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Hitzewelle: Niederrhein-Krimi
Hitzewelle: Niederrhein-Krimi
Hitzewelle: Niederrhein-Krimi
eBook373 Seiten4 Stunden

Hitzewelle: Niederrhein-Krimi

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Über dieses E-Book

Pfarrerin Erlenbecks Gespür für Geheimnisse

Im Rheindorf Mehrum werden die erhängten Leichen eines alten Ehepaars gefunden. Die erste Vermutung eines gemeinschaftlichen Freitods bestätigt sich nicht. Stattdessen alles darauf hin, dass die beiden ermordet wurden. Zunächst geraten die drei Kinder der Toten ins Visier der Ermittler, doch dann rückt zunehmend die sogenannte »Mehrumer Gilde« in den Fokus, eine jahrhundertealte Gemeinschaft, der fast alle Bewohner des Ortes angehören. Und als ob das Ermittlerteam um Freddie und Skalecki nicht schon genug Verdächtige hätte, erfahren sie auch noch, dass zwei Fremde sich nur wenige Tage vor dem Tod des Ehepaares nach diesem erkundigt haben. Vielleicht bringt Christin Erlenbecks untrüglicher Spürsinn für die geheimen, tief vergrabenen Dinge vergangener Tage die Ermittler auf die richtige Spur?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Dez. 2023
ISBN9783954416745
Hitzewelle: Niederrhein-Krimi
Autor

Sabine Friemond

Sabine Friemond (* 1968) ist gelernte Buchhändlerin. Ihre Liebe zu Büchern ist bereits daran ersichtlich, dass sie am Niederrhein eine Buchhandlung in Voerde betreibt. Ihre Heldin Pastorin Christin Erlenbeck ermittelt bereits in ihrem fünften Fall.

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    Buchvorschau

    Hitzewelle - Sabine Friemond

    Prolog

    Mehrum 1944

    Die Luft war erfüllt von kleinen goldenen Funken. Man konnte sie nur sehen, wenn sie durch das Sonnenlicht, das wie kleine Strahlen durch die Astlöcher hereinfiel, rieselten. Verließen sie das Licht, waren sie nur noch Staub.

    Auch Mateusz’ Haare schimmerten mal wie ein goldener Kranz um sein markantes Gesicht, mal nahmen sie wieder das Stumpfblonde an, das ihm die Natur gegeben hatte – je nachdem, ob er seinen Kopf hob, um sie liebevoll anzulächeln, oder ob seine Lippen ihren Körper entlangfuhren, um jeden Zentimeter von ihr zu liebkosen.

    Sofija schloss die Augen, versuchte, die gestohlenen Minuten zu genießen, die Bilder von Frau Täufner, die sie mit »Gnädige Frau« ansprechen sollte, zu verdrängen. Versuchte, nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn man, wenn SIE sie hier erwischen würde.

    Es ist jetzt sicher hier, beruhigte sie sich. Die Täufner ist um diese Zeit immer bei ihrer Mutter, um ihr das Abendbrot zu richten. Und wenn diese alte Frau nicht so große Angst vor ihr, der Ukrainerin Sofija, die die Alte für eine Russin hielt, hätte, müsste sie selbst jetzt dieser Frau das Abendbrot richten und wahrscheinlich noch die vollgemachte Bettwäsche wechseln und frisches Wasser holen und, und, und.

    Mateusz musste solche Ängste nicht haben. Er war bei der Familie Ritter untergebracht, die ihn mochte und respektierte wie einen von ihresgleichen. Im Grunde konnte er kommen und gehen, wie er wollte, solange er seine Arbeit tat und sich an die Regeln hielt. Wobei die Ritters es selbst ja auch nicht taten, da es für sie selbstverständlich war, dass Mateusz bei den Mahlzeiten mit ihnen am Tisch saß. Wichtig war nur, dass Alfons Rettmann davon nichts merkte. Als Dorfpolizist war er überaus eifrig dabei, sämtliche Verstöße gegen den »Ostarbeitererlass« zu melden, was für die- oder denjenigen oft zu harten Bestrafungen führen konnte.

    In der kleinen Scheune, in der sich Mateusz und Sofija trafen, lagerte das frische Heu. Mateusz hatte es so umgeschichtet, dass es eine kleine Nische bildete, die vom Eingangstor aus nicht zu sehen war.

    Es war warm, für einen Tag im Juni schon fast heiß, und die Hitze staute sich in der Scheune. Mateusz hatte Sofijas dünne, fadenscheinige Bluse aufgeknöpft. Mit einem tiefen Seufzen zog Sofija Mateusz zu sich heran, drückte sein Gesicht zwischen ihre Brüste und schloss die Augen. Das kleine, goldene Kreuz, das sie an einer langen, feinen Kette um den Hals trug, pikste ihn dabei leicht in die Wange.

    »Nazavzhydy«, murmelte sie leise.

    Ja, für immer, dachte Mateusