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Die Ehe der Barbara Körner
Die Ehe der Barbara Körner
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eBook416 Seiten6 Stunden

Die Ehe der Barbara Körner

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Über dieses E-Book

Ein Hochwasser bedroht die Papiermühle von Wissfeld. Müller Körner beginnt zu beten und leistet er ein verhängnisvolles Gelöbnis. Plötzlich droht ein lang gehütetes Geheimnis um das Entstehen der Mühle ans Licht zu kommen. Barbara, seine älteste Tochter, wird misstrauisch. Aus Totz willigt sie ein, den Lumpensammler Velten zu heiraten, merkt aber bald, dass auch Velten ihr nicht die Wahrheit sagt. Was wird hier gespielt? Wem kann sie vertrauen?
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum31. Okt. 2023
ISBN9783911115001
Autor

Christina Auerswald

Christina Auerswald schreibt historische Romane. Dass es dabei kriminell zugeht, ist keine Frage! Ob historische Skandale, Pleiten oder Morde – alles steckt voller Geschichten. Christina Auerswald ist in einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt aufgewachsen. Von hier führten sie ihre Wege zum Studium der Volkswirtschaft an die Martin-Luther-Universität Halle. Hier bekam sie auch ihre beiden Kinder und lebte fast 20 Jahre in der Saalestadt. Später zog sie für einige Zeit ins Rheinland. Heute hat sie ihren Lebensmittelpunkt in Leipzig.

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    Buchvorschau

    Die Ehe der Barbara Körner - Christina Auerswald

    1. KAPITEL

    Zu Beginn des Weihnachtsfestes 1697, zwei Tage vor dem verhängnisvollen Gelöbnis des Papiermüllers Körner, sah es in Wissfeld an der Brieg so aus wie jedes Jahr um die Heilige Nacht. Die Äcker lagen kahl und still, gelegentlich schreckte der Ruf eines Eichelhähers die Feldmäuse auf, und die Menschen blieben wegen der Dunkelheit in ihren Häusern und Höfen. Buchen, Erlen und Eschen standen unbelaubt an den Hängen, und die wenigen Fichten ragten wie dunkle Fahnen aus den Hügeln. Der Winter hatte bisher kaum Schnee gebracht, die Eisdecken auf den Pfützen blieben zerbrechlich. Häuser und Katen rings um die Jakobuskirche lagen in friedlicher Feiertagsruhe, Rauch stieg aus den Schornsteinen, und nichts deutete auf das kommende Unheil hin. In der Stube des abseits gelegenen Wohnhauses oberhalb der Papiermühle, bei der siebenköpfigen Familie des Müllers Hans Georg Körner, brannte ein helles Feuer im Kamin, und alle murmelten das Tischgebet vor dem guten Essen in jener oberflächlichen Dankbarkeit, die dem für selbstverständlich gehaltenen Wohlstand entspringt. Die kleine Überschwemmung, die sich an der Brieg abzuzeichnen begann, schien zu den gewöhnlichen Schwankungen des Wasserspiegels zu gehören, die jemanden, der am Fluss lebt, kaum aufregen.

    Während der letzten Stunden des Heiligabends legte sich das Wasser in harmloser Weise um die Stämme der Weiden am Ufer. Von dort kroch es über die Äcker und bahnte sich im Lauf der Nacht unbemerkt den Weg ins Dorf, zuerst in Gestalt kleiner Pfützen in die Gärten hinter den Häusern. Als nächstes wand es sich als Bach über Wege und Plätze, über die Schwellen der Häuser und an den Eingang des Schulzimmers hinterm Pfarrhaus. Am Morgen des ersten Weihnachtstages besaß jedes neu entstandene Gewässer eine Strömung, die sich beschleunigte, je höher der Wasserspiegel wuchs.

    Kaum einen Tag später schlugen die Fluten der Brieg jede bisher markierte Wasserhöhe. Niemand im Dorf, weder die Körners noch die weniger begüterten Familien, hatten eine Möglichkeit, sich zu wehren, niemandem blieb etwas anderes übrig als seine Habe zu sichern, zu warten und zu beten. Das Wasser drang in Wohnhäuser und Hütten ein und verscheuchte die Menschen von allen tiefer gelegenen Plätzen. Das Vieh brüllte angstvoll aus den Ställen. Vom Morgen des zweiten Weihnachtstages an stand Hans Georg Körner in seiner Mühle und musste mitansehen, wie das Wasser dem Gebäude auf dem sanft ansteigenden Fahrweg immer weiter entgegenkam. Er sah zu, wie unweit seiner Mühle die Kate von Bernt, einem seiner Tagelöhner, von Wasser eingekreist wurde, und er rief warnend hinüber, bis Bernts Frau sich endlich überzeugen ließ, mit dem jüngsten Kind im Arm durch das knietiefe Wasser zu entkommen. Nach Stunden des Widerstands brach die aus Lehm gemauerte Hütte zusammen, und Bernt stand mit seiner Familie ohne Dach über dem Kopf da.

