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Hollandpelzchen
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eBook331 Seiten4 Stunden

Hollandpelzchen

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Über dieses E-Book

1708. Nur für kurze Zeit können Magdalene und Willem in Rotterdam zusammenleben. Er muss verreisen, einen Auftrag als Kundschafter ohne sie erfüllen.
Kann Magdalene nicht genau so gut wie Willem schwierige Fragen lösen? Sie will es ihm beweisen, indem sie das Grab ihres früh verstorbenen Milchbruders findet. Dessen Hollandpelzchen ist das Einzige, was auf sein Schicksal verweist. Das merkwürdige Verhalten der Leute, bei denen der Kleine gelebt hat, lässt sie bald eine Untat vermuten. Magdalene muss die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen! Sie ahnt nicht, in welch gefährliche Situation sie sich damit begibt.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum4. Feb. 2024
ISBN9783911115056
Hollandpelzchen
Autor

Christina Auerswald

Christina Auerswald schreibt historische Romane. Dass es dabei kriminell zugeht, ist keine Frage! Ob historische Skandale, Pleiten oder Morde – alles steckt voller Geschichten. Christina Auerswald ist in einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt aufgewachsen. Von hier führten sie ihre Wege zum Studium der Volkswirtschaft an die Martin-Luther-Universität Halle. Hier bekam sie auch ihre beiden Kinder und lebte fast 20 Jahre in der Saalestadt. Später zog sie für einige Zeit ins Rheinland. Heute hat sie ihren Lebensmittelpunkt in Leipzig.

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    Buchvorschau

    Hollandpelzchen - Christina Auerswald

    Lange zuvor …

    Als die Reiter an diesem warmen Tag im September 1697 ihre Pferde im Inneren des Gutshofes Sint-Clasen zum Stehen brachten, legte sich die Staubwolke nur langsam. Es waren an die zwanzig berittene Soldaten in blauen Rotterdamer Röcken, deren Pferde schnaubten. Waffen klirrten. Aus den Bauernkaten, ein Stück entfernt, näherten sich neugierig Männer, Frauen und Kinder. Alle wandten ihre Blicke zur Tür des Herrenhauses, aus der jetzt ein junger Mann in weißem Hemd und schwarzer Jacke mit einem feinen Gehstock trat. Er setzte den Hut auf und ging den Reitern mit ernstem Gesicht entgegen.

    Drei der Reiter stiegen ab. Einer von ihnen, ein stattlicher Mann mit einem Federbusch am Helm, entrollte ein Dokument und verlas es. Über die Köpfe der Neugierigen hinweg klang seine Stimme: »Ich übergebe Euch hiermit das Urteil im Erbstreit um den Nachlass der Frau Hester de Hertoghe.« Der folgende Wortwechsel ging im Raunen der Leute unter, aber jeder hörte den Aufschrei des jungen Mannes, jeder sah, dass die Soldaten ihn an Schultern und Armen packten und die Stufen herabzerrten. Er stürzte und schlug hart auf den Steinen auf; Blut lief von seiner Stirn über das Gesicht.

    Die Leute ringsum rissen entsetzt den Mund auf, legten die Hand aufs Herz oder hatten Tränen in den Augen, aber niemand wagte einen Laut von sich zu geben, nicht einmal, als die Soldaten den jungen Mann packten und an ein Pferd banden. Der Trupp ritt los, aber der, an dessen Pferd der Gefangene gebunden war, gab seinem Pferd die Sporen. Der junge Mann rannte, fiel, aber sie schliffen ihn weiter. Erst jetzt schrien die Leute. In der Staubwolke war kaum noch etwas zu erkennen, sie legte sich erst, als die Reiter zwischen den Feldern verschwanden.

    1. Kapitel

    Magdalene legte den Arm fester um ihren Sohn und rückte ihn auf dem Sattel vor sich zurecht. Matthijs zappelte unwillig und warf mit einem klagenden Laut die Arme in die Luft. Wieder einmal fragte sie sich, wie es wohl möglich war, ein einjähriges Kind über viele Meilen auf einem Pferd mitzunehmen, wo man doch eigentlich beide Hände für die Zügel brauchte. Musste man es nicht sehr gut festhalten?

