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Das Hollandmesser
Das Hollandmesser
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eBook310 Seiten4 Stunden

Das Hollandmesser

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Über dieses E-Book

1706/07. Wie glücklich ist Magdalene, dass sie endlich einmal reisen kann! Zu Schiff begleitet sie ihren Sohn nach Rotterdam, sehnlich erwartet von Willem van Ruysdael. Doch dessen Hoffnung, die geliebte Frau für immer bei sich zu halten, wird bitter enttäuscht. Das Verlangen nach Rache hat Karl Carstensen auf Magdalenes Spur gebracht, und ein Kampf auf Leben und Tod beginnt – nicht nur zwischen den beiden. Was für ein Glück, dass Magdalene von Willem gelernt hat, mit dem Hollandmesser zu werfen. Wird es gegen einen Mann wie Carstensen nutzen, der Gedanken lesen kann?
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum9. Okt. 2023
ISBN9783947141814
Das Hollandmesser
Autor

Christina Auerswald

Christina Auerswald schreibt historische Romane. Dass es dabei kriminell zugeht, ist keine Frage! Ob historische Skandale, Pleiten oder Morde – alles steckt voller Geschichten. Christina Auerswald ist in einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt aufgewachsen. Von hier führten sie ihre Wege zum Studium der Volkswirtschaft an die Martin-Luther-Universität Halle. Hier bekam sie auch ihre beiden Kinder und lebte fast 20 Jahre in der Saalestadt. Später zog sie für einige Zeit ins Rheinland. Heute hat sie ihren Lebensmittelpunkt in Leipzig.

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    Buchvorschau

    Das Hollandmesser - Christina Auerswald

    CHRISTINA AUERSWALD

    DAS HOLLANDMESSER

    __________________________________________

    HISTORISCHER ROMAN

    __________________________________________

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

    Das Hollandmesser

    Von Christina Auerswald

    © 2023 Oeverbos Verlag, Leipzig

    Alle Rechte vorbehalten.

    info@oeverbos-verlag.de

    https://oeverbos-verlag.de/

    Gesamtherstellung: Oeverbos Verlag, Leipzig

    Umschlaggestaltung: Nasta Reiss, Köln

    Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang

    ISBN 978–3–947141–73–9 print

    ISBN 978–3–947141–81–4 ebook

    Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    logo_xinxii

    Inhaltsverzeichnis

    1. Kapitel

    2. Kapitel

    3. Kapitel

    4. Kapitel

    5. Kapitel

    6. Kapitel

    7. Kapitel

    8. Kapitel

    9. Kapitel

    10. Kapitel

    11. Kapitel

    12. Kapitel

    13. Kapitel

    14. Kapitel

    15. Kapitel

    16. Kapitel

    17. Kapitel

    18. Kapitel

    19. Kapitel

    20. Kapitel

    21. Kapitel

    22. Kapitel

    23. Kapitel

    24. Kapitel

    25. Kapitel

    26. Kapitel

    27. Kapitel

    28. Kapitel

    29. Kapitel

    30. Kapitel

    31. Kapitel

    32. Kapitel

    33. Kapitel

    34. Kapitel

    35. Kapitel

    Leseprobe: Rote Scherben

    Abbildungsnachweis

    1. Kapitel

    Am 22. Mai 1706, demselben sonnigen Tag, an dem die Spezereienhändlerin Magdalene Lichtenberg im Hafen von Hamburg den Schnellsegler nach Rotterdam erreichte, betrat Karl Carstensen ihren Laden in Halle wie ein gewöhnlicher Käufer. Er sah sich in den Regalen um, als wäre er zum ersten Mal hier, betrachtete die Töpfe, Kisten und Schalen ausgiebig, aber dieses Schauspiel war nur für den Lehrjungen Andreas Brodsame gedacht, der hinter dem Tisch stand und ihn freundlich begrüßte.