    Das Wasser drang zur Mühle vor, erreichte die Stufen vor der Tür, kletterte binnen weniger Momente daran empor und überwand auch die letzte von ihnen. Das Haus war nicht mehr zu schützen. Die Papiermühle stand nahe am Ufer, um die Kräfte des Wassers nutzen zu können, und dieser Aufgabe war der kleine Fluss mit dem Namen Brieg bisher jederzeit auf die erhoffte Weise nachgekommen. Er trieb seit dreiundzwanzig Jahren das schwere Wasserrad an, das die Hämmer des Stampfwerkes auf die Lumpentröge niedergehen ließ. Die Brieg, sonst ein friedliches Gewässer, wurde an diesem zweiten Weihnachtstag 1697 binnen weniger Stunden zu einem reißenden Ungeheuer.

    Hans Georg Körner stand auf dem gestampften Lehmboden des Mühlraums, nicht bereit, seinen Platz zu verlassen. Unter der Türritze hindurch drang Wasser in den Raum, Körner sah es auf den Boden fließen und ansteigen und war nicht in der Lage, sich zu regen. Ebenso wenig wie Bernts Frau von ihrer Kate konnte er sich von der Papiermühle lösen, an der sein Herz hing.

    Von Mittag an stand er mit beiden Stiefeln in der trüben Brühe, die durch seine Mühle floss, und fluchte. Die Flüche wären geeignet gewesen, eine gläubige Seele in Aufruhr zu versetzen, aber niemand konnte den Papiermüller hören. Körners gottlose Rufe wurden vom Brausen des Wassers übertönt. Es gab nichts, was er noch tun konnte, längst waren die Türen von innen mit Balken verkeilt, die Fenster vernagelt. Alles, was nicht zu schwer war, stand auf Tischen, Bänken und Fensterbrettern oder war auf den Dachboden geschafft worden. In der Mühle lag die Finsternis des verschlossenen Hauses als schwarzer Block, nur die Insel des flackernden Lichts aus seiner Laterne wanderte mit dem Müller. Draußen herrschte tiefe Dezembernacht. Er war allein, hatte seine Männer heimgeschickt, jeder von ihnen musste sich in der Stunde der Not um seine eigene Familie kümmern.

    Das Hochwasser hatte sich an den meisten Orten still ausgebreitet, an der Mühle aber, wo das Wasser in einen Kanal geleitet wurde, brauste es von Anfang an laut. Das Rauschen des Flusses, sonst vom gleichmäßigen Rumpeln des Mühlrads begleitet, glich inzwischen einem barbarischen Tosen.

    Zwei Stunden, nachdem das Lehmwerk der Tagelöhnerkate in den Fluten versunken war, brach die Nacht herein. Körners Frau Lindel hatte für Bernts Familie ein Lager in ihrem Stall bereitet, obwohl sie sich erst einmal um sich selbst hätte sorgen müssen. Sie war hochschwanger, im Februar erwarteten die Körners ihr sechstes Kind. Zum Jammern war Lindel nicht gemacht, ihre eigene Gesundheit war ihr in diesem Moment gleich. Sie schleppte Decken für Bernts Kinder heran und ließ die Mägde eine warme Suppe kochen. Samt des Jüngsten hatte Bernt acht Kinder, sagte man, aber Hans Georg Körner hätte beim Anblick der sonst quirlig herumstreunenden Bande nicht beschwören können, ob es nicht auch sieben oder neun sein konnten. Angesichts des Unglücks waren sie alle stumm und folgsam wie Lämmer. Lindel war gutherzig, sie pflegte jeden kranken Spatz gesund und hätte nicht ertragen, wenn Bernts Familie die Nacht im Freien verbringen müsste. Wo auch? Jeder in Wissfeld bangte um sein Hab und Gut, sicherte seinen Besitz, schleppte Balken und Sandsäcke. Niemand hatte Platz übrig, weil jede vor dem Wasser sichere Stelle mit Kisten, Bänken und Tischen belegt war.

    Der Papiermüller stand fast bis zu den Knien im Wasser. Er spürte die Nässe an seinen Beinen nicht, registrierte nicht einmal die Dunkelheit. Viel zu sehr traf ihn das Tosen von draußen, das die Balken seiner Mühle ächzen und stöhnen ließ. Er würde die Mühle nicht verlassen. Wenn sie so wie Bernts Kate in dieser Nacht zusammenbrach, dann wollte er mit ihr untergehen. Diese Mühle war sein Leben. Er hatte sie aufgebaut, als er ein junger Mann war, hatte sie mit allem, was er besaß, geschaffen und war jedes Risiko eingegangen, um seinen Traum von der eigenen Papiermühle zu erfüllen, und seitdem tat sie unentwegt ihren Dienst. Körner kannte jeden Balken, jedes Stück Mauer, jedes Zahnrad der Mechanik besser als seine Rocktasche. Er konnte sich ein Leben ohne diese Mühle nicht vorstellen.

