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Mord auf der Leuchtturminsel: Kriminalroman
Mord auf der Leuchtturminsel: Kriminalroman
Mord auf der Leuchtturminsel: Kriminalroman
eBook334 Seiten4 Stunden

Mord auf der Leuchtturminsel: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Die Patentochter des amerikanischen Präsidenten – ermordet auf der Leuchtturminsel

Auf Smögen hat der Herbst Einzug gehalten. Karl Ström, der als Fallanalytiker bei der Kriminalpolizei arbeitet, entdeckt eine weibliche Leiche auf der kleinen Insel Hållö. Die Identität der Toten ist besonders brisant – es handelt sich um Tricia Andersen, die Tochter des amerikanischen Botschafters und Patentochter des amerikanischen Präsidenten, die an einem Kunstkurs hätte teilnehmen sollen. Dennis Wilhelmson und Sandra Haraldsson von der Polizei Kungshamn beginnen zu ermitteln und stehen unter Druck, da sich der Präsident selbst einschaltet. Ins Fadenkreuz der Ermittlungen gerät ausgerechnet Karl Ström. Was hat er zu verbergen, und warum hat gerade er die Polizei zu der Leiche geführt?

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum26. Apr. 2022
ISBN9783749904136
Mord auf der Leuchtturminsel: Kriminalroman
Autor

Anna Ihrén

Anna Ihrén wurde in Stockholm geboren und hat sich bereits als Kind in Schwedens zerklüftete Westküste verliebt. Als sie mit ihren Eltern nach Göteburg umzog, war sie fasziniert von den Abenteuergeschichten der Seefahrer, und ihr Wunsch, selbst Geschichten zu schreiben, nahm Gestalt an. Zu Beginn ihrer Schriftstellerkarriere verkaufte sie ihre Bücher noch selbst bei Fischauktionen, am Kai von Smögen und überall dort, wo Menschen ihren Urlaub verbrachten. Mittlerweile ist sie Bestsellerautorin in Schweden, und ihre Serie um Dennis Wilhelmsson erfreut sich großer Beliebtheit.

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    Buchvorschau

    Mord auf der Leuchtturminsel - Anna Ihrén

    Zum Buch

    Um ungestört an einem neuen Fall zu arbeiten, zieht sich Karl Ström auf die Felseninsel Hållö zurück. Doch als er spätabends einen Spaziergang macht und die Leiche einer jungen Frau entdeckt, ist es schlagartig vorbei mit der Ruhe. Die Identität der Toten sorgt für immensen Presserummel und macht den Fall zur absoluten Priorität – nicht zuletzt, weil sich das Weiße Haus einschaltet. Dennis Wilhelmson und Sandra Haraldsson werden an den Tatort gerufen, um die Ermittlungen voranzutreiben, und schon bald wird Karl Ström durch eine Reihe von Indizien zum Hauptverdächtigen. Welche Verbindung hatte er zu der jungen Frau? Während er verzweifelt versucht, seine Unschuld zu beweisen, stößt das Polizeiduo am alten Leuchtturm auf weitere Hinweise …

    Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

    Fyrmästaren bei MiMa, Stockholm.

    © by Anna Ihrén

    © 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

    by HarperCollins in der

    Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

    Umschlaggestaltung von zero-media.net, München

    Umschlagabbildung von Jeppe Gustafsson / Alamy

    E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783749904136

    www.harpercollins.de

    Widmung

    Danke!

    Mama

    &

    allen Frauen auf den schwedischen Leuchttürmen

    Prolog

    Wellen spülten über die Reling, Gischt sprühte ihr ins Gesicht. Sie kam aus einer Welt, in der Liebe keine Rolle spielte. Eine Liebesheirat war undenkbar. Ihren Auserwählten hatten andere für sie ausgesucht – unter finanziellen und gesellschaftlichen Erwägungen. Und was das anging, war er ein Volltreffer. Ihre Eltern besaßen Ämter. Seine Geld. A perfect match! Alle waren zufrieden – nur sie nicht.

