Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ein Toter auf Smögen
Ein Toter auf Smögen
Ein Toter auf Smögen
eBook303 Seiten3 Stunden

Ein Toter auf Smögen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Urlaubsstimmung an der schwedischen Westküste – doch Mörder machen keine Ferien

Charles Blake, der Sohn von Smögens allseits bekanntem Heringsbaron James Blake, wird tot im kürzlich renovierten Lotsenausguck aufgefunden. Er scheint sich selbst erhängt zu haben. Doch warum? Charles hat erst kürzlich ein immenses Vermögen von seinem verstorbenen Vater geerbt und lebte ein zurückgezogenes Leben – so wie die gesamte Blake-Familie. Dennis Wilhelmson und Sandra Haraldsson glauben nicht an einen Suizid und ermitteln im Milieu der reichen Kaufmannsfamilien Smögens. Das abgeschiedene Leben der Familie erschwert ihre Arbeit – und dann verschwindet auch noch das jüngste Familienmitglied, die sechsjährige Belle. Wer hat es auf die Blakes abgesehen?

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum25. Mai 2021
ISBN9783749950638
Ein Toter auf Smögen
Autor

Anna Ihrén

Anna Ihrén wurde in Stockholm geboren und hat sich bereits als Kind in Schwedens zerklüftete Westküste verliebt. Als sie mit ihren Eltern nach Göteburg umzog, war sie fasziniert von den Abenteuergeschichten der Seefahrer, und ihr Wunsch, selbst Geschichten zu schreiben, nahm Gestalt an. Zu Beginn ihrer Schriftstellerkarriere verkaufte sie ihre Bücher noch selbst bei Fischauktionen, am Kai von Smögen und überall dort, wo Menschen ihren Urlaub verbrachten. Mittlerweile ist sie Bestsellerautorin in Schweden, und ihre Serie um Dennis Wilhelmsson erfreut sich großer Beliebtheit.

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Ein Toter auf Smögen

Titel in dieser Serie (4)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Ein Toter auf Smögen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ein Toter auf Smögen - Anna Ihrén

    Zum Buch

    Die Familie Blake hat es im Lauf der Jahrzehnte durch den Handel mit Heringen zu beträchtlichem Wohlstand gebracht. Sie residieren in einer herrschaftlichen Villa am Kai, und ihr Butler, der – obwohl des Schwedischen mächtig – nur Englisch spricht, ist nur eines von vielen teilweise skurrilen Statussymbolen der Blakes. Als der Patriarch stirbt, ist Charles Blake schlagartig ein reicher Mann, der kurz danach jedoch tot aufgefunden wird. Was geschieht hinter den Mauern des Familiensitzes? Welche Rivalitäten spielen sich ab, was für Affären werden vertuscht? Dennis Wilhelmson und Sandra Haraldsson ermitteln in der Welt der oberen Zehntausend und stoßen auf ein dunkles Geheimnis.

    Zur Autorin

    Anna Ihrén wurde in Stockholm geboren und hat sich bereits als Kind in Schwedens zerklüftete Westküste verliebt. Als sie mit ihren Eltern nach Göteborg umzog, war sie fasziniert von den Abenteuergeschichten der Seefahrer, und ihr Wunsch, selbst Geschichten zu schreiben, nahm Gestalt an. Zu Beginn ihrer Schriftstellerkarriere verkaufte sie ihre Bücher noch selbst bei Fischauktionen, am Kai von Smögen und überall dort, wo Menschen ihren Urlaub verbrachten. »Ein Toter auf Smögen« ist ihr dritter Roman in der Reihe um Dennis Wilhelmson.

    Lieferbare Titel

    Mord in den Schären

    Tod eines Eisfischers

    Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

    Sillbaronen bei MiMa, Stockholm.

    © Anna Ihrén 2016

    by Agreement with Enberg Agency

    Deutsche Erstausgabe

    © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe

    by HarperCollins in der

    Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

    Covergestaltung: bartsadowski, VectorDIY; / Shutterstock

    Coverabbildung: zero-media.net

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783749950638

    www.harpercollins.de

    Dank

    Danke!