    »Gib ihn mir, Leentje«, rief Willem.

    Magdalene lenkte ihren Rappen näher an das Pferd ihres Mannes heran und hob das Kind hinüber. Sobald er bei seinem Vater saß, jauchzte der Junge. Er hob die kurzen Arme und winkte in den Wind.

    Sie ritten am Strand entlang, die Hufe der Pferde drückten sich tief in den glattgespülten Grund. Möwen schossen mit zornigem Kreischen über den Himmel. Das ablaufende Wasser hinterließ kleine Krebse und Muscheln, die ein unregelmäßiges Muster in die glitzernde Fläche des feuchten Sandes malten. Mit jeder Welle verdunkelte sich das Sandbett für kurze Zeit, nur um erneut zu trocknen. Die Luft wurde kühler. Die Sonne sank, sie würden bald zurückreiten müssen. Der gleißende Ball spiegelte in tausendfachen Reflexen von Gelb bis Orange auf der unruhigen Oberfläche des Meeres. Es war schwer, sich von der seltenen Erholung dieses Ausflugs zu lösen. Dieser Tag war ein Sonntag, der 28. Mai 1708, der ihnen diese kurze Zeit freien Atmens gönnte.

    Ein letztes Mal genoss Magdalene das Gefühl des Übermuts und gab ihrem Pferd einen Klaps. Es wieherte, brach los und galoppierte über den nassen Sand. Der Wind fuhr in ihr Haar, der Knoten am Hinterkopf löste sich. Die langen Strähnen ihrer kastanienbraunen Locken flogen wild durcheinander. »So war das nicht gemeint«, hörte sie Willem weit hinter sich rufen, aber er lachte. Sie hatte vorher gewusst, dass er lachen würde.

    Hinter ihrem Pferd fraßen die Wellen die Abdrücke der Hufe auf. Das ständige Rauschen des Meeres schluckte Magdalenes Anstrengung, sie ritt, als hätte das Pferd Flügel. Atemlos kam sie nach einer großen Runde an der Kante des Wassers wieder bei Willem an. Ihr Rappe schnaubte.

    »Maman!«, rief Matthijs und hob die Arme.

    »Bleib bei deinem Vater, Matthijs«, antwortete Magdalene, strich das zerzauste Haar auf ihrem Kopf grob zusammen und band das Tuch darüber, das heruntergerutscht war. Sie musterte ihren Mann und den Jungen. Mit dunkler Stimme fragte sie: »Kannst du dir vorstellen, mit einem Kind in Matthijs‘ Alter vor dir im Sattel hundert Meilen zu reiten? Hundert Meilen? Mitten im Winter?«

    Willem schüttelte den Kopf. »Das ist nicht möglich. Hundert Meilen wären viel zu anstrengend für ein so kleines Kind. Das ist schon im Sommer nicht zu schaffen, wie soll das erst im Winter gehen? Wenn es vorn im Sattel sitzt, wird das Kind dem eisigen Wind ausgesetzt und muss sich die Glieder erfrieren. Ein Kleinkind braucht eine Kutsche, einen Ritt sollte man vermeiden. Wenn es unumgänglich ist, bei solchem Wetter mit einem Kind zu reiten, braucht man zumindest ein Hollandpelzchen.«

    »Ein Hollandpelzchen? Was ist das?«

    »Die Leute hier in der Gegend nennen es so. Das ist ein kleiner Pelzmantel mit einer Kapuze, aus mehreren Lagen Stoff genäht, warm gefüttert und unten wie ein Sack verschlossen. Das Pelzchen hat Gurte, damit man es sich an den Leib binden kann. Darin ist das Kind sicher vor Eis und Schnee und dicht beim Reiter. Das haben die Holländer erfunden, später haben die Leute in anderen Provinzen es nachgemacht und nennen es nach dem Land, aus dem es stammt.«

    Magdalene sah nachdenklich hinüber zu ihrem Sohn, der mit den Armen ruderte. Ihr Blick wanderte zur bewegten Wasserfläche und verlor sich in der Ferne. »Vielleicht hat er damals ein Hollandpelzchen gehabt«, murmelte sie.

    »Wer?«, fragte Willem.