    Ihr Herz würde nie vollständig heilen können, aber es würde verhärten, bis der Schmerz als Narbe in ihrem Inneren zurückbliebe. Vielleicht hätte sie leben können, ohne das Einzige, was sie sich vom Leben wünschte. Doch dann hatte sich eine Möglichkeit aufgetan. Eine Möglichkeit, die sie nicht ungenutzt hatte lassen können, die ein Teil von ihr geworden war. Ein Glücksrausch durchströmte sie. Diesen Schritt würde sie niemals bereuen, und sie würde den stillen Triumph genießen, dass niemand die wahren Zusammenhänge je erfahren würde. Nicht einmal das Kind, das in ihr heranwuchs und das sie schon jetzt mehr liebte als sich selbst. Eigentlich hatte sie alles, was sie sich erträumt hatte. Bis auf eine einzige Ausnahme. Aber wenn sie dazu gezwungen war, würde sie lernen, ohne die Erfüllung dieses Traums zu leben.

    Sie hielt ihr Gesicht in den auffrischenden Wind. Doch irgendetwas stimmte nicht. Jemand drängte sie gegen die Reling, packte ihre silberne Halskette und schnürte ihr die Luft ab. Sie wehrte sich nach Kräften, sie kämpfte nicht nur um ihr eigenes Leben. Aber die Kette zog sich immer enger um ihre Kehle. Sie sackte aufs Deck.

    1

    Die Hållöfähre glitt am Smögen-Kai entlang aus dem Hafenbecken. Die Hand am Navigationspanel, musterte Kapitän Bertil die drei Frauen, die vorne im Bug saßen und sich gegenseitig mit ihren Handys fotografierten.

    »Ich bin so froh, dass es geklappt hat«, hörte er Katrin jubeln. Bertil wusste, wer sie war. Ihr Vater saß im Vorstand des Hållöer Leuchtturmvereins. »Ich dachte schon, wir finden nie ein gemeinsames freies Wochenende.«

    »Jetzt hat es ja geklappt.« Pia zupfte ihre Frisur zurecht, die der Seewind jedoch augenblicklich wieder zerzauste.

    »Machst du ein Foto von mir?« Annelie drückte Pia ihr Handy in die Hand.

    »Guck doch nicht wie sieben Tage Regenwetter!«, forderte Pia sie auf. »Leg den Kopf zur Seite und lächele mal. Ja, genau so. Wir wollen doch zu keiner Beerdigung.«

    Annelie gab sich alle Mühe zu lachen, aber man sah ihr an, dass ihr die Scheidung zu schaffen machte. Ihr Mann Anders und sie lebten seit einem Jahr getrennt.

    Routiniert navigierte Bertil zwischen Untiefen und Sandbänken hindurch. Wenn der Sund glatt wie ein Spiegel dalag, waren die Gefahren, die vor Smögen unter der Wasseroberfläche lauerten, leicht auszumachen, doch bei starkem Seegang waren sie – zumindest für ein ungeübtes Auge – schwer zu entdecken. Bertil liebte es, Smögen und kurz darauf Kungshamn vom Wasser aus zu betrachten. An diesem Anblick würde er sich niemals sattsehen. Schon als kleiner Dreikäsehoch war er in den Sommermonaten von morgens bis abends auf der Fähre zwischen Hållö und Smögen hin- und hergefahren. Zuerst an der Seite seines Vaters, dann hatte er selbst das Steuer übernommen. Den Rest des Jahres beförderte er gebuchte Reisegruppen wie dieses Trio. Auch Ende Oktober kamen noch Touristen nach Hållö und quartierten sich ein, zwei Nächte in der Jugendherberge »Utpost« ein. Dies war seine vorletzte Tour für heute. Dann wartete seine Frau zu Hause mit dem Essen auf ihn. Freitags kaufte sie immer Köstlichkeiten aus Göstas Fischtheke, allein beim Gedanken daran stieg Bertil der aromatische Duft von frischen Hummerschwänzen in die Nase. Dieses Freundinnengespann würde er in zwei Tagen wieder abholen. Insgeheim fragte er sich, ob sie sich wohl so lange vertragen würden. Gestern hatte er ein Künstlerehepaar nach Hållö gebracht, das dort einen Wochenendmalkurs ausrichtete. Doch in Anbetracht des Alkoholvorrats, den er in dem Gepäck der drei vermutete, konnte daraus durchaus ein feuchtfröhliches Gelage werden. Er hatte ihre modischen Reisetaschen der Reihe nach an Bord gehievt, und wenn das Klirren nicht von Saftflaschen gekommen war, musste man nicht bis zwei zählen, um auszurechnen, dass das beträchtliche Gewicht von Spirituosen herrührte.