    Meinen Lieblingen

    Dan-Robert, Tim & Bella

    Stammbaum

    Prolog

    Auf dem Steinfußboden des Korridors näherten sich Schritte. Wenn er sich nicht versteckte, würde der Besenstiel seine bereits mit blauen Flecken übersäten Beine treffen. Er fuhr mit der Hand über sein Gesäß und die Rückseite seiner Oberschenkel. Die Hiebe des Rohrstocks hatten tiefe Striemen hinterlassen. Er horchte. Spannte den Körper an. Es gab keinen Ausweg. Tränen schossen ihm in die Augen. Wie Hyänen in der Savanne würden die älteren Schüler den Geruch seines geschundenen Körpers wittern und an den Betten der anderen Erstklässler im Schlafsaal achtlos vorbeigehen. Jetzt war er an der Reihe. Heute war sein siebter Geburtstag. Doch das wusste hier niemand. Er sehnte sich nach der liebevollen Umarmung seiner Mutter.

    1

    Mary Blake lehnte sich über das Balkongeländer. Nicht weit, nur gerade so weit, dass sie auf den Kai hinunterspähen konnte, ohne gesehen zu werden. Als sie vor vielen Jahren in die Kaufmannsvilla an der Hafeneinfahrt von Smögen eingezogen war, hatte noch das Haus der Perssons, in dem sich inzwischen das Café Skäret befand, den blakeschen Familiensitz verdeckt. Doch irgendwann gegen Ende der Fünfzigerjahre, das genaue Jahr wusste sie nicht mehr, hatte man das Haus im Zuge der Bauarbeiten am neuen Smögen-Kai kurzerhand von seinem Standort auf der vorgelagerten Schäreninsel an Land versetzt. Frau Persson und ihre Tochter waren an jenem Vormittag einfach auf der Veranda sitzen geblieben und hatten wie üblich ihren Elf-Uhr-Kaffee getrunken.

    Die Blakes hatten das Geschehen mit zurückhaltender Genugtuung verfolgt. Nach der Verlagerung des Hauses nahm ihre Villa endlich den ihr zustehenden Platz ein. Schließlich war sie das schönste und vornehmste Gebäude am ganzen Kai.

    Verstohlen winkte Mary ihrem Urenkel Hugo zu, der auf einem der Pontonstege stand und die Teilnehmer seiner morgendlichen Speedboot-Tour verabschiedete. Genau wie sein Vater, Großvater, Urgroßvater – ihr Mann – und dessen Vater, der mächtige Smögener Heringsbaron, war er eine echte Unternehmerpersönlichkeit. Ein Lächeln glitt über ihre Lippen. Mittlerweile war Hugo der Einzige, der ihr Gesicht zum Leuchten brachte.

    Obwohl ihr Urenkel geschäftstüchtig, erfinderisch und ein Charmeur allererster Güte war, benahm er sich noch immer wie ein tollpatschiger Welpe. Ein Welpe, der auf seine sportliche, athletische Art Geld verdiente. Noch dazu mit einem Konzept, das ihm einen Heidenspaß machte: in RIB-Speedbooten mit bis zu sechzig Knoten zwischen den Schären der schwedischen Westküste über die Wellen zu fliegen.

    Als Hugo sie im Frühjahr um Geld gebeten hatte, um seinen Traum zu verwirklichen, hatte sie ihn an seinen Urgroßvater James junior verwiesen. Doch nach dem Gespräch war er wie ein geprügelter Hund angeschlichen gekommen. James hatte ihm ein kategorisches Nein erteilt.

    Das hätte das Aus für Hugos Geschäftsidee bedeutet, wenn James nicht in der Nacht zu Mittsommer gestorben wäre. Er war ruhig und friedlich eingeschlafen, die Mitarbeiterin des ambulanten Pflegedienstes hatte ihn morgens tot im Bett gefunden. Und obwohl die Ordnung des Nachlasses ihre Zeit beanspruchte, hatte sie Hugo bereits am Montag eine stattliche Summe von ihren eigenen Ersparnissen überwiesen. Denn James hatte Hugos Bitte nicht aus Geldmangel ausgeschlagen, sondern weil er die Macht nicht aus den Händen hatte geben wollen – das kleine bisschen Macht, das ihm noch geblieben war, seit ihn sein höhenverstellbares Pflegebett zu einem Gefangenen gemacht hatte.