    Das schwere Wasserrad drehte sich so schnell, dass er meinte, es schreien zu hören. Der Wasserspiegel erreichte fast die Höhe seiner Achse, und wenn er dort angekommen war, würde das Wasser in die Mechanik eindringen. Das wäre der Tod der Mühle. Die Mechanik, ihr Herz, das den Pulsschlag vorgab, das ständige Hämmern, das er noch im Schlaf hörte, war von nichts so gefährdet wie von Hochwasser. Am Oberlauf der Brieg hatte es vor Jahren eine weitere Papiermühle gegeben; sie hatte den Tod durch ein Hochwasser erlitten und war nie wieder aufgebaut worden.

    Körner zog die Stiefel durch das Wasser und bewegte sich auf die schwere Spindelpresse zu. Auch du, dachte er, stehst mit den Füßen im Wasser und kannst genauso ertrinken wie ich. Wenn sie kommt, die Brieg, dann werden wir gemeinsam untergehen, nicht wahr?

    Er lehnte sich an einen der offenen Balken des Fachwerks und ließ seinen Blick schweifen. Das Licht seiner Laterne, die er auf dem Balken abstellte, flackerte vom Luftzug. Das Fluchen hatte er eingestellt, seit einer Stunde war er stumm wie ein Fisch. Er begriff, dass es Zeit war, die letzte Instanz um Hilfe zu bitten.

    »Herr Gott im Himmel«, Körner faltete die Hände, »ich bitte dich, ich flehe dich an, lass die Mühle stehen. Ich gelobe, dir zu dienen bis zu meinem letzten Tag. Alles, alles, will ich dir geben, o Herr! Verlange jedes Opfer von mir! Aber lass die Mühle stehen und mach mich nicht zu einem Bettler!«

    In diesem Moment knackte es, und Körner meinte schon, der erste Balken würde sich aus seiner Verankerung lösen. Aber es war nur das Fenster zum Hang, das der einzige Weg in die Mühle war, wo er doch die Tür hatte verkeilen müssen. Die Fensterflügel öffneten sich und Barbara kletterte herein. Sie hatte die Röcke bis zu den Knien gerafft und trug Körners alte Stiefel. Ihr rotes Haar war vom Wetter zerzaust. Hinter ihr lag die Schwärze der Nacht, und der eisige Wind heulte. Obwohl es in der Mühle keine Wärmequelle gab, erweckte der Raum den Eindruck, noch immer Schutz zu bieten. Hans Georg Körner lief ein Schauer über den Rücken, weil das Fauchen des Sturms durch das geöffnete Fenster drang.

    »Vater!«, Barbara sprang vom Fensterbrett ins Wasser, dass es bis zu ihm hinüberspritzte. Das Wasser reichte ihr über die Knie und lief in die Stiefel.

    »Mädchen, was machst du hier?«, fuhr Körner seine älteste Tochter an.

    »Vater, du solltest nicht hier sein. Du kannst nichts ändern. Komm zurück ins Haus, da oben sind wir sicher.«

    »Solange die Mühle nicht gerettet ist, gibt es für mich keine Sicherheit.«

    Sie haschte nach seiner Hand, ergriff sie und hob sie an ihre Wange. »Du willst sie nicht im Stich lassen, nicht wahr?«

    »Ich kann nicht, Barbara. Meinst du, ich könnte ertragen, oben am Fenster zu stehen und zuzusehen, wie sie zusammenbricht? Was hat mein Leben dann noch für einen Wert?«

    »Es hat noch genauso viel Wert wie vorher, Vater. Für Mutter, für mich, für meine Geschwister samt dem einen, was bald kommt. Willst du uns alle im Stich lassen?«

    Sie schlang die Arme um den Bauch ihres Vaters. Körner seufzte und strich über ihr Haar, das genauso rot war wie das ihrer Mutter. Barbara war eine Schönheit geworden. Mit ihren einundzwanzig Jahren stand sie in der Blüte ihrer Jugend, und selbst wenn sie ihm nicht das liebste seiner Kinder gewesen wäre, dann wäre sie immer noch das schönste. Sie war das jugendliche Abbild ihrer Mutter, die jedermann wegen ihrer Anmut bewundert hatte. Barbara war hochgewachsen und besaß schlanke Glieder, ihre milchige Haut hatte die Farbe von Holunderblüten. Hohe Wangenknochen zeichneten ihr Gesicht, in dem die blauen Augen wie Kornblumen leuchteten. Dass sie ihren Vater duzte, zeugte von der Vertraulichkeit zwischen ihnen, und er gestattete ihr damit, was er keinem anderen sonst, nicht einmal seiner Frau erlaubte.