    »Wann kommt Trish?«, fragte Annelie in diesem Moment.

    »Sie ist bestimmt schon da. Die Luxusjacht von ihrem Daddy ist schließlich kein tuckernder Schärendampfer«, antwortete Katrin.

    »Kann sie eigentlich nie wie wir Normalsterbliche reisen?«, fragte Pia.

    »Du meinst, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln?«, erwiderte Katrin. Die drei prusteten im Chor los, und mit einem Mal schien das Eis zwischen ihnen gebrochen zu sein. Zwei Tage lang würden sie ihre Alltagssorgen vergessen, Beruf und Verpflichtungen hinter sich lassen, ausschlafen, gemeinsam lachen und bei einem Glas Wein die Seele baumeln lassen, davon war Bertil überzeugt. Sobald diese Trish zu ihnen stieße, wäre ihr Quartett komplett.

    Wenn sich die herbstliche Dunkelheit auf Sotenäs herabsenkte, kam es Dennis manchmal so vor, als wäre das Tageslicht nur eine flüchtige Flause des Sommers gewesen. Im künstlichen Leuchtstoffröhrenlicht des Kungshamner Polizeireviers machte er sich selten Gedanken darüber, aber Dunkelheit und Helligkeit waren entscheidende Stimmungsfaktoren. Der Tageslichtmangel schlug ihnen allen aufs Gemüt. Er hoffte, dass das gemeinsame Afterwork heute Abend Sandras Laune wieder ein wenig hob.

    »Was für ein beschissener Sturm da draußen«, murrte die wie aufs Stichwort und zog ihre Strickjacke enger um sich.

    »Du fluchst wie ein Kesselflicker«, sagte Dennis.

    »Woher stammt diese Redensart eigentlich?«

    Dennis antwortete nicht.

    Sie saßen in Göstas Fischbistro an einem Fenstertisch. Es regnete, und der Wind peitschte heftige Böen gegen die Scheiben.

    »Bald ist schon November«, seufzte er.

    »Für dich wohl eher Movember«, erwiderte Sandra. »Lässt du dir dieses Jahr wieder einen Oberlippenbart stehen? Mit Schnauzer siehst du aus wie eine Schießbudenfigur.«

    »Es gibt Frauen, die das mögen«, verteidigte sich Dennis. »Nimmst du Fish und Chips?«

    »Ja, wie immer.«

    »Wein oder Bier?«

    »Ein Glas Weißwein.«

    »Bist du sauer?«

    »Nein.«

    »Warum bist du dann so kratzbürstig?«

    »Ich bin nicht kratzbürstig, sondern einfach nur müde.« Sandra gähnte gekünstelt.

    »Müde?«

    »Mmh.«

    Dennis gab ihre Bestellung bei einem Kellner auf. »Ist was nicht in Ordnung?«, fragte er dann.