    Mary hatte schnell gelernt, dass von ihr erwartet wurde, sich ihrem Mann unterzuordnen. James hatte ihr gegenüber nie die Stimme erhoben. Sie nie geschlagen. Er hatte ihr auf andere Art zu verstehen gegeben, dass sein Wort Gesetz war. Ein Gesetz, dem sie sich besser fügte.

    Aber Hugos Traum hatte jetzt verwirklicht werden müssen, in diesem Sommer. Ihr Enkel lebte ausschließlich im Hier und Jetzt. Und vielleicht hatte er deshalb seine Schulzeit in dem englischen Elite-Internat erstaunlich gut überstanden. Die Lebensfreude und der Abenteuergeist, die er ausstrahlte, schützten ihn. Als er nach Abschluss seines Studiums im Frühjahr nach Smögen zurückgekehrt war, hatte er nichts von seiner Unbeschwertheit eingebüßt.

    Hugos Feuereifer erinnerte Mary daran, wie sie selbst in seinem Alter gewesen war. Doch das isolierte Leben in der Kaufmannsvilla hatte ihren inneren Antrieb erstickt. Ihren Willen, sich zu entwickeln, etwas zu erschaffen und zum großen Ganzen beizutragen. Am Ende war nur ihr Aussehen von Bedeutung geblieben, diese Fassade hielt sie eisern aufrecht. Jeden Morgen um acht kam ihre Friseurin Madeleine und machte ihr Haar und Make-up, damit sie pünktlich zum Frühstück umwerfend aussah. Und davor verließ sie auf gar keinen Fall ihre Privaträume.

    Marys Blick wanderte zu Hugo zurück, der eine neue Touristengruppe an Bord begrüßte. Sie lenkte ihren Rollstuhl ins Haus. Hugo zuzuwinken, verschönerte ihr den Vormittag, und das hatte sie nun getan.

    Sandra stand mit einem Ruck auf und ging in die Rezeption des Kungshamner Polizeireviers, um die Kollegin zu begrüßen, die sie als Urlaubsvertretung unterstützen sollte. Sandras eigener Urlaub begann im August. Helene, deren Mann als Hausmeister bei der Gemeinde arbeitete und nur während der regulären Betriebsferien Urlaub nehmen konnte, wenn die Schulen geschlossen waren, hatte den Juli bekommen. Sandra war das ganz recht: Erstens wartete sie gern, bis die Meerestemperatur die Zwanzig-Grad-Marke geknackt hatte, und zweitens war sie Single. Seit der SMS an Heiligabend herrschte zwischen Rickard und ihr Funkstille. Das Letzte, was sie gehört hatte, war, dass er die Stelle beim Göteborger Sondereinsatzkommando bekommen hatte und jetzt unter Cleuda, Dennis’ Ex, arbeitete.

    Die junge Kollegin an der Rezeption gab ihr die Hand.

    »Nathalie Colette«, stellte sie sich vor.

    »Sandra Haraldsson«, erwiderte Sandra und führte Nathalie in den Besprechungsraum, wo Dennis auf einem der gelben Stühle saß und in Unterlagen blätterte, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Als Sandra und Nathalie hereinkamen, stand er auf und begrüßte ihren Neuzugang.

    »Mach es dir bequem«, sagte er und forderte Nathalie mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. Nathalie nahm Platz und stellte eine rote Yves-Saint-Laurent-Tasche auf den Nachbarstuhl, die perfekt auf den Rotton ihrer Lederjacke und ihres Nagellacks abgestimmt war.

    »Habe ich ein eigenes Büro?«, erkundigte sie sich.

    »Donnerstags zwischen zwölf und fünfzehn Uhr vertrittst du Helene am Empfang. An den übrigen Tagen ist unsere Rezeption geschlossen«, erwiderte Dennis. »Dann unterstützt du uns bei laufenden Ermittlungen und allen anfallenden Tätigkeiten. Du bekommst Helenes Büro.«

    »An welchen Fällen arbeitet ihr gerade?«

    Dennis warf Sandra, die ihre Urlaubsvertretung mit den rot lackierten Fingernägeln unverhohlen musterte, einen Blick zu.