    Karl strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht. Er kannte die Regale mit Zimt, Brunellen, Duftwasser, Cacao, Canariwurz und all den anderen teuren Waren, hatte die Krüge und Körbe schon viele Male gesehen. Seit er hier zur Untermiete gewohnt hatte, waren drei Jahre vergangen. Den Geruch dieses Hauses hatte er gemocht, als er hier lebte, die Bewohner nicht. Sie waren ihm zu laut und zu besserwisserisch, und er misstraute ihrer Fröhlichkeit, wie er jeder Art von Fröhlichkeit misstraute. Weder die Händlerin noch ihr sogenannter Ehemann zählten für ihn zu den Menschen, denen er ein gutes Leben gönnte, erst recht nicht deren Kindern. In einer absurden Perfektion spielten sie die ordentliche Familie, obwohl jeder von ihnen wusste, dass sie das nicht waren. Auch Karl wusste das. Er war einmal Teil dieser Inszenierung gewesen. Er hatte den ordentlichen Studenten gespielt, wohnte in einer Kammer unterm Dach, genoss dort zwei Jahre lang das Leben mit seinem Freund Friedrich von Erlau und noch lieber ohne ihn.

    Andreas Brodsame war der einzige Verkäufer im Spezereienladen, der Karl Carstensen nicht kannte. Er war erst Lehrling geworden, nachdem Karl und Friedrich ihr Studium abgebrochen hatten und nach Leipzig gegangen waren. Das war der Grund, warum Karl mit seinem Besuch auf einen Augenblick gewartet hatte, als sich der Junge allein im Laden befand.

    Es war leicht, eine Unterhaltung mit dem Lehrjungen zu beginnen. Zehn Tage zuvor hatte es mittags eine Sonnen-finsternis gegeben, und über zwei Stunden lang blieb es in der Stadt dunkel wie in der tiefsten Nacht. Die Leute waren noch immer aufgeregt und sprachen von nichts anderem, und auch Karl fing mit dem sommersprossigen Jungen darüber an zu reden. Der Junge nickte und erläuterte, dass er die Sache pragmatisch sähe, seiner Meinung nach sei nur der Mond dem Sonnenschein im Wege gewesen. Der Sonnenball wandere schließlich gut berechenbar über den Himmel. Es sei also keine Strafe Gottes gewesen, sondern sein Plan.

    Karl nickte und lobte den jungen Mann für sein Wissen und seine Glaubenstreue. Es half immer, die Leute mit Geschwätz einzulullen. Er merkte, wie sein Gegenüber auftaute und sich über das Lob freute.

    Karl genoss seine Macht. Er liebte es, Situationen zu beherrschen und seinen Gegnern einen Schritt voraus zu sein. Er wusste, dass der Hausherr, der Spezereienhändler Jakob Lichtenberg, am liebsten in seinem Kontor im ersten Stock hocken blieb, weil er an Schmerzen in den Gliedern litt. Er hatte den Mann noch erlebt, als er beweglicher war, aber da war er auch noch nicht im Gefängnis gewesen. Leute, die so etwas erlebt hatten, versteckten sich lieber. Auch Karl kannte Gefängnisse von innen, aber ihm wäre das nicht eingefallen. Ihm konnte nichts passieren, er hatte sich bisher mit Hilfe seiner besonderen Fähigkeiten aus jeder Falle befreien können. Er brauchte sich nicht zu verstecken, im Gegenteil: Ein Mann wie er musste sich zeigen.

    Das Grinsen auf seinem Gesicht, das der Lehrjunge für ein Lächeln hielt, blühte, weil Karl sich darauf freute, bald an sein Ziel zu kommen. Dieser Grünschnabel würde ihm den Weg zu viel Geld ebnen, ohne es zu ahnen. Eines Tages, das wusste Karl, würde er reich sein. Er würde in einem großen Haus leben, sich nach Strich und Faden bedienen lassen und jenen Leuten eine Lektion erteilen, die ihm das bisher verweigert hatten. Karl war zwar erst siebenundzwanzig Jahre alt, aber in jedem der Jahre hatte er tief reichende Erfahrungen gesammelt. Jede dieser Erfahrungen führte dazu, dass er sich seines Instinkts sicherer wurde. Er war in der Lage, Bewegungen hinter seinem Rücken zu erfassen. Er konnte hören, was andere dachten. Er konnte so schnell Schlüsse aus den Regungen anderer ziehen, dass seine Reaktionen ihm jederzeit das Leben retten würden. Und er kannte die Abgründe der Menschen, weil er selbst voller Abgründe steckte.