    »Nein, aber im Augenblick liegt in Kungshamn mal wieder der Hund begraben. Ich hatte so auf diese Stelle in Göteborg gehofft.«

    »Du kriegst eine neue Chance, ganz bestimmt. Camilla Stålberg liebt dich, das ist glasklar. Vielleicht weil du so zuckersüß und zum Anknabbern bist.«

    »Hör auf.«

    »Hör du auf, dich wie eine Kratzbürste zu benehmen!«

    »Ich frage mich nur, wie ich es bis Weihnachten mit dir und Stig im Revier aushalten soll.«

    »Jetzt werd nicht auch noch boshaft.«

    »Zum Glück habe ich ja noch Helene«, sagte Sandra.

    Bevor Dennis etwas erwidern konnte, brachte der Kellner ihre Bestellung. Nach ein paar Bissen vom knusprig ummantelten Backfisch mit hausgemachter Mayonnaise und einigen Schlucken Weißwein hellte sich Sandras Miene auf.

    »Tut mir leid. Wenn mein Blutzucker …«

    »Jaja, davon kann ich ein Lied singen. Schön, dass er sich wieder eingependelt hat. Gutes Essen bewirkt wahre Wunder. Eigentlich ist es ziemlich einfach, dich glücklich zu machen.«

    »Sei dir da nicht so sicher.«

    »Bei dir bin ich mir nie sicher.« Dennis’ Handy summte. Eine SMS von seiner Schwester, die ihn daran erinnerte, dass er versprochen hatte, die Kinder zu hüten, während sie zu ihrem Yoga-Kurs ging. Dennis hielt die Luft an. Das hatte er total verschwitzt, und offen gestanden hatte er ein bisschen Bammel davor, allein auf Theo und Anna aufzupassen. Er würde Sandra bitten, ihm ein bisschen unter die Arme zu greifen. Wenn sie mitkäme, könnten sie anschließend weiter zum Erzählabend auf Hampholmen, zu dem er sie eingeladen hatte.

    »Ist es okay, wenn wir vor dem Erzählabend noch bei meinem Schwesterherz vorbeischauen und ein Stündchen auf Theo und Anna aufpassen?«, fragte er.

    »Nichts lieber als das«, erwiderte Sandra, schickte ihrem sarkastischen Tonfall aber rasch ein Augenzwinkern hinterher.

    Dennis seufzte innerlich. Manchmal raubte Sandra ihm den letzten Nerv. Aber trotz allem machte mit ihr zusammen die Arbeit mehr Spaß. Das bildete er sich jedenfalls ein.

    Auf Hållö war der Wind deutlich stärker. Erleichtert registrierte Katrin die mollige Wärme, die ihr entgegenschlug, als sie die Eingangstür der Jugendherberge aufzog. Als Küstenkind war sie an raue Seestürme gewöhnt. Auch Kälte machte ihr nichts aus. Für sie gab es kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung. Sie packte sich dick ein und genoss die plötzlichen Wetterumschwünge, die Leute, die nicht von der Küste stammten, buchstäblich aus heiterem Himmel überraschten. Ihre Freundinnen waren nicht so abgehärtet wie sie. Annelie hatte schon auf der Fähre wie Espenlaub gezittert.

    »Ich kriege das Zimmer neben der Küche«, verkündete Pia. Als passionierte Köchin ließ sie es sich auch diesmal nicht nehmen, für ihr leibliches Wohl zu sorgen. Doch sobald das Essen fertig war, würde sie brüllen wie eine zornige Bärin, wenn sie nicht augenblicklich anträten, um den Tisch zu decken und sich um selbigen zu versammeln.

    »Wann wollen wir essen?«, fragte Katrin. »Können wir vorher noch einen Spaziergang machen?«

    »Geht ruhig«, sagte Pia. »Ich bereite alles vor. Sollen wir sechs Uhr sagen? Bis dahin beehrt uns Trish vielleicht auch mit ihrer Anwesenheit.«

    Katrin und Annelie brachten ihre Taschen auf ihre Zimmer, rüsteten sich mit Mützen und Schals aus, dann gingen sie in die raue und erfrischend salzige Seeluft hinaus. Draußen begann es zu dämmern, und Hållös Wahrzeichen und ganzer Stolz – der rot-weiße Leuchtturm, dessen Signalfeuer Schiffe seit 1842 sicher durch das trügerische Fahrwasser der Göteborger Schären lotste – war lediglich als Silhouette zu erkennen.