    »Jan, mein Milchbruder.«

    Willem strich dem Kind mit der Hand über den Kopf. »Das macht ihn auch nicht mehr lebendig.« Mit fürsorglichem Blick musterte er seine Frau, wie sie verloren über das Wasser in die Ferne sah. »Lass uns heimreiten.«

    Er hob den Kopf und blickte mit gerunzelter Stirn in den Himmel, wo neben der sinkenden Sonne bauchige, schwere Wolken aufgetaucht waren. Magdalene folgte seinem Blick. Die Dunkelheit näherte sich schneller, als ihr lieb war. Hier an der Küste zog das Wetter zügiger heran, als sie es aus ihrer alten Heimat Halle kannte.

    Der Wind frischte auf. In ihrem Rücken wirbelte er Sand auf, peitschte die Oberfläche des Wassers und trieb die Möwen in pfeilschnellem Flug vor sich her. Die beiden Reiter erreichten die schützenden Wände der ersten Häuser von Rotterdam, während es über ihnen bedrohlich zu rumpeln begann. Sie beschleunigten ihren Ritt und erreichten gerade noch rechtzeitig ihr Haus in der Stadtmitte. Das Fachwerkgebäude an einer Kreuzung der Hoogstraat, dem Hauptweg zum Hafen, war groß genug für Willem, seine Frau und sein Gesinde und verfügte außerdem über ein Stück Garten, einen eigenen Stall und ein Lager. Der alte Claas übernahm die Zügel der Pferde. Er würde die Tiere in den Stall bringen und sich gut um sie kümmern.

    Sie stiegen mit Matthijs über die schmale Treppe nach oben, wo Saskia ein Feuer im Kamin angezündet hatte. Die Magd nahm ihnen die Mäntel ab und strich dem Kleinen über die windfrische Wange. Es war wegen der Nähe des Meeres immer ein wenig feucht, und nun war es auch kalt geworden. Die Luft verlor nie den Geschmack des Salzes, der Magdalene auf der Zunge liegen blieb, als wäre es ein Hauch ihrer Heimat. Sie stammte aus einer Salzstadt, wo die Sole aus Quellen geschöpft wurde, und der Duft erinnerte sie an ihr altes Zuhause. Magdalene mochte den Geruch salzigen Wassers, der hier die Färbung von Tang und Fisch annahm.

    Das Essen stand auf dem Tisch, die Schlafenszeit für Matthijs war längst überschritten, aber Willems für den kommenden Morgen geplanter Abschied war Grund genug, die Regeln zu brechen. Der blonde Junge saß auf dem Schoß seiner Mutter und lehnte den Kopf an ihre Brust. Die Augen fielen ihm zu, aber er riss sie immer wieder auf. Magdalene gab ihm ein paar Stücke Käse zu essen. Saskia betrat die Stube und streckte die Arme aus, hob den Kleinen hoch und strich ihm über den Kopf. Magdalene hörte sie ein paar Augenblicke später aus dem Zimmer des Jungen das Schlaflied singen. Endlich hatten Magdalene und Willem wieder Zeit für sich allein.

    Sie betrachtete ihren Mann. Lange braune Locken rahmten sein kantiges Gesicht. Die Locken waren, nachdem er sie vor einiger Zeit hatte abschneiden müssen, schnell wieder gewachsen. Sie verliehen ihm ein weiches Aussehen, nicht, weil sie die künstliche Perücke ersetzten, die Männer von Stand sonst trugen, sondern weil sie mädchenhaft wirkten, was einen Unwissenden über Willems Charakter hinwegtäuschen mochte. Er war kräftig, gesund, ein meisterhafter Schütze, konnte schnell laufen und noch schneller entscheiden. In seinem Beruf waren das notwendige Eigenschaften. Es war ein geheimer Beruf, einer, den man nicht offen nennen durfte. Wenn jemand Magdalene fragte, sagte sie stets: Mein Mann ist Kaufmann. Das war in Holland der gewöhnlichste Beruf von allen, und die Bezeichnung sagte nicht viel, so als ob man in Halle gesagt hätte: Ich bin Salzwirker.