    Barbara schmiegte sich an ihn. »Bitte, Vater, lass uns ins Haus gehen. Wir werden gemeinsam beten, du und ich, unsere Familie und das Gesinde. Der Herr wird uns nicht strafen. Wir haben gottgefällig gelebt und ihm keinen Anlass gegeben zu zürnen. Vertrau auf Gott, das sagt auch Pfarrer Hammes. In der Not wird der Herr uns nicht verlassen.«

    Sie fasste seine Hand und zog ihn mit sich, und der Papiermüller gab nach. Niemand anders als Barbara hätte ihn bewegen können, die Mühle alleinzulassen. Seine älteste Tochter fand den Weg zu seinem Herzen mühelos. Er stieg nach Barbara aus dem Fenster, tappte durch Schlamm und Matsch, bis sich der Weg über das ansteigende Gelände in festen Untergrund verwandelte. Sie überquerten den Hang unter dem Wind geduckt und erreichten den Eingang des stattlichen Wohnhauses.

    Im Vorraum setzten sie sich auf die Bank, zogen die Stiefel von den Füßen und drehten sie um, damit das restliche Wasser herauslief. Ihre Kleider waren so durchgeweicht, dass sie sich hätten umziehen müssen, aber Barbara schob ihren Vater zuerst in die hell erleuchtete Wohnküche. Hier saßen alle versammelt, die zur Familie gehörten und diejenigen vom Gesinde, die nicht aus Wissfeld stammten oder nicht mehr hatten heimgehen können. Lindel hatte ihre Töchter Anni und Agnes links und rechts umarmt. Die sechs- und achtjährigen Mädchen hielten die Hände gefaltet wie ihre Brüder. Wilhelm und Niklas waren vierzehn und fünfzehn Jahre alt. Sie beteten mit ihren Schwestern und den drei Mägden im Hintergrund ein Avemaria, und aus dem gleichmäßigen Murmeln stieg das Schluchzen einer der Mägde auf: »Heiliger Christophorus, rette uns aus der Gefahr!«

    Lindel Körner bekreuzigte sich und stand auf, wie es sich vor dem Ehemann gehörte. »Gibt es etwas Neues aus der Mühle?«, fragte sie. Ihr Leib wölbte sich weit vor. Das Aufrichten fiel ihr schwer, und Barbara sprang dazu und hielt ihren Arm.

    »Nein.« Hans Georg Körner tupfte sich die Stirn. Er geriet schnell ins Schwitzen. In den vergangenen dreiundzwanzig Jahren hatte er seinen Wohlstand von Tag zu Tag mehren können, das bewiesen vor allem sein Körperumfang und die Schwerfälligkeit seiner Bewegungen. Er war ein stattlicher Mann mit einem runden Gesicht und einer dicken Nase, die stets rot leuchtete und den Eindruck erweckte, dass er gern Wein trank. Das täuschte, diesem Laster war er nicht erlegen. Wenn er sich berauschende Getränke gönnte, dann war es gutes Bier, das er in Maßen zu sich nahm. Einzig einem reichhaltigen Essen konnte er nicht widerstehen. Er kannte seine Schwäche, darum schnaufte er unter der Last seines Körpers, ohne darüber zu klagen. »Nein«, wiederholte er, »es ist, wie es ist. Das Wasser steht seit Stunden im Mühlenraum, und wenn es noch eine halbe Elle steigt, dann sind wir verloren.«

    Lindel Körner setzte sich wieder zwischen ihre Kinder, und ihr Mann und Barbara stiegen die Treppe hinauf, um sich umzuziehen. In den trockenen Kleidern, dunklem Wollzeug für den Festtag, den der Kalender trotz des Unglücks zeigte, fühlte Hans Georg Körner sich gleich zuversichtlicher. Er schnürte Schuhe und Gamaschen und wandte sich seiner Schreibstube zu. Gott sei Dank hatte er allen Schriftverkehr in seinem höher gelegenen Wohnhaus geführt, und so waren weder die Stapel von Briefen noch sämtliche Urkunden oder seine Barschaft in Gefahr. Er atmete tief ein und aus und ließ sich in seinen Stuhl fallen.

    Letzten Endes hatte Barbara Recht. Er war ein reicher Mann. Papier mit seinem Wasserzeichen, einem verschlungenen K in einem Lindenblatt, war über die Grenzen des Herzogtums hinaus bekannt. Seit jedermann das Drucken und Schreiben für eine gewöhnliche Sache hielt, konnte er mit dem Schöpfen des Papiers kaum nachkommen. Körner war, als das Hochwasser einsetzte, drauf und dran gewesen, eine zweite Bütte zu beschaffen, um doppelt so viel Papier herstellen zu können wie bisher. Daran war vorläufig nicht mehr zu denken. Alle Augenblicke stand er auf und trat ans Fenster. Es war Vollmond, ausgerechnet in dieser Nacht stand der Mond in einem hellen Rund am Himmel. Er schien blasser als sonst und war nur als schwache weißliche Scheibe zu sehen, deren im Dunkel zerfließende Aura, behaupteten die Mägde, ein schlechtes Omen sei. Das Mondlicht konnte die Schwärze der Nacht nicht durchdringen. Kein Glitzern war vom Wasser her zu erkennen, nur eine einzelne Reflexion des hellgelben Runds auf dem überschwemmten Land jenseits des anderen Ufers.