    Er wusste, dass Grete, die ältere Tochter, zu ihrem Vater nach oben gegangen war und alle anderen in diesem Haus keine Gefahr für ihn darstellten, weder die neuen Studenten noch die Magd oder die jüngere Tochter. Die waren nicht dabei gewesen, als er hier unter dem Dach in der schmalen Kammer wohnte. Sie konnten ihm nicht gefährlich werden. Dass Karl von der Obrigkeit gesucht wurde, war in Halle in Vergessenheit geraten. Hier dachten alle nur daran, sich mit ihrer Arbeit zu plagen und am Ende ihr bisschen Salz zu verkaufen. Er war klug genug gewesen, sich für eine Weile zu verdrücken. Erst jetzt war er wieder da. Niemand war der Schläue eines Karl Carstensen gewachsen.

    Karl lächelte zufrieden.

    Andreas Brodsame beantwortete die nächste Frage des Besuchers höflich, obwohl sie nichts mit dem Handel zu tun hatte. Der Mann wollte wissen, wohin die Frau Meisterin gereist sei, und schien mit der erhaltenen Auskunft zufrieden zu sein. Sie sei nach Holland aufgebrochen, antwortete Andreas stolz. Eine weite Reise verriet Wohlstand, und Wohlstand bewiesen solche Leute gern. Karl konnte in den Gedanken des Jungen lesen, wie gern er damit prahlte. Das Rotterdamer Kontor der Batavia-Handelsgesellschaft könne mehr sagen, meinte Andreas, aber er wisse deren Adresse nicht. Karl kannte sie, aber das verriet er dem dummen Jungen nicht.

    Als die Tür hinter Karl zuschlug, dachte Andreas angestrengt nach, wo er den Mann schon einmal gesehen haben mochte, denn die blonden Locken und die weiche, hohe Stimme mit ihrem mecklenburgischen Klang kamen ihm bekannt vor. Karl wusste nicht, dass sie sich durchaus schon einmal begegnet waren.

    Aber in jener Nacht ein Jahr zuvor, als sie sich ein einziges Mal zur selben Zeit am selben Platz aufgehalten hatten, hatte es kein Licht gegeben. Darum ahnte Andreas nicht, dass er den Teufel geradewegs auf die Spur von Magdalene Lichtenberg gesetzt hatte. Erst Wochen später unterhielt er sich mit Grete darüber, und die düstere Ahnung, dass die Fragen des blonden Mannes einen bösartigen Grund gehabt hatten, verdichtete sich. Aber niemand von ihnen konnte zu dieser Zeit noch etwas tun. Kein ausgesprochenes Wort ist zurückzuholen. Keine beruhigende Geste und kein ermutigendes Lächeln verringerte die Schuld, die der Junge fühlte, wenn er seine naive Gesprächigkeit an diesem Tag im Mai 1706 dachte.

    2. Kapitel

    Willem van Ruysdael streifte die Stulpenstiefel über und angelte nach der ledernen Weste, die er am liebsten über seinem weißen Hemd trug. Es war Mai, und obwohl in Rotterdam stets eine kalte Brise vom Meer her wehte, brauchte er keine Jacke. Als Letztes setzte er sich den hohen Hut aus schwarzem Filz auf, an dem eine noch längere Schwanenfeder steckte. Ella, seine Magd, stemmte die Hände in die Seiten und betrachtete ihn mit schräg gelegtem Kopf. »Eitelkeit ist eine Sünde, Herr«, murmelte sie. »Das wisst Ihr ganz genau. Der Herr im Himmel sieht es nicht gern, wenn man sich herausputzt.«

    Willem lachte. »Was meinst du, Ella? Schimpfst du wegen der Schwanenfeder?«

    »Die Schwanenfeder, der Hut, das weiße Hemd, man sieht Euch doch schon aus der Ferne! Ihr leuchtet wie eine Fackel!«

    Er hielt ihrem Blick stand und legte ihr die Hand auf den Arm. »Siehst du? Genau das ist es, was ich will. Wie soll mich denn sonst mein Besuch unter den vielen Leuten am Hafen erkennen?«