    In Wahrheit war Willem Kundschafter. Sein Kontor nannte sich Batavia-Handelsgesellschaft, das stand auch auf dem Schild, das sie an das Haus genagelt hatten. Aber es war nur ein Name. Es hieß nichts weiter, als dass hier irgendeine Gesellschaft ihren Sitz hatte. Dass sie mit Nachrichten handelte, geheimem Wissen und Fakten, war von außen nicht zu sehen. Kundschafter für die Gesellschaft zu sein, war ein gefährlicher Beruf, keiner, den man ausübte, wenn man Frau und Kind hatte. Es war nicht gut, wenn zu Hause jemand wartete, denn es konnte immer etwas schiefgehen. Nicht jeder Kundschafter kehrte zurück. Keiner der Männer in Willems Gesellschaft hatte Frau und Kind, mit denen er zusammenlebte, nur Willem, und das auch erst seit vier Wochen. Vier glückliche Wochen, seit Magdalene ihren Sohn aus Amsterdam geholt hatte und zu ihm gezogen war.

    »Wirst du lange fort sein?«, fragte Magdalene.

    Willem zuckte die Schultern. »Du weißt, wie das ist. Man kann es nie genau vorhersagen. Ich versuche, in zwei Wochen wieder hier zu sein.« Er legte seine schmale Hand auf ihre. Sie nickte.

    Vier Wochen hatten sie zusammen verbracht, vier Wochen ohne Unterbrechung. Diese Zeit war das Geschenk der Batavia-Handelsgesellschaft gewesen, nachdem Willem heil von seinem letzten Auftrag zurückgekehrt war, in Begleitung von Magdalene und ihrem Sohn. Vier Wochen, seit sie akzeptiert hatte, seine Frau zu sein. Länger konnten sie es nicht mehr hinauszögern, dass er seine Arbeit aufnahm wie früher und sich auf die nächste Reise machte.

    Er legte seine Hand auf ihre. »Ich verspreche dir, wenn ich diesen Auftrag erfüllt habe und wieder hier bin, gehe ich zu Emiel. Ich werde ihm vorschlagen, dich als Kundschafterin aufzunehmen.«

    In Magdalenes Wangen erschienen Grübchen vom Lächeln. »Das ist mein größter Wunsch. Meinst du, er stimmt zu?«

    Willem wiegte den Kopf. »Es hat unbestreitbare Vorteile. Niemand rechnet bei solchen Aufträgen, wie wir sie bekommen, mit einer Frau. Andererseits ist eine Frau schwächer und kann leichter in Gefahr kommen.«

    Magdalene verzog die Mundwinkel. »Mag sein, dass ich nicht über solche Körperkräfte verfüge wie du, aber Schwäche ist eine Frage der Definition. Hier«, sie tippte an ihre Schläfe, »bin ich nicht schwach.«

    »Zweifellos«, murmelte Willem.

    Magdalene musterte ihren Mann. »Du bist nicht sicher, ob es gut ist, wenn ich deine Arbeit teile, stimmt’s? Weil ich dann zu viel weiß?«

    Willem seufzte. »Nein, das ist es nicht. Ich mache mir Sorgen um dich. Es ist ein kräftezehrender, gefährlicher Beruf.«

    »Die meisten Aufträge erfüllst du nicht mit Hilfe deiner Körperkraft, sondern mit dem Verstand.«

    »Die Körperkraft war oft lebenswichtig. Könntest du an einem Seil eine Mauer hinaufklettern? Schneller fortlaufen, als ein Reiter dir folgt? Könntest du fechten? Einen Ringkampf mit einem Verfolger austragen?«

    »Nein«, antwortete sie sanft. »Ich würde den Türwächtern schmeicheln, den Reiter überzeugen, dass ich nicht die Gesuchte bin, dem Verfolger die Augen auskratzen …«

    »Hör auf. Es ist widerlich, mir vorzustellen, dass du mit anderen Männern poussierst.«

    Magdalene grinste.