    Wie meist, wenn er nichts sonst zu tun hatte, blätterte Hans Georg Körner durch seine Unterlagen und zählte sein Geld. Das verschaffte ihm stets Vergnügen, und auch dieses Mal verfehlte die Gewohnheit nicht ihre Wirkung. Neuer Mut erfasste ihn. Seit Stunden sorgte er sich, und nun schien es, als habe er seine Pflicht vollständig getan, indem er Vorsorge getroffen und innige Gebete verrichtet hatte. Seine Flüche hatte er vergessen; an die Strafen Gottes hatte er sowieso nie glauben mögen.

    Er war ein Mann, der in allem Geschehen das Gute sah und das Schlimme auszublenden in der Lage war. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Zukunft, niemals auf die Vergangenheit. Das Wasser war nicht weiter gestiegen und das unheimliche Knirschen berstender Balken, das er jeden Augenblick zu hören gefürchtet hatte, blieb seit Stunden aus. Er würde auch diese Prüfung seines Glaubens heil überstehen. Hans Georg Körner war schließlich der angesehenste Mann von Wissfeld und aller Dörfer der Umgebung, besaß ein eigenes Gespann und zwei Reitpferde, ein großes Stück Wald und das Wohnhaus oberhalb der Mühle. Warum sollte ihm nicht, wie immer in seinem Leben, selbst aus dem schlimmsten Unheil noch Gutes erwachsen? Selbst wenn die Mühle Schaden nahm, er würde sie neu aufbauen. Mit diesem Gedanken trug er das Unglück leichter und meinte schon zu hören, dass das Rauschen der Flut leiser geworden war.

    Körner blieb mehrere Stunden in seiner Stube sitzen. Einen ganzen Tag hielt die Lähmung an, die alle Menschen im Haus erfasst hatte. Der dritte Weihnachtstag verging, jeder saß auf seinem Platz und wagte nicht zu reden. Nicht einmal die acht Kinder Bernts in ihrer armseligen Unterkunft, Wand an Wand mit den Körners, sprachen ein lautes Wort. Das Murmeln der Gebete drang durch die Wände und schien das Holz der Balken und selbst den Mörtel mit diesem Geräusch zu sättigen. Körner tat so lange mit, bis er es nicht mehr ertrug.

    Am Ende stand er auf und verließ das Haus. Mit großen Schritten in seinen klammen Stiefeln ging er über den Wiesenhang zur Mühle hinunter. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt. Bevor es an eine weitere durchwachte Nacht ging, wollte der Papiermüller mit eigenen Augen sehen, ob sich der Wasserstand verändert hatte.

    Schon bei seinem Eindringen durch das Fenster erkannte er, dass das Wasser im Mühlenraum nicht gestiegen war. Das wertete er als gutes Zeichen. Er watete durch die anderthalb Ellen hoch stehende Brühe und sah sich um. Kein Ansteigen des Wassers war schon so gut wie ein Ablaufen. Alles würde gut gehen, er spürte es in den Fingerspitzen, genau wie er ein gutes Papier fühlen konnte, ohne hinzusehen. In dieser Nacht schlief er ein paar Stunden, um den folgenden Tag mit Auf- und Abgehen zu verbringen. Seine Schritte waren auf dem hölzernen Dielenboden deutlich zu hören, und mehr als einmal wandte die Familie in der großen Küche einen Stock unter ihm den Blick nach oben, als ob sie damit seiner Unruhe Einhalt gebieten könnte.

    Am Ende dieses vierten Tages nach Heiligabend lief das Wasser aus dem Mühlenraum ab. Es sickerte durch die Tür, wie es gekommen war, und hinterließ einen modrigen Geruch sowie eine Schicht feinen Schlamms auf jedem Gegenstand. Als Hans Georg Körner mit dieser Botschaft aus der Mühle zurückkam, lösten sich alle aus ihrer unbeweglichen Haltung. Die Kinder sprangen durch die Küche, die Mägde heizten den Herd ein und Lindel griff sich ins Kreuz. Körner rief den Knecht, den einzigen, der nicht fortgegangen war. Gemeinsam mit ihm kehrte er den Schlamm aus den drei Räumen der Mühle. Der Papiermüller war sich nicht zu fein, selbst Hand anzulegen, und abgesehen davon gab es im Moment sowieso keine andere Möglichkeit, weil niemand hier war und der Schlamm nicht erst trocknen durfte. Barbara kam eine halbe Stunde später hinzugelaufen und packte mit an. Ehe dieser Dezembertag zu Ende ging, war die Mühle vom gröbsten Dreck gereinigt und das Wasser weiter zurückgegangen.

