Daniel nicht für das Geschäft vorgesehen war. Aber der jüngere Sohn wusste über die Finanzen der Familie besser Bescheid als er jemandem verriet; Daniel kannte die kleine Schatulle unter dem Bett seines Vaters, er las die Briefe von Gläubigern und Vertrauten, die an die private Adresse gingen, und hörte den Vater und de Jong im großen Esszimmer reden.

    »Ihr könnt ihn nicht aufs Gymnasium schicken, Vater«, hatte er am Abend zuvor de Jong sagen hören, »das können wir uns nicht leisten.«

    »Was soll aus dem Jungen werden, wenn nicht Priester?«, fragte der Vater zurück. »Ich habe seiner Mutter versprochen, dass etwas Anständiges aus ihm wird.«

    »Etwas Anständiges wohl, aber nicht, dass er genau diesen Weg einschlägt«, erwiderte de Jong. »Es gibt andere Wege, die uns weniger Geld kosten.«

    »Wenn nötig, werde ich das Geld seiner Patin für das Schuldgeld verwenden.«

    »Und danach? Von welchem Geld soll er Theologie studieren oder sich in eine Pfarrei einkaufen?«

    »Das wird sich finden«, murmelte der Vater, aber in seiner Stimme schwang Zweifel. Daniel konnte kein Wort mehr zwischen den beiden hören, obwohl die Löffel in der Suppe klapperten, die sie sich immer

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