    Unter der Wolkenbank, die wie eine schwere Decke über ihnen hing, glühte ein roter Feuerball. Wie aus dem Nichts war die untergehende Sonne am Horizont aufgetaucht.

    »Wunderschön.« Annelie blieb verzückt stehen.

    »Möchtest du das Marmorbecken sehen? Diese wunderschöne Badebucht?« Katrin kannte jeden Stein auf der Insel. Ihr Vater saß im Vorstand des Hållöer Leuchtturmvereins, von ihm hatte sie auch den Tipp mit dem Malkurs bekommen. Die Merlins, das Künstlerehepaar, das den Kurs ausrichtete, war ihnen allen auf Anhieb sympathisch gewesen. Keiner von ihnen hegte Ambitionen, der nächste weibliche Picasso zu werden, aber der Gedanke, etwas Neues auszuprobieren und den Tag anschließend gemeinsam bei gutem Essen und einem Glas Wein ausklingen zu lassen, war ihnen unwiderstehlich erschienen. Und jetzt hatte es endlich geklappt. Nach einem gemütlichen ersten Abend würden sie morgen Vormittag nach dem Frühstück ihre Talente an der Staffelei erproben.

    Victorias und Björns Wohnzimmerfußboden verschwand unter einem Tohuwabohu von Spielsachen. Jeder Quadratzentimeter war mit Legosteinen, Hawaiiblumengirlanden, Matchboxautos und Monsterreifen-Trucks in allen nur denkbaren Größen übersät. Theo und Anna saßen in der Küche am Tisch und ließen sich Spaghetti mit Hackfleischsoße schmecken – mit dem ganzen Gesicht. Die weiße Wachstuchtischdecke war rund um ihre Teller genauso orange wie ihre Münder und Wangen.

    »Ah, da seid ihr ja!«, rief Victoria, als Dennis und Sandra hereinkamen. »Mein Yoga-Kurs fängt in einer halben Stunde an, ich muss los.« Ohne ein weiteres Wort drückte sie Sandra Annas Löffel in die Hand.

    »Ich glaube, ich hätte besser einen Ganzkörperoverall anziehen sollen«, seufzte die und blickte an ihrem Mantel hinab.

    »Übung macht den Meister«, bemerkte Dennis oberschlau und setzte sich neben Theo, der allein aß, was jedoch nicht hieß, dass seine Spaghetti immer da ankamen, wo sie sollten. »Wenn du Anna fütterst und den Tisch abwischst, mache ich im Wohnzimmer klar Schiff.«

    »Einverstanden«, stimmte Sandra zu. »Allerdings mit umgekehrter Aufgabenverteilung.« Sie gab Dennis Annas Löffel und ging erst einmal in den Flur, um ihren Mantel aufzuhängen. Kurze Zeit später war der Wohnzimmerfußboden wieder zu sehen, und Annas und Theos Gesichter waren von Hackfleischsoße befreit. Auch die Wachstuchtischdecke hatte ihr ursprüngliches Weiß zurück – dank einer ganzen Packung Feuchttücher.

    Theo und Anna stürmten zu ihrer Legokiste. Sobald alle Steine ordentlich an einem Platz lagen, stand sie wieder hoch im Kurs. Aber am meisten Spaß machte es, die Kiste mit ohrenbetäubendem Getöse auszukippen. Und fünf Minuten später war von Sandras Aufräumaktion nichts mehr zu sehen.

    »Kinder können ganz schön anstrengend sein«, stöhnte sie.

    »Eine Stunde werden wir schon überstehen«, sagte Dennis.

    »Dein Wort in Gottes Ohr.« Sandra ließ sich aufs Sofa fallen. Das Essen bei Gösta und der Wein hatten sie müde gemacht. Theo und Anna krabbelten zu ihr auf die Couch, krochen unter ihre Arme und schmiegten ihre Köpfe auf ihren Bauch. Kurz darauf waren alle drei eingeschlafen.

    Dennis angelte sein Handy aus der Hosentasche und checkte seine Dienstmails. Weder Helene noch Stig hatten irgendwelche besonderen Vorkommnisse gemeldet. Er lehnte sich auf dem Sofa zurück und betrachtete die drei schlafenden Gestalten. So ein Familienleben würde ihm gefallen. Wie er allerdings die richtige Partnerin für das Projekt Familiengründung finden sollte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Bisher waren seine Bemühungen auf diesem Gebiet recht kläglich verlaufen, und manchmal fragte er sich, was mit ihm nicht stimmte.

    Sein Diensttelefon klingelte und riss ihn aus seinen Grübeleien. Eine unbekannte Nummer.

    »Dennis Wilhelmson, Polizei Kungshamn«, meldete er sich.

    »Johanna Dahlström. Es tut mir leid, wenn ich störe, aber ich möchte einen Einbruch in meinen Laden melden. Mir gehört das Süßwarengeschäft auf Smögen.«

    »Das Süßwarengeschäft in der Sillgatan?«

    »Ja, genau.«

    Der Süßwarenladen neben dem Surfer’s Inn war bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen beliebt. Wider besseres Wissen nahmen die Beine nach einem Spaziergang über den Smögen-Kai ganz von selbst Kurs auf den verführerischen Naschtempel.

    »Ich komme.« Dennis legte auf und eilte zur Tür.

    »Passt du kurz allein auf die Kinder auf, Sandra?«, rief er über die Schulter. »Ich bin gleich wieder da.« Auf der Veranda stieß er auf Victoria, die ihn verblüfft ansah.

    »Ein Einbruch«, erklärte er. »Es dauert nicht lange, und Sandra kommt gut ohne mich klar.«

    Auf Victorias Stirn bildete sich eine skeptische Falte, aber sie ließ ihren Bruder vorbei.

    Wahrscheinlich wirkte das glasklare Wasser des Marmorbeckens um diese Jahreszeit weniger einladend als im Sommer, dachte Annelie. Aber von der ungewöhnlich klaren Sicht auf den hellen Sandboden ging ein eigentümlicher Reiz aus. Sie konnte die magnetische Anziehungskraft verstehen, von der die Sommertouristen schwärmten. Katrin hatte oft von wolkenlosen und windstillen Tagen erzählt, an denen diese kleine Felseninsel von Naturliebhabern aus aller Welt bevölkert war. An einem Besuch des Leuchtturms und des Marmorbeckens kam niemand vorbei, aber auf Hållö gab es auch Gletschertöpfe und Orte, die während des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle gespielt hatten. Annelie hatte keine Ahnung, ob die Zeit für all diese Ausflugsziele reichen würde. Aber die historischen Schauplätze lockten sie jedenfalls mehr als ein Bad in der herbstlichen Ostsee. Zähneklappernd sah sie dabei zu, wie Katrin sich aus ihren Kleidungsschichten schälte.

    »Nimmst du meine Sachen mit?«, lachte die, als sie Annelies entsetztes Gesicht sah. »Wir treffen uns unten am Strand.« Die Badestege waren schon abgebaut, aber Katrin tauchte unbekümmert mit einem vollendeten Kopfsprung von einem Felsvorsprung ins eiskalte Nass. So schnell sie konnte, kletterte Annelie über die Klippen zu dem schmalen Kieselstrand unten in der Bucht. Während Katrin ans Ufer kraulte, pellte sie sich aus der obersten Schicht ihres Zwiebellooks.