    Ella wandte sich ab und brummte. Der Besuch war ihr nicht willkommen, das wusste er. Aber sie hatte hier im Haus nicht das Sagen. Sie würde sich daran gewöhnen müssen, erst recht, wenn sie erfuhr, dass es nicht beim Besuch blieb. Was die Eitelkeit anging, waren ihre Vorwürfe nicht ganz aus der Luft gegriffen, denn früher war er ein Geck gewesen, leichtlebig und verantwortungslos, und sie hätte Gift und Galle gespuckt, wenn sie ihn vor ein paar Jahren gekannt hätte. Seine Arbeit und die tiefen Einschnitte seines Lebens hatten ihn gewandelt. Heute gehörte die Eitelkeit zu den Eigenschaften, die er längst abgelegt hatte, darum nahm er sich Ellas Schimpfen nicht zu Herzen. Er war bloß klug genug, Kleider als Mittel für seine Zwecke einzusetzen. Das erforderte nicht nur sein Beruf. Das gebot die Weisheit. Er besah sich ein letztes Mal im Spiegel, strich über sein langes braunes Haar und sah sich selbst in die lächelnden braunen Augen.

    Dann verließ Willem das Haus und trat auf die Straße. Er besaß ein zweistöckiges Fachwerkhaus an der Ecke der Hoogstraat zu einer Gasse, in der sich auch das Hoftor befand. Von gegenüber grüßte der alte Schuster, und Willem wünschte ihm einen guten Tag. Er war bei seinen Nachbarn beliebt, weil er für jeden ein gutes Wort hatte, den er auf der Straße traf, und nie schimpfte, wenn einer der Nachbarn mit seinem Karren das Tor versperrte. Den Lehm seines Hauses ließ er jedes Jahr weißen und hielt auch die Magd an, jede Woche einmal das Butzenglas der Fenster zu polieren, wie es sich gehörte. Das Haus war alt, denn er hatte es von seinem Paten geerbt, der es wiederum von einem anderen geerbt hatte, aber Willem sorgte dafür, dass jede lose Dachpfanne sofort ersetzt und jedes Stück bröckelnder Lehm zugemauert wurde. Willem warf sonntags beim Gottesdienst eine ansehnliche Summe in den Klingelbeutel, und obwohl er oft gar nicht in der Stadt weilte, meinten die Leute, er habe schon ein halbes Vermögen für die Armen gespendet.

    Tatsächlich war Willem van Ruysdael wegen seines Erbes einer der reichsten Männer von Rotterdam und hätte sich längst ein Herrenhaus auf dem Land bauen lassen können, wie es andere taten, aber er hing an der Stadt. Er wohnte gern hier, denn dieses Haus markierte für ihn den Beginn eines neuen Lebens. Sein Pate hatte ihm nicht nur dieses Haus, sondern auch eine lukrative Arbeit verschafft, als er am Tiefpunkt seines Lebens angelangt war. Zur gleichen Zeit hatte er einen Halbbruder kennen gelernt, Rik, einen Bastard seines Vaters, der ihm ans Herz gewachsen und seine ganze Familie war, seit er mit den Ruysdaels auf Ruysmaar gebrochen hatte. Jetzt, mit zweiunddreißig, war er sicher, seinem Leben die eine, noch fehlende Wendung zu geben. Nicht nur, dass er seine gefährliche Arbeit liebte und das Haus mochte, von dem er nur ein paar Minuten die Straße hinab zum Kontor der Batavia-Handelsgesellschaft gehen musste. Er hatte endlich die Frau gefunden, die eines Tages mit ihm hier leben würde. Es konnte nur noch wenige Wochen dauern, bis sie die Seine wurde. Heute würde sie in Rotterdam ankommen.