    »Ein kräftiges Essen will ich jetzt haben«, Hans Georg Körner stemmte die Hände in die Seiten, »zur Feier des Tages müssen wir etwas Gutes essen. Sag in der Küche Bescheid, Barbara, sie sollen ein Huhn schlachten. Gott hat unsere Gebete erhört. Du siehst, wir sind für unsere Zuversicht belohnt worden.«

    Während Barbara mit den Mägden kochte, das Huhn auf den Rost über dem Feuer gelegt wurde und der Duft des Bratens über den Hang wehte, stand Hans Georg Körner zufrieden in der Mühle und sah sich um.

    Mochte er sich später für seine Einfalt schelten, zu dieser Zeit wusste er es nicht besser. Sein eindringliches Gebet am ersten Tag des Hochwassers hatte er längst vergessen, seine Flüche ebenso. Als er eine Keule des gebratenen Huhns zwischen den Zähnen zerriss, vom Glück seiner Rettung und dem guten Geschmack des Essens erfüllt, war ihm nicht bewusst, wie sehr er Gott mit seinen Flüchen erzürnt hatte.

    Unvorsichtigerweise hatte er im Gebet gelobt, er würde dem Herrn jedes Opfer bringen, wenn er ihm nur die Mühle erhielte. Hinterher weiß man immer, was man nicht hätte tun oder sagen sollen, und erst viel später begriff Körner seine Dummheit. Es war haargenau so gekommen, wie er in seinem Schwur gesagt hatte, er musste einen hohen Preis für seine Rettung zahlen. Da ihm die Mühle das Wichtigste im Leben war, musste er das Zweitwichtigste dafür hergeben, und das war seine Frau.

    Lindel legte sich noch vor der Silvesternacht viel zu früh mit Wehen auf ihr Lager. Erneut sank die Familie ins Gebet; es gelang Barbara, über den schlammigen Weg eine Wehmutter aus dem Dorf herbeizuholen. Die erfahrene Alte hockte die Nacht über bei der Gebärenden. Immer wieder hörte man Schreie aus der Schlafkammer, und der Müller wagte nicht, seinen Fuß hineinzusetzen. Barbara ging der Wehmutter zur Hand, brachte alles, was die Alte brauchte, scheuchte die Mägde und befahl ihnen, auf die Kleinen aufzupassen. Hans Georg Körner war bei den Geburten seiner anderen Kinder nicht zugegen gewesen. Er hatte es so eingerichtet, dass er diese Tage in der Mühle verbrachte, um dem Grauen zu entgehen, das ihn bei den Gedanken an die Schmerzen seiner Frau erfasste.

    Dieses Mal gab es keine Arbeit in der Mühle, die ihn ablenkte. Vor lauter Schlamm auf der Wiese und Gestank im eiskalten Mühlenraum war nicht einmal die Flucht in die Mühle möglich. Sich mit seinen Kindern zu beschäftigen, war der Müller ebenfalls nicht gewohnt, denn Erziehung und Zucht waren Lindels Sache. In seiner engen Schreibstube zu lesen oder zu schreiben, war er nicht in der Lage; er fühlte einen Druck auf der Brust, als sei zwischen den Wänden die Luft zu knapp. Darum saß er stundenlang in der guten Stube, wo der große Tisch für die Familienmahlzeiten stand, und sprang bei jeder Bewegung im Haus auf, um zu lauschen.

    Im Morgenlicht des Neujahrstages kam Barbara zu ihm in die Stube. Er hatte am Tisch gesessen, den Kopf auf die Arme gelegt. Aus der Schlafkammer war nichts zu hören.

    »Wir haben den Kampf verloren«, flüsterte Barbara, das Gesicht starr vor Schmerz. »Gott hat sie uns genommen.«

    Körner stürmte hinüber, wo die Wehmutter dabei war, die blutigen Laken unter dem Leichnam seiner Frau hervorzuziehen. Lindel hatte dem Kind das Leben nicht schenken können. Sie lag da, als schliefe sie, aber ihr Gesicht war leer, und Körner sah sofort, dass Lindel von ihm gegangen war. Er brachte nicht über sich, den mit Blut besudelten Körper noch einmal zu berühren, in den er acht Monate zuvor jenen Samen gesenkt hatte, der ihr das Leben raubte. Es hätte nicht sein müssen. Er hätte sich von seiner Frau fernhalten können, um sie kein weiteres Mal der Gefahr einer Geburt auszusetzen. Aber, bei Gott, er war ein Mann! Niemand konnte von ihm verlangen, wie ein Mönch zu leben, solange er eine schöne, gutmütige Frau besaß. Trotz ihrer fünfundvierzig Jahre war Lindel eine gutaussehende Frau gewesen, und da ihr die schwersten Arbeiten erspart geblieben waren, fehlten an ihr die Zeichen der Auszehrung, die die meisten anderen Frauen frühzeitig altern ließ. Ihr feingeschnittenes Gesicht war noch immer glatt und rein, fast wie in ihren jungen Jahren, als sie das schönste Mädchen von Wissfeld, Betzbach und allen Dörfern ringsum gewesen war. Hans Georg Körner konnte nicht fassen, dass sie nicht mehr aufstehen und ihm ihr Lächeln schenken würde. Sein Unglück ließ ihn verstummen.