    »Im Moment haben wir keine größeren Fälle«, antwortete er. »Aber in den nächsten Wochen werden sicher viele kleinere Delikte anfallen, du wirst also gut zu tun haben.«

    »Wer weist mir meine Aufgaben zu?«

    »Ich bin dein Vorgesetzter, aber Sandra wird dich täglich mit Aufgaben versorgen. Mir meldest du gröbere Verstöße oder Angelegenheiten, die besondere Überwachung erfordern.«

    »Besondere Überwachung?«, hakte Nathalie nach.

    »Die Wahrscheinlichkeit ist eher gering«, warf Sandra ein. »Komm, ich mache einen Rundgang mit dir. Kungshamn ist ein kleines Revier, aber ich stelle dir die Kollegen der anderen Blaulichtorganisationen vor, mit denen wir uns die Räumlichkeiten teilen.«

    »Gibt es hier in der Nähe ein Restaurant, in dem ihr Mittagspause macht?«

    »Nein, wir holen uns etwas beim Imbiss oder nehmen von zu Hause eine Lunchbox mit.«

    »Können wir an meinem ersten Tag zusammen Mittag essen?« Nathalie lächelte Dennis an.

    Sandra unterdrückte einen Seufzer und starrte auf die Tischplatte.

    »Hm, ja klar. Gute Idee. Wir fragen Stig, ob er auch Zeit hat«, erwiderte Dennis.

    In diesem Moment stürzte Stig Stoltz mit hochrotem Gesicht in den Besprechungsraum.

    »Wenn man vom Teufel spricht«, bemerkte Sandra.

    »Im Smögener Lotsenausguck wurde eine männliche Leiche gefunden!«, keuchte Stig.

    »Von wem?«, fragte Dennis bestürzt.

    »Von Erling vom Heimatverein. Er wollte den Ausguck für eine Führung vorbereiten. Eine Touristengruppe hat sich angemeldet. Sie interessieren sich für die historische Bedeutung der Schifffahrt vor der Küste von Bohuslän.«

    »Weiß man, wer der Tote ist?«, fragte Sandra ungeduldig, die schon halb aus der Tür war.

    »Challs!« Betrübt schüttelte Stig seine Pausbacken.

    »Challs?«, wiederholte Sandra stirnrunzelnd.

    »Charles Blake. Der Enkel des Smögener Heringsbarons.«

    »Wie alt war er?«, erkundigte sich Nathalie.

    »Das werden wir sehen«, erwiderte Sandra ungeduldig. »Du kannst mit mir mitkommen. Stig, ist der Notarzt schon informiert?«

    Dennis stand am Fenster und blickte Sandra und Nathalie nach, die mit Blaulicht vom Hof rauschten. Diese Zusammenarbeit konnte funktionieren oder schiefgehen. Entweder würden die beiden ein Dreamteam bilden oder wie Hund und Katz aneinandergeraten. Er tippte eher auf Letzteres. Aber vielleicht sollte er nicht gleich den Teufel an die Wand malen. Sandra hatte im letzten Jahr eine enorme Entwicklung durchgemacht. Sie war besonnener geworden und hatte gelernt, ihre scharfe Zunge zu zügeln. Und über Nathalie, die aus der Göteborger Cold-Case-Gruppe zu ihnen stieß, hatte er nichts als Lobeshymnen gehört. Bis zum Frühjahr hatte diese »Gruppe« aus einem einzigen Mitarbeiter bestanden, doch dann hatte Göteborgs Polizeichefin Camilla Stålberg Nathalie Colette als Verstärkung hinzugezogen. Aber während der Urlaubszeit schien Camilla offenbar der Meinung zu sein, dass die kalten Fälle vorerst auf Eis liegen bleiben konnten.