    »Hier. Trockne dich mit meinem Pulli ab«, sagte sie, als ihre Freundin aus dem Wasser stieg. »Du bist verrückt«, fuhr sie fort. »Ich frage mich, wann dich endlich jemand zur Vernunft bringt. Wir gehen stramm auf die vierzig zu.« Katrin schnitt eine Grimasse und schüttelte sich das Wasser aus ihren langen dunklen Haaren. Für sie war Alter nur eine Zahl, die nicht einmal bei der Wahl ihrer Partner eine Rolle spielte. Ob die Männer jünger oder älter waren als sie, kümmerte sie herzlich wenig.

    »Es war herrlich«, jubelte sie. »Aber jetzt kann ich einen Whisky vertragen, und Pia wartet bestimmt schon mit dem Essen auf uns.«

    Als Katrin sich angezogen hatte, liefen sie zur Jugendherberge zurück. Das war mal wieder eine von Katrins typischen Selbstinszenierungen, dachte Annelie. Sie fand immer einen Weg, sich in den Vordergrund zu spielen. Wahrscheinlich würde sie nie erwachsen werden. In diesem Moment vibrierte ihr Handy in der Hosentasche. Bestimmt Anders, der wissen wollte, wo die Winterpullis der Kinder lagen. Obwohl sie inzwischen getrennt lebten, fragte er sie bei jeder Kleinigkeit um Rat, wenn die Kinder bei ihm waren. In den letzten Tagen war es deutlich kälter geworden. Schon bald würde klirrender Nachtfrost die Pflanzen erfrieren lassen, die während des ungewöhnlich warmen Herbstes noch einmal aufgeblüht waren, als stünde der Frühling und nicht der Winter vor der Tür. Sie warf einen Blick auf das Display. Aber die Nachricht kam nicht von Anders, sondern von Pia, die in Großbuchstaben textete, dass das Essen so gut wie fertig sei, und fragte, wann die Grazien zu erscheinen gedächten. Schnell schrieb Annelie zurück, dass sie in zwei Minuten da seien. Hoffentlich hatte Pia ordentlich aufgetischt. Der Tag im Büro war stressig gewesen, und nach der Arbeit hatte sie sich abgehetzt, um die Fähre zu erreichen. Sie hatte seit dem Mittagessen nichts mehr in den Magen bekommen und war dementsprechend ausgehungert.

    Hafen von Hållö, Sommer 1891

    Ihre blonden Locken wehten im Wind und kitzelten ihre Wangen. Lachend kontrollierte Hedvig den Sitz ihrer Haarschleife. Dann nahm sie ihren jüngeren Bruder bei der Hand und ging mit ihm über den Steg die Klippen hinauf. Ihre Mutter, die mit der kleinen Ingeborg auf dem Arm vorausging, drehte sich um und schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Ihr kleiner Bruder kannte die Gefahren noch nicht, die vom Meer und den steilen Felsen ausgingen.

    »Ist die Insel jetzt unser neues Zuhause?«, fragte Hedvig, als sie Mutter einholte, die oben am Klippenkamm wartete.

    Ihre Mutter nickte lächelnd. »Vater ist jetzt der Leuchtturmmeister von Hållö«, sagte sie stolz und ging mit schwingenden Rocksäumen weiter, die bei jedem Schritt über die rosafarbenen Granitfelsen strichen.

    »Wohnen wir im Leuchtturm?«, rief ihr älterer Bruder, während er im Galopp an ihnen vorbeisauste.

    »Nein, dort drüben!« Mutter deutete auf das größte der roten Häuschen, die sich im Schutz einer Mauer um einen Innenhof gruppierten. Kinderlachen war zu hören. Das mussten die Kinder der Leuchtturmwärterfamilie sein, dachte Hedvig.

    »Wo ist Vater?«, fragte sie.