    Im Gehen zog sich Willem die dünnen Kalbslederhandschuhe über und band das Halstuch fester. Der Wind wehte schärfer, als er gedacht hatte. Die Maisonne strahlte schon mächtig dagegen an. Bald würde es wärmer und die Tage lang werden. Was konnte er alles mit seiner Besucherin unternehmen! Die Stadt ansehen, an den Strand reiten, das Meer betrachten … Er kannte den Tag und sogar die Stunde, für die das Schiff avisiert war, und nahm trotzdem schon seit mehr als einer Woche jeden Tag einmal den Weg zum Hafen, um nachzusehen, ob es vielleicht früher kam. Jeden Nachmittag spazierte er die Hoogstraat hinab und an den Hafenmauern entlang, bis es dunkel wurde. Er hätte die Zeit nicht damit verbringen mögen, in seiner Stube zu sitzen, während er sie, Leentje, hierher unterwegs wusste. Jeden Tag beglückwünschte er sich dafür, dass er einen Weg gefunden hatte, die geliebte Frau zu sich zu holen. Er hatte ihr versprochen, ihrem ältesten Sohn die Ausbildung zu zahlen, die sich die Lichtenbergs nicht leisten konnten. Nun brachte sie den Jungen zu ihm.

    Das Schiff, auf das er wartete, hieß »Aurelia«. Heute würde es endlich ankommen und ihm Leentje schenken. Seit er Leentje vor anderthalb Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, konnte er sich das Leben nicht mehr ohne sie vorstellen. Sie wusste nichts von seinen Gefühlen, noch nichts. Die Zeit würde kommen, es sie spüren zu lassen; er war in der Lage, auf den rechten Augenblick zu warten. Zudem war sie verheiratet, gewiss, aber das stellte in diesem besonderen Fall kein Hindernis dar. Leentjes Ehe mit Jakob Lichtenberg war nur ein Bündnis zwischen zweien, die einander brauchten, von Liebe gab es bei ihnen keine Spur. Willem würde einen Weg finden, wie er ihn immer fand, um sie bei sich zu behalten.

    Mit langen Schritten ging er die Hoogstraat hinab. »Ich komme, Leentje«, flüsterte er, den Blick auf den Hafen gerichtet, wo sich die Masten eines ankommenden Segelschiffs über den Mauern der Mole abzeichneten.

    3. Kapitel

    Als der Kapitän des Elbschiffes auf die ersten Häuser deutete und den Hafen von Hamburg ankündigte, glaubte Magdalene, in wenigen Augenblicken das Meer zu sehen. Nach dem nicht enden wollenden Ausblick auf menschenleere Weiden konnte sie kaum erwarten, die Stadt zu erreichen, in der sie das nächste Schiff besteigen sollten. Die Ungeduld ließ sie auf dem Deck hin und her gehen. Das Meer zu sehen, war ihr Traum, seit sie als Kind zusammen mit ihrem Bruder in geflüsterten Gesprächen vorm Einschlafen ihre abenteuerliche Zukunft herbeisehnte.

    Schon seit Magdeburg hatte sich die Elbe von Meile zu Meile verbreitert. Kühe standen auf den Weiden am Ufer, in der Ferne fanden sich Kirchtürme und Hausdächer, Felder und Wiesen. Nun verdichtete sich die Zahl und Größe der Gebäude. Hamburgs Häuser waren höher als alles, was sie bisher gesehen hatte, und bald konnte sie die Türme und Fassaden aus rotem Ziegel nicht mehr zählen. Das Wasser verzweigte sich in mehrere Hafenbecken. Die Schiffe, die dort vertäut lagen, waren modriger und schmutziger, als sie geglaubt hatte. Von den Ankerketten lief brauner Rost ins Wasser. An ihren Wänden hingen grüner, schleimiger Tang und dicke Krusten von Muscheln. Das Holz ihrer Bäuche war grau und braun, von Ankern zerrieben und von Hafenmolen zerkratzt. Manche Segel hingen in Stücken herunter, Matrosen kletterten auf den Masten herum und flickten im Takelzeug mit großen Ahlen, als wären sie Schneidermeister der Lüfte. Vom Meer war nichts zu sehen.

    Zwischen dickbäuchigen Frachtschiffen, die für ihre nächste Fahrt beladen wurden, verließen Magdalene und ihr Sohn Hans den Elbkahn. Auf einem federnden Steg balancierten sie nach den anderen Reisenden auf das feste Land, und der feste Boden unter den Stiefeln war ihnen eine größere Wohltat als die beiden zugeben mochten.