    Wenn Sandra Nathalie akzeptierte, würden sie diesen Sommer gut meistern. Hoffentlich stellte der Arzt bei Charles Blake eine natürliche Todesursache fest. Blake musste um die siebzig sein. Vermutlich hatte er einen Herzinfarkt erlitten, nachdem er die steile Leiter zum Lotsenausguck hinaufgeklettert war. Sandra würde bestimmt gleich anrufen und ihm einen ersten Lagebericht durchgeben.

    Dennis schlug Nathalies Personalakte auf. Er hatte sich überhaupt noch nicht weiter mit der neuen Kollegin befasst, zumal Camillas Entscheidung ohnehin festgestanden hatte. Doch die Begegnung mit Nathalie machte ihn neugierig. Als sie bei der Cold-Case-Gruppe angefangen hatte, war er bereits Dienststellenleiter in Kungshamn gewesen, ihre Wege hatten sich nie direkt gekreuzt. Vor ihrer Versetzung zur Cold-Case-Einheit hatte Nathalie als Ermittlerin bei der Bezirkskripo gearbeitet. Dennis konnte nicht beurteilen, ob sie mit der Versetzung aus der regulären Mordkommission zur Cold-Case-Einheit auf der Karriereleiter nach oben oder nach unten geklettert war. Er sah vor sich, wie sie ihre teure Handtasche mit ihren manikürten, rot lackierten Fingernägeln öffnete. Das war nicht gerade das übliche Erscheinungsbild der Göteborger Ermittlerinnen. Er hatte selbst drei Jahre bei der Göteborger Kripo gearbeitet, und Modepüppchen war er dort nicht begegnet. Aber das lag inzwischen fast fünf Jahre zurück, und seitdem hatte sich innerhalb der Polizei einiges getan.

    Sein Handy klingelte. Sandra.

    »Hirnblutung oder Herzinfarkt?«, fragte er.

    »Ich muss dich leider enttäuschen«, erwiderte Sandra am anderen Ende.

    Der Smögener Lotsenausguck lag, seinerzeit optimal platziert, auf den Klippen an der Westseite der Insel mit freier Sicht nach Süden, Westen und Norden. Von 1899 bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts hatten Lotsen dort trocken und windgeschützt ihre Arbeit verrichtet. In den auf einem hohen Holzgerüst errichteten Ausguck gelangte man über eine steile Leiter. Hatten die Lotsen ein in Seenot geratenes Schiff erspäht, waren sie zuerst die Leiter und anschließend die in die Klippen gebaute grüne Lotsentreppe zum Smögener Hafen hinuntergestiegen, wo das Lotsenboot am Steg vertäut auf sie gewartet hatte.

    Nathalie und Sandra erklommen die frisch lackierte Leiter in sportlichem Tempo. Erling und Walter vom Smögener Heimatverein standen in eine Unterhaltung vertieft vor dem geöffneten Fenster, durch das die Lotsen früher nach Schiffen Ausschau gehalten hatten. Unter Einsatz ihres eigenen Lebens hatten sie von Smögen aus jahrhundertelang schiffbrüchige Seeleute gerettet. Doch als die Lotsenboote mit fortschreitender Technik PS-stärker wurden, war der Standort der Lotsenwache nach Lysekil verlegt worden. Der alte Lotsenausguck war im Frühjahr erst frisch renoviert worden, die Holzdielen in dem kleinen Gebäude glänzten, Wände und Decke erstrahlten in frischem Weiß.

    Nur ein einziges Detail störte den Frieden des historisch bedeutsamen Bauwerks: Der Mann, der auf den blank gebohnerten Dielenbrettern lag, war tot. Darauf achtend, weder die Leiche noch etwas anderes am Fundort zu berühren, nahm Nathalie den Mann in Augenschein.

    »Hat er hier gehangen?« Sandra deutete auf einen Haken an der Decke.

    »Ja«, bestätigte Erling und rang die Hände. »Wir haben das Seil durchgeschnitten und ihn heruntergeholt, weil wir nicht sicher waren, ob er tot war.«

    Sandra schwieg. Natürlich wäre es besser gewesen, Erling und Walter hätten die Leiche gar nicht erst angefasst, aber an ihrer Stelle hätte sie dasselbe getan.