    Er war ein Mann mit starken Bedürfnissen, und er fühlte sich, als habe er Lindel mit seiner Wollust unter die Erde gebracht. Die Schuld drückte ihn nieder. Die Zeit bis zum Begräbnis verbrachte er in seiner Schreibstube. Er verließ sie nur, um Kondolenzen entgegenzunehmen, und überließ die Totenwache anderen. Barbara, die ihn strafend musterte, weil er nicht einmal zur Aufbahrung in die Stube gekommen war, ignorierte er. Pfarrer Hammes kam vom Dorf herüber und fragte nach seinen Wünschen für die Totenmesse, aber Hans Georg Körner mochte sich für nichts entscheiden. Er überließ es dem Geistlichen, die Würde der Verstorbenen angemessen zu berücksichtigen. Noch immer war ihm, als würde Lindel jeden Augenblick die Tür öffnen und ihn, wie sie es in all den Jahren ihrer Ehe nie anders gehalten hatte, höflich zu fragen: »Mein lieber Mann, mögt Ihr zum Essen eine gebratene Wurst? Oder lieber aufgeschlagenes Ei?«

    Das Gesinde seines Haushalts bestand aus vier Mägden und zwei Knechten, die Tagelöhner, Gesellen und den Meister in der Mühle nicht gerechnet. Nachdem das Hochwasser vergangen war, fanden sich alle wieder ein, aber weder hatte Körner ein Wort zur Mühle gesagt, noch fand er sich bereit, irgendwelche Anweisungen zu erteilen. Barbara übernahm es für ihn. Sie schickte die Mägde putzen und befahl den Knechten, zusammen mit Bernt nachzusehen, was man für den Aufbau seiner Hütte tun konnte. Die vier jüngeren Kinder verhielten sich still. Körner hörte nichts von ihnen. Falls sie weinten, taten sie es leise.

    Hans Georg Körner haderte drei Tage lang mit seinem Schicksal, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. War er nicht jederzeit fleißig gewesen, hatte er nicht gottgefällig gelebt, sich weder der Trunkenheit noch der Völlerei oder der Unzucht hingegeben? Womit hatte er das Unglück verdient? Er fand keine Antwort. Mit Ablauf der drei Tage war das Begräbnis angesetzt, und das zwang den Papiermüller, sich wieder unter die Leute zu begeben.

    Er stand am Grab seiner Frau, die Jacke zur Hälfte offen, die Daumen unter die Hosenträger gehakt, und wippte in seinen Stiefeln auf und ab. Das Wetter auf der Beisetzung war beinahe freundlich zu nennen, höhnisch glitzerten Sonnenstrahlen auf dem sinkenden Wasserspiegel der Brieg. Lindel war eine gute Frau gewesen, sie hatte seit der Zeit, als die Papiermühle aufgebaut worden war, treu zu ihm gestanden und sich aller Widerworte enthalten, wie es einer Frau gut zu Gesicht stand. Nicht nur er hatte sie gerngehabt.

    Die Schar der Menschen auf Lindels Beerdigung war unübersehbar. Die Leute hatten Frau Körner mehr als andere ihres Standes gemocht, weil sie mildtätig und gutherzig gewesen war. Das ganze Dorf war ihrem Sarg gefolgt und hinter dem Witwer und seinen Kindern hergegangen. Selbst aus den Nachbardörfern, von Betzbach und Hervels, waren sie gekommen, um ihr Beileid auszusprechen und den Sarg auf seiner letzten Reise zu begleiten.

    Auf dem Wissfelder Friedhof gab es keine größere Grabanlage als die der Körners. Hier ruhten Hans Georgs Großeltern und ein Onkel väterlicherseits, der unverheiratet geblieben war. Ein Teil der Körners, darunter Hans Georgs Eltern, hatte anderthalb Meilen entfernt in Betzbach Fuß gefasst und war dortgeblieben, hatte Familien gegründet und Kinder aufgezogen. Hans Georg und sein Bruder Heinrich waren in Betzbach aufgewachsen, aber Hans Georg hatte den Schritt nie bereut, das Wissfelder Erbe anzutreten und hierher zurückzugehen. Von seinem Großvater erbte er ein schönes Waldstück und genug Geld, um den Grund an der Brieg zu kaufen, auf dem er vor fünfundzwanzig Jahren mit der Planung der Mühle begonnen hatte. Das Grabmal war der Bedeutung der Familie angemessen. Ein blankgeschliffener Stein trug den Namen Körner, und hier ruhte nun auch Lindel, in ihrem sechsundvierzigsten Jahr heimgegangen zu Gott, dem Allmächtigen.