    Die Hamburger Luft trug einen fremdartigen Hauch. Das musste der Geruch des Meeres sein. Alles, wirklich alles hatte Magdalene sich vom Meer erzählen lassen, von jedem, der es schon einmal gesehen hatte. Alle Reisenden, die das Haus »Zu den drei Rössern« in Halle betraten und ihr ein wenig Zeit schenken konnten, hatte sie über das Meer ausgefragt. Alle sagten ihr, dass das Meer aus salzigem Wasser bestünde. Magdalene hatte geglaubt, salziges Wasser zu kennen, schließlich war sie in einer Stadt des Salzes geboren, aber mit dem Meer musste es etwas anderes auf sich haben als mit der Sole aus Halles Salzbrunnen. Staunend hörte sie sie vom Atlantischen Ozean reden und vom Nordmeer, von den Indischen Ozeanen und der Südsee und wunderte sich, dass es verschiedene Meere geben sollte. Niemand konnte ihr sagen, woher das viele Wasser kam.

    Ihr Sohn Hans, die Kraft seiner sechzehn Lebensjahre in Armen und Beinen, rannte von einem Schiff zum anderen und legte seine Hand an Planken, die er erreichen konnte, strich über Säcke, die zur Ladung bereitstanden, fasste die Taue an und beugte sich über den Pier, um das brackige Wasser zu betrachten. Schon immer hatte er die Dinge am besten begriffen, indem er sie berührte. Die Männer, die auf ihrem Rücken Ballen und Ladung trugen, verscheuchten ihn mit barschen Worten, und nach einer Weile kehrte er zu seiner Mutter zurück.

    »Die ›Aurelia‹, wo finde ich die?«, fragte sie einen der Schauerleute. Der Mann zuckte mit den Schultern und ließ sie stehen. Sie fragte den nächsten und noch einen, und jedes Mal geschah das gleiche. Warum waren die Kerle so unfreundlich? Willem van Ruysdael hatte ihr in seinem Brief den Namen des Schiffes geschrieben und hinzugesetzt, sie sollte in Hamburg nach genau diesem Schiff suchen; die Passage sei bezahlt, man erwarte sie. Die Männer mussten es doch kennen, dachte Magdalene verwirrt. Wollten die Schauerleute nicht mit ihr reden? Oder konnten sie ihre Sprache nicht verstehen?

    Hans löste sich von der Seite seiner Mutter und trabte auf einen einbeinigen Soldaten zu, der mit ihnen auf dem Elbschiff gewesen war. Der Mann stand mit seinem Bündel an der Mole und schmauchte ein Pfeifchen. Er zupfte den Mann am Ärmel. »Wisst Ihr, wo die Schiffe nach Rotterdam abfahren?«

    Der Mann nahm sein Pfeifchen aus dem Mund, paffte noch eine Wolke zur Seite und antwortete: »Einen Hollandfahrer sucht Ihr? Dann geht mal da rüber«, er zeigte mit der Pfeifenhand nach Norden, wo in ziemlicher Entfernung Schiffsmasten aufragten, »da ist der Hollandhafen.«

    Sie passierten ein Hafenbecken nach dem nächsten, und Magdalene wäre in dem Irrgarten der Wasserstraßen rettungslos verloren gewesen, hätte nicht Hans immer wieder Seeleute, Lastenträger und Hafeninspekteure nach dem Weg gefragt. Obwohl er das Gepäck trug, ging er ihr in scharfem Tempo voran, und sie musste rennen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

    Sie erreichten die »Aurelia« gerade in dem Moment, als die Seeleute die letzte Planke packten, um sie einzuziehen. »Halt! Wartet!«, schrie Hans, und seine dünne Jungenstimme klang so schrill, dass die Männer aufschauten. Ein bärtiger Seeoffizier rief herüber: »Seid Ihr die Frau Lichtenberg aus Halle mit ihrem Sohn?«

    Nach ihrem aufgeregten »Ja!« schoben sie die Planke zurück, nur um sie nach den schnellen Schritten der beiden über den schwankenden Steg wieder einzuziehen. Magdalene hatte noch nicht einmal ihr Bündel abgelegt, da schaukelte die Karavelle schon auf dem Wasser.