    Willem fuhr fort: »Ich weiß selbst, welche Mittel ich manchmal für einen Auftrag anwenden muss. Jeder Auftrag ist anders. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ertragen könnte, wenn du fortgehst, und ich muss hier sitzen und auf dich warten.«

    Er musterte ihre gerunzelte Stirn, nickte und fuhr fort: »Andererseits – von dir erwarte ich es ja auch.«

    Magdalene richtete sich auf. In ihr Gesicht trat ein Strahlen. »Ich werde dir beweisen, dass ich Kundschafterin sein kann, Willem. Ich werde eine Aufgabe erfüllen, während du fort bist. Meine Milchschwester hat mich gebeten, das Grab ihres Bruders zu finden, Jans Grab. Wenn ich es finde, bevor du wieder hier bist, dann kannst du Emiel sicher überzeugen.«

    Willem lächelte. »Du bist ein Quälgeist, Leentje. Du wirst sowieso keine Ruhe geben. Meinetwegen beweise mir, dass du es kannst, aber ausgerechnet an dieser Aufgabe wirst du scheitern. Es ist aussichtslos, nach mehr als dreißig Jahren das Grab eines Kleinkinds zu entdecken. Wir haben es schon so oft durchgesprochen und keinen Ansatzpunkt gefunden. Falls du es trotzdem schaffst, werde ich zu Emiel gehen und ihm meine Empfehlung für dich geben. Emiel wird dich mit offenen Armen aufnehmen, da bin ich sicher. Aber du musst noch viel lernen, denke daran. Du begreifst nicht, dass ein Kundschafter seine Gefühle unter Kontrolle halten muss. Versprich mir, dass du dich nicht in Gefahr bringst, solange ich nicht hier bin und dir helfen kann, ja?«

    »Ja«, antwortete Magdalene mit einer solch tiefen Stimme, dass er wusste, für wie unwichtig sie seine Mahnung hielt.

    Magdalene sah seine Miene und lachte. »Natürlich werde ich aufpassen. Meinst du denn, ich will alles aufs Spiel setzen, nachdem wir endlich zusammengekommen sind? Dabei versuchen wir schon zum dritten Mal, zusammenzuleben. Das erste Mal war ich es, die davor zurück-geschreckt ist, als ich nach Rotterdam gekommen bin und wir uns gefunden haben. Das zweite Mal waren die Wochen in Dresden. Nun bin ich für immer zu dir nach Rotterdam gezogen. Und weißt du was? Ich habe das Gefühl, es wird genauso weitergehen, wie es angefangen hat. Es sind bloß vier Wochen gewesen, und schon trennen wir uns wieder. Wenn ich Kundschafterin werde, wird es nicht besser.« Sie beugte sich vor und nahm seine Hände. »Aber das ist nicht schlimm. Wir sind zusammen, Willem, auch wenn wir uns nicht am gleichen Ort befinden.«

    Draußen nahm der Sturm an Stärke zu. Die Fensterläden klapperten in ihren Riegeln, Windböen brausten über das Dach. Willem und Magdalene rückten enger zusammen. Sie sagten beide nichts mehr, hielten einander nur die Hände und sahen sich in die Augen. Das Heulen des Windes klang schaurig im Kamin und ließ das Feuer tanzen und flackern. Ein einzelnes Fenster hatten sie nicht verriegelt, wie immer. Magdalene wollte unbedingt in das Brausen hinaussehen. Schon auf der Schiffsreise über die Nordsee hatte sie fasziniert den Sturm beobachtet, der so schlimm toben konnte, dass ein Mast splitterte und brach. Auch jetzt sah sie hinaus, wie sich die Bäume ächzend bogen, wie ihre Äste auf und ab schwangen, als seien sie tanzende Riesen. Regen klatschte gegen das Fenster.

    Magdalene drückte Willems Hand fester, und er stand auf. Er schloss die Läden dieses letzten Fensters. Das Regenwasser hatte seine lockigen Haare und sein Hemd im Augenblick des Hinausbeugens durchnässt, aber er lachte, Magdalene lachte, und dann gingen sie Hand in Hand hinüber ins Schlafzimmer.

    2. Kapitel

    Luuk Bosman schulterte das Bündel mit seinem Werkzeug. Es war nur ein Leinensack, darin trug er den Hobel, die Stemmeisen, eine kleine Säge, verschiedene Feilen und Raspeln, Bohrwinde, Hammer und Messer. All das war sein Eigentum, sorgfältig gesäubert und in Tuch gewickelt. Er konnte sich nicht leisten, etwas davon zurückzulassen, wenn er ging.