    Nacheinander kamen die Nachbarn und Bekannten, die Freunde und Bediensteten zum Papiermüller und sprachen Worte des Beileids. Er hörte viel Gutes über seine verstorbene Frau und konnte sehen, dass die Leute es ehrlich meinten. Er hatte Lindel sehr gerngehabt, aber in vielen Jahren schleift sich der Diamant der Zuneigung zum Stein der Kameradschaft, der letzten Endes nützlicher ist, weil er kräftiges Zupacken verträgt. Daher bedauerte Hans Georg Körner den Verlust seiner Frau heftig und vermisste noch mehr ihre praktische Hilfe, die darin bestand, seine Kinder zu erziehen und seine Mägde bei der Bestellung des Haushalts anzuleiten.

    Es hatte diesen Winter erst zweimal für kurze Zeit geschneit. Niemand sehnte sich nach Frost, nicht nur wegen der Kälte, sondern in höchstem Maße deshalb, weil der Frost das Wasser zu Eis und das Eis ein Hochwasser zu einer noch größeren Gefahr machte. Bisher lag nur eine dünne Schneedecke auf dem Boden, nicht einmal genug, um den kaum gefrorenen Schlamm zu bedecken. Die Fahrwege waren dunkel vor Matsch und verwehrten außerhalb der Dörfer, wo der Boden weicher war, jedem schweren Gespann das Durchkommen. Die wenigen Schneeflocken, die während der Beerdigung niedersanken, verschwanden im morastigen Boden, als hätte es sie nie gegeben.

    Der Papiermüller knöpfte seine Jacke über dem runden Bauch weiter auf und tupfte sich die Stirn mit dem Schnupftuch trocken. Dem Anlass angemessen, trug er seine gute Perücke, die ihn auf dem ansonsten beinahe kahlen Kopf juckte. Die Wintersonne schien warm; er wünschte, sie würde alles Wasser wegtrocknen, das in Senken und Fahrrinnen stand. Sobald die Wege wieder nutzbar waren, musste er seinen Pflichten nachkommen und Papier nach Köln liefern, wie es besprochen war. Das Hochwasser brachte die Papierproduktion ins Stocken und die Liefertermine in Gefahr. Körner hatte Kontrakte mit mehreren Druckern und lieferte regelmäßig an Händler, Kirchen und Klöster. Gelegentlich beschaffte einer von ihnen im Gegenzug für einen günstigen Preis eine zusätzliche Lieferung Lumpen, diesen ewig begehrten und knappen Rohstoff für das Papier. Es erleichterte Hans Georg Körner, über das Geschäft nachzudenken, und lenkte ihn von trübseligen Überlegungen ab, von denen eine die zur bevorstehenden Anstrengung war, sich wieder umzusehen.

    Er wusste, er würde sich eine neue Frau suchen müssen, weil zumindest die Kleinen noch der Aufsicht und mütterlichen Führung bedurften und, bei allem schmerzhaften Gedenken an Lindel, er war ein Mann und gedachte nicht, sich im Alter von achtundvierzig seiner Männlichkeit berauben zu lassen, indem er im Witwerstand verharrte.

    Seine Kinder hatten seit dem Unglücksfall kaum gesprochen. Barbara, seine Älteste, heulte sich in ihrer Kammer die Augen aus, obwohl gerade sie für solch eine Sentimentalität keine Zeit verschwenden durfte. Barbara würde in die Rolle der Mutter schlüpfen müssen, bis er eine neue Frau gefunden hatte.

    Von seinen fünf Kindern war Barbara als einzige erwachsen genug, um Vernunft und Weitblick für die schwere Zeit aufzubringen. Den vier anderen durfte man ihre Schwäche nicht nachtragen. Alle fünf stiegen nach dem Begräbnis zu ihm auf den Wagen, obwohl der Fußweg von der Kirche bis zur Papiermühle keine Viertelstunde betrug. Das vornehme Vorwärtskommen war er seiner Stellung schuldig, so hatte Körner es schon immer gehalten und würde es auch in Zukunft tun. Das Gesinde folgte zu Fuß.

    Die Sonne sank an diesem Januartag schnell. Das Glitzern auf der dünnen Schneedecke erlosch, bevor der Papiermüller den Weg an der Brieg entlanggefahren war. Kälte stieg auf. Jedes seiner Kinder trug einen Mantel mit Pelzkragen, die Mädchen sogar einen Muff aus Kaninchenfell, aber sie ließen die Finger draußen, weil sie einander an den Händen hielten.

    Vor ihrem Wohnhaus stiegen sie aus; der Papiermüller ließ seine jüngeren Kinder vorgehen. Die Älteste hielt er am Ärmel fest. Das Mädchen erinnerte ihn zu sehr an Lindel, deshalb kostete es ihn Mühe, einen fordernden Ton in seine Stimme zu legen. »Barbara, wir haben einiges zu besprechen.«

    Barbara war im Begriff gewesen, hinter den Kleinen ins Haus zu gehen. Nun drehte sie sich um und folgte ihrem Vater über den

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