    Die »Aurelia«, den Schiffsbauch voller Weizen, fuhr hinaus, und noch immer waren links und rechts nur die Ufer der Elbe zu sehen und kein Meer. Magdalene stand an der Reling und versuchte sowohl ihren Sohn im Auge zu behalten als auch das Ufer, aber bald gab sie auf. Hans war zu quirlig, er strich zwischen Kabelgatts und Masten herum und näherte sich dem Kapitän jedes Mal ein Stück mehr, wenn der stehenblieb und die Hand an die Stirn legte.

    Den Kapitän erkannte Magdalene trotz der einfachen Kleidung aus derbem Zeug an seiner aufrechten Haltung, den wenigen Handbewegungen und Kommandos, mit denen er die Seeleute auf dem Schiff zu steuern vermochte. Hans blieb drei Schritte entfernt von ihm auf der Brücke stehen, bis der Mann ihn ansprach, und als das Schiff die letzten Häuser am Ufer passierte, waren die beiden bereits in eine Unterhaltung vertieft. Endlich segelten sie auf das Meer hinaus.

    Die »Aurelia« war größer als die anderen Schiffe, die sie passierten. Ihre fünf Masten ragten über die aller benachbarten Boote hinaus, und wären ihre Segel bis auf eines nicht gerefft gewesen, dann hätten sie den halben Himmel über Magdalene verdeckt. Mit einem Mal waren, als sie sich umsah, keine Flussufer mehr zu sehen, nur weit hinter ihr der sandige Rand dessen, was als Festland bezeichnet wurde. Die Luft roch nach Salz, Tang und Fisch, und über ihr ertönten schrille Schreie von Möwen.

    Sie würden im besten Fall drei Tage unterwegs sein, hatte man ihnen gesagt. Hans wich nicht von der Seite des Kapitäns und fragte ihn nach der Konstruktion der Masten und der Segel, ließ sich die Messinstrumente und Seekarten erklären.

    Magdalene konnte sich an der Unendlichkeit des Wasers nicht sattsehen. Das Meer war noch wunderbarer, als sie es sich vorgestellt hatte. Die Seeluft durchfuhr ihren Körper und erfrischte ihn bis in die Fingerspitzen. Ihre Hände um das Geländer geklammert, stand sie nahe der Bugspitze und ließ sich den Wind ins Gesicht blasen. Die Haube war ihr vom Kopf geflogen und ins Wasser gesegelt, ein geringes Opfer für den Anblick der wogenden, blau-grünen Fläche. Ihre Haare verklebten von der salzigen Luft, bis sie kaum noch zu kämmen waren; Magdalene begnügte sich damit, sie zurückzustreichen. Sie konnte kaum aufhören, mit geöffnetem Mund nach der Seeluft zu schnappen und zu singen. Der Wind brauste so stark, dass niemand sie hören konnte, darum legte sie die Scham ab und krähte die verrücktesten Lieder in die Luft, und die Möwen lachten dazu. Sie blieben in Sichtweite der Küste. Ein paar Mal passierten sie kleinere Inseln, ohne anzulegen. Sie sah Sandbänke, auf denen sich riesigen Maulwürfen ähnelnde Tiere in der Sonne räkelten. Hans erklärte ihr, das seien Seehunde, aber sie glaubte ihm nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, wozu Gott solche seltsamen Hunde geschaffen haben sollte.

    Das Wetter blieb zunächst freundlich. Die Wolken flogen über sie hinweg und das Meer glich einem wogenden Teppich, der aller paar Ellen eine weiße Schaumkrone zeigte. Am zweiten Tag bekamen sie Sturm. Die »Aurelia« tauchte mit jeder Welle tiefer nach unten und stieg anschließend höher hinauf. Der Schaum auf den Kämmen wuchs, der Wind rauschte und dröhnte in den Masten. Die schnelle Fahrt ließ Magdalenes Herz klopfen. Wenn das Schiff nach unten zu stürzen schien, schrie sie auf, um gleich danach zu fühlen, wie sich der Schiffsboden hob; die Bewegung wiederholte sich unzählige Male. Der Himmel verdüsterte sich, der Wind wurde stärker.

    Ein Seemann schickte sie unter Deck, als aus dem Wind ein Sturm geworden war. Zwischen den Wänden der Kajüte, wo sie den Horizont nicht mehr sah, überfiel Magdalene die Seekrankheit. Mit

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