    Er ging ohne Abschied, weil es Zeit war. Luuk war aufmerksam genug, um aus den Worten anderer Menschen rechtzeitig herauszulesen, wann der Zeitpunkt gekommen war. Dieses Mal war es die Tochter seines Meisters, Laurentien, die ihn gewarnt hatte, ohne es zu wissen. Dieses Mal war sie selbst der Grund, warum er verschwinden musste. Er hatte schon verschiedene Gründe gehabt, zu gehen, aber dieser war dringender als alle anderen.

    Der Abend war wunderschön gewesen. Er war der Beginn einer lauen Frühlingsnacht, in der Luft lag der Geruch nach Gras und Blüten. Der Duft kam in diesem Jahr früher als sonst. Sie waren in den Polderwiesen spazieren gewesen. Wenn ein junger Mann und ein Mädchen zusammen spazieren gehen, sehen die Leute genau hin und murmeln etwas von Schicklichkeit. Der Meister erlaubte es trotzdem, das hatte Luuk überrascht. Meister Van de Velde war sonst sehr streng und ließ keine Freiheiten zu, nicht einmal, wenn seine Frau ihn darum bat. Seine Tochter war gerade erst neunzehn. Luuk dachte nicht daran, Laurentien etwas Unschickliches anzutun, aber das konnte der Meister nicht wissen. Luuk war ein gestandener Mann von fünfunddreißig Jahren, und unverheiratete Männer in seinem Alter waren oftmals Raubeine von unstetem Charakter. Bei einigem Überlegen hätte Luuk schon vorher darauf kommen können. Warum vertraute ihm der Meister seine Tochter an, ohne ihm im Vorhinein eine Standpauke zu halten?

    Luuk war Hand in Hand mit Laurentien über die Wiesen gegangen. Seit Wochen sprachen sie bei jeder Gelegenheit miteinander, lange und leise. Es gab immer einen Grund, warum Laurentien sich an Luuk wandte, während sie in der Werkstatt saß. Ihre Wangen glühten, wenn sie ihn sah; sie kam öfter als früher in die Werkstatt, um ihren Vater zu besuchen. Dabei war der Vater ein vielbeschäftigter Meister. Sie setzte sich auf einen Stapel Bretter und sah den Männern zu, warf hin und wieder einen Scherz in die Runde der acht Schreiner und parierte das Necken der anderen.

    Luuk wusste, dass sie in Wirklichkeit nicht wegen ihres Vaters kam. Sie kam ausschließlich, um Luuks Nähe zu suchen. Laurentien gefiel ihm. Sie besaß ein glucksendes Lachen und Grübchen in den Wangen. Er mochte auch die Arbeit in der Werkstatt. Meister Van de Velde besaß die größte Schreinerwerkstatt in ganz Ridderkerk, und Luuk arbeitete schon seit zwölf Monaten für ihn. Zwölf Monate war eine lange Zeit, so lange war er noch nirgends geblieben. Seine letzte Werkstatt war die in Barendrecht gewesen, wo er nur vier Wochen gearbeitet hatte, davor war er für drei Monate bei Meister Schouten in Rhoon geblieben, und davor war es ein anderer, immer ein anderer.

    Luuk erinnerte sich nicht mehr an alle Stationen seiner Laufbahn. Er konnte sich noch an jede Minute und jeden Wimpernschlag seiner Jugend erinnern, aber nicht an all die Schreinerwerkstätten, die er in den letzten Jahren mit Holzstaub bepudert hatte. Letzten Endes waren sie alle gleich. Überall nahm man ihn mit Skepsis auf, wenn er sagte, dass er mit geringem Lohn zufrieden war und als einfacher Schreiner arbeiten wolle. Er kam ohne Zeugnisse. Er besaß nicht einmal ein zweites weißes Hemd, sondern nur das eine, das er sonntags in der Kirche trug. Überall gab man ihm die schlechte Arbeit, das eintönige Schleifen oder grobe Zusägen. Es machte ihm nichts aus. Er war schweigsam und beständig. Keine seiner Arbeiten bot Anlass, ihn zu tadeln. Wenn es nach Luuk gegangen wäre, dann hätten ihm eine gute Arbeit, ausreichendes Essen und ein schmales Bett genügt.