    »Der Notarzt ist unterwegs. Bis dahin würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen – wenn es Ihnen recht ist«, fügte sie hinzu und sah aus dem Augenwinkel zu Nathalie hinüber, die unverändert über die Leiche gebeugt dahockte.

    »Natürlich«, erwiderte Walter, nachdem er Erling einen Blick zugeworfen hatte.

    »Wie gut kannten Sie Charles Blake?«

    »Na ja, so wie man sich eben kennt, wenn man auf einer kleinen Insel lebt.«

    »Aber privat hatten sie keinen Kontakt?«

    Die beiden Männer, die viele Jahre lang selbst als Lotsen gearbeitet hatten, schienen Sandras Frage nicht recht zu verstehen.

    »In die Kaufmannsvilla wird man nicht unbedingt zum Kaffeekränzchen eingeladen«, sagte Erling schließlich, und Sandra sah ein, dass sie sich mit dieser Antwort begnügen musste.

    »Kennen Sie Charles’ Frau? Ich glaube, sie heißt Catherine?«

    Erling und Walter nickten.

    »Sie wird Kate genannt«, erläuterte Walter. »Aber die arme Mary … Charles’ Mutter … sie hat erst vor ein paar Tagen ihren Mann verloren. Er ist an Mittsommer gestorben.«

    »James war immerhin fünfundneunzig Jahre alt. Er hatte ein langes Leben«, sagte Erling.

    »Und wie sein Sohn war auch er kein Kind von Traurigkeit«, fügte Walter hinzu, doch ein Blick von Erling ließ ihn verstummen.

    »Sie können jetzt gehen«, sagte Sandra. »Wir melden uns bei Ihnen, falls wir noch weitere Fragen haben. Bitte sprechen Sie mit niemandem über den Leichenfund. Von jetzt an unterliegen Sie in dieser Angelegenheit der Schweigepflicht.«

    Die Männer nickten und stiegen erstaunlich gewandt die Leiter hinunter. Sandra blickte ihnen nach, als sie in Richtung Marktplatz davongingen.

    Mary Blake schluckte hart. Ein Kloß von der Größe eines Golfballs saß ihr im Hals.

    »Mein Sohn soll Selbstmord begangen haben?«, fragte sie steif.

    Kate nahm ihr das Telefon aus der Hand.

    »Hier ist Kate Blake, Charles’ Ehefrau.«

    »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihren Mann tot aufgefunden haben«, sagte Dennis mit der Stimme, die er immer benutzte, wenn er eine Todesnachricht überbrachte.

    »Wo?«

    »Im Smögener Lotsenausguck.«

    »Was ist passiert?«

    »Ist es Ihnen recht, wenn ich zu Ihnen nach Hause komme?«

    »Ja«, stimmte Kate zögernd zu.

    »Ich mache mich gleich auf den Weg.«

    Sie legten auf. Dennis blieb mit dem Telefon in der Hand stehen. Eine Todesnachricht zu überbringen, war nie angenehm, und die Reaktionen auf eine solche Mitteilung fielen völlig unterschiedlich aus. Doch diese Unsicherheit, wie sie eben in Kate Blakes Stimme mitgeschwungen hatte, war ihm noch nie begegnet. Als er über die Smögenbron fuhr, rief er Sandra an.

    »Wir treffen uns in einer Viertelstunde an der Villa der Blakes. Vor dem Hintereingang, nicht vorn am Kai.«

    Im Lotsenausguck war es heiß wie in einem Backofen. Das Häuschen war winzig, und im Sommer brannte die Sonne unbarmherzig aufs Dach.

    »Was machst du denn hier?«, fragte Sandra erstaunt.

    Miriam Morten bat Nathalie, zur Seite zu treten, damit sie und ihr Assistent die Leiche begutachten konnte. Jesper Korp war neu in der Rechtsmedizin von Uddevalla und arbeitete noch unter ihrer Aufsicht.

    »Ihr habt mich doch angefordert«, erwiderte Miriam.

    »Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir es vielleicht gar nicht mit einem Selbstmord zu tun haben«, erklärte Nathalie.