    »Er arbeitet schon im Leuchtturm«, antwortete Mutter. »Aber er kommt später zum Abendessen.«

    Hedvig ließ ihren Blick über die weich geschwungenen Klippen und den rot-weißen Leuchtturm wandern. Ein schöneres Bauwerk hatte sie noch nie gesehen. Vater sagte, dass an der Spitze des Leuchtturms jede Nacht ein schutzverheißendes Licht brannte, das die Seeleute vor Gefahren bewahrte. Vater hatte auf Klövskär als Leuchtturmgehilfe und auf Väderöbod als Leuchtturmwärter gearbeitet, aber jetzt hatte er endlich eine Anstellung als Leuchtturmmeister bekommen! Als Vater und Mutter ihnen davon erzählt hatten, hatten Vaters Augen gestrahlt, und Mutter hatte wie ein junges Mädchen gekichert. Ab heute war sie die Frau des Leuchtturmmeisters von Hållö. Und Hedvig musste ihr beim Umzug helfen. Du bist jetzt ein großes Mädchen, hatte Mutter gesagt. Im Frühling wurde Hedvig sieben, dann würde sie auf Hållö in die Inselschule gehen. Das Klassenzimmer lag im Wohnhaus des Leuchtturmmeisters, hatte aber einen eigenen Eingang. In dem Klassenzimmer standen zwölf Schulbänke. Dort würden sie und ihr älterer Bruder unterrichtet werden.

    In diesem Moment blieb Mutter vor dem Durchgang zum Innenhof des Leuchtturmdorfs stehen. Sie ging vor Hedvig in die Hocke und fasste sie sanft bei den Schultern.

    »Von heute an heißt es du und ich, Hedvig«, sagte sie und sah Hedvig liebevoll an.

    Hedvig nickte. Sie war nicht sicher, ob sie verstand, was Mutter meinte. Aber sie hatte gesehen, wie Mutter hochschwanger den Leuchtturm von Väderöbod betreut hatte, während Vater auf dem Festland Besorgungen erledigte. Also verstand sie vielleicht doch. Schon auf Klövskär hatte sie auf ihre jüngeren Geschwister aufgepasst und Mutter im Haushalt geholfen. Während die Kleinen schliefen, hatte sie die Böden gefegt, die Holzdielen geschrubbt und Makrelen ausgenommen. Ihr großer Bruder hielt sich von allen häuslichen Pflichten fern. Entweder spielte er draußen in den Buchten, half Vater beim Be- und Entladen des Bootes oder sammelte Heidekraut. Vielleicht wollte Mutter damit sagen, dass Hedvig die Einzige war, die sie bei ihren zahlreichen Pflichten ein wenig entlasten konnte, abgesehen von der Betreuung des Leuchtturms. Das konnten nur Vater oder Mutter erledigen. Hedvig straffte die Schultern und machte sich groß. »Mutter und ich«, sagte sie und lächelte stolz.

    Mutter umarmte sie, dann ging sie mit zielstrebigen Schritten auf das Wohnhaus des Leuchtturmmeisters zu.

    2

    Love Hedberg schlüpfte in seine Jacke. Eigentlich verließ er die Wetterstation nur ungern, aber als die Frau, die sich als Pia vorgestellt hatte, überraschend angeklopft und ihn heute Abend in der Jugendherberge zum Essen eingeladen hatte, hatte er nicht ablehnen können. Der Inhalt seiner Freitagabend-Lunchbox versprach einen kulinarischen Genuss von in Sojasauce gewokter Pappe. Er liebte seinen Beruf, das Gefühl, allein – oder so gut wie allein – auf abgelegenen Außenposten zu sein, aber die Verpflegung ließ einiges zu wünschen übrig. Gerade war Schichtübergabe, und seine Kollegin Sofie löste ihn ab. Sie hatte ihn quasi davongejagt. »Geh und amüsier dich«, hatte sie gesagt, und er hatte widerstrebend eingewilligt, allerdings vor allem, weil er nicht wollte, dass sie ihn für einen eigenbrötlerischen Stubenhocker hielt.

    Sofie Tidén war die Frau seiner Träume. Sie

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