    Aber damit hatte es nie sein Bewenden. Luuk kannte das. Fast immer begann es damit, dass sie ihm bessere Arbeiten gaben. Manchmal musste er Hand anlegen, weil ein großer Auftrag gekommen war, ein andermal kam es dazu, weil einer der älteren Schreiner ausgefallen war. Luuk konnte nicht verbergen, dass es ihm Freude machte, das Holz zu berühren, es zu gestalten, zum Leben zu erwecken. Er fand mit Leichtigkeit die richtigen Formen für Konstruktionen, schnitt Keile und Nuten, ohne ein einziges Mal nachschneiden zu müssen, und schliff Verzierungen so fein wie Blütenblätter. Es gab Gelegenheiten, Intarsien in Tischplatten und Schranktüren zu schneiden oder den geschwungenen Fuß eines Sekretärs herzustellen. Luuk verzog keine Miene, wenn seine Meister vor den Stücken stehenblieben und den Mund kaum zu schließen wagten. Er wusste, dass er sein Handwerk besser beherrschte als die meisten Gesellen. Er wusste auch, dass er ein Meister sein könnte, den Fähigkeiten nach. Aber dieser Ehrgeiz fehlte ihm.

    Luuk ging abends nicht aus. Er blieb lange in der Werkstatt, wo auch immer die sich befand, selbst im Sommer, wenn es heiß war oder im Winter, wenn sie nichts zu heizen hatten. Außer der Werkstatt gab es für ihn irgendein Kämmerchen; wenn es hart auf hart kam, nahm er mit einem Lager auf dem Boden der Werkstatt vorlieb. Er schlief in jedem beliebigen Bett, ob es weich oder hart war. Es genügte ihm, wenn er zuvor Brot oder eine Suppe bekommen hatte, und immer gab es irgendwo eine Küche, bei der er das Essen am Seiteneingang kaufen konnte. Er mochte es nicht, unter Menschen zu gehen.

    Er hätte sein Essen in einem Gasthaus essen können, manchmal auch bei der Familie des Meisters. Aber das war ihm zu viel Gesellschaft. Dort waren Menschen, die etwas wissen wollten und Mutmaßungen anstellten, wieso er allein durch die Welt wanderte. Das ging niemanden etwas an. Da er den Leuten nicht den Mund verbieten konnte, suchte er die Einsamkeit.

    Es gab trotzdem zu viele Gelegenheiten, anderen Menschen zu begegnen. Laurentien war nicht die erste Tochter eines Meisters, die auf ihn aufmerksam geworden war. Schon oft hatte er erlebt, wie die Mädchen sich zu ihm in die Werkstatt setzten, ohne auf den Schleifstaub Rücksicht zu nehmen, wie sie zu lachen begannen und erröteten, wenn er sie ansah. Sie hingen mit Blicken an ihm. Luuk war hochgewachsen, gerade und breitschultrig. Er hatte Augen so blau wie Kornblumen und dazu schwarzes Haar. Wären seine Lippen nicht fest zusammengepresst gewesen, dann hätte man sehen können, wie voll und rot sie waren. Die Weiber sahen ihn gern an, wohin er auch kam.

    Er sah die Weiber auch gern an.

    Es war nicht so, dass er nicht gewisse Bedürfnisse gehabt hätte. Eine schöne Frau verfehlte die Wirkung auf ihn nicht. Wenn sich die Gelegenheit bot, ergriff er sie, denn ein Mann war ein Narr, wenn er es nicht tat. Luuk war nicht von der Sorte, dass ihm die Frau gleichgültig war, zwischen deren Schenkel er sich legte. Er hatte gelegentlich den Fehler gemacht, sein Herz auf die Zunge zu legen. Wenn die Gefühle heftig wurden, konnte auch Luuk viel und lange reden; nicht über schwierige Dinge, nur über Pferde, Felder, Bauernarbeit. Das überraschte seine Gegenüber. Einmal hatte sich eines der Mädchen aus seinen Armen gelöst und ihn erstaunt angesehen. »Luuk, warum redest du auf einmal so viel? Du hast mir gefallen, weil du so

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