    »Gefühl?«

    Sandra sah Nathalie wütend an. Sie hatte Stig gebeten, den Notarzt zu informieren, aber Nathalie hatte über ihren Kopf hinweg einfach die Rechtsmedizin hinzugezogen.

    »Na ja, ich dachte …«

    »Was?« Sandra konnte ihre Wut nicht verbergen.

    Nathalie wandte sich an Miriam.

    »In der Dagens Industri stand vor ein paar Tagen ein Interview mit Charles Blake. Er hat nach dem Tod seines Vaters das Familienvermögen geerbt und wurde gefragt, wie er die Interessen der Familie in Zukunft verwalten wolle. Dabei ist er auf die Firmengeschichte eingegangen und erzählte, wie der alte Heringsbaron das Unternehmen Anfang des 20. Jahrhunderts aufbaute. Das Interview hat mich interessiert, weil ich gerade erfahren hatte, dass ich als Urlaubsvertretung hier in Sotenäs einspringen sollte.«

    »Und was wurde über das Vermögen gesagt?«, fragte Sandra skeptisch. »Warum sollte die Erbschaft Charles Blake von einem Selbstmord abhalten? Er könnte schon lange mit dem Gedanken gespielt haben.«

    »Er machte in dem Interview nicht den Eindruck, mit seinem Leben abgeschlossen zu haben. Im Gegenteil, er schien guter Dinge und mit der finanziellen Situation äußerst zufrieden zu sein.«

    »Ich schicke euch im Laufe des Tages einen ersten Bericht«, warf Miriam Morten ein, die gerade die äußere Leichenschau vornahm, ohne Sandras und Nathalies Disput zu kommentieren.

    »Und wir statten der Witwe und der Mutter einen Besuch ab«, beschloss Sandra an Nathalie gewandt, die ihr wortlos die Leiter hinunterfolgte.

    Victoria lag auf dem Steg der Jugendherberge in der Badebucht Makrillviken, der »Makrelenbucht«. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel, mehr Urlaubsfeeling war einfach nicht möglich. Etwa so graziös wie ein Walross hatte sie sich neben Theo niedergelassen, der mit durchwachsenem Erfolg nach Krebsen angelte. Björn hastete am Ufer hinter Anna her, die Laufen gelernt hatte und fest entschlossen war, jede Spalte und jede mit grünen Algen bedeckte Wasserpfütze auf den Klippen zu erforschen.

    »Krebs, Mama, Krebs!« Aufgeregt deutete Theo auf eine große Strandkrabbe, die im Begriff war, sich die Muschel einzuverleiben, die Björn für ihn aus dem Wasser gefischt und geöffnet hatte.

    »Vorsichtig, hol die Schnur ganz vorsichtig ein«, ermahnte Victoria ihren Sohn und ließ für einen Moment ihren eigenen Muschelköder aus den Augen, den sie neben einem Algenbüschel ausgelegt hatte.

    »Gut machst du das. Langsam.«

    Theo, der seine Angel allein einholen wollte, zog Muschel und Strandkrabbe geschickt aus dem Wasser. Doch als der Meeresbewohner die ungewohnte Luft witterte, ließ er seinen Festschmaus im Stich und floh zurück in sein angestammtes Element.

    Victoria, die ahnte, dass die Strandkrabbe bald zum nächsten Muschelgelage übergehen würde, tröstete Theo und beobachtete aus dem Augenwinkel ihre eigene Falle.

    Und kurz darauf tappte die Krabbe hinein.

    »Jetzt schau mal, Theo.« Ruhig und methodisch zog Victoria an der Schnur. Kurz vor der Wasseroberfläche drosselte sie das Tempo und hob dann Muschel und Krabbe aus dem Wasser. Mit fast vierzig Jahren Krebsangelerfahrung bugsierte sie das Tier geschickt in den Eimer, wo es mit den Scheren klickte und sich gemeinsam mit seinen Artgenossen in seinem vorübergehenden neuen Zuhause zu orientieren versuchte.

    »Komm und sieh dir das an!«, rief sie Björn zu, der gerade mit Anna vom Spielplatz kam.

    In dem Moment klingelte ihr Handy. Dennis.

    »Hallo Schwesterherz! Du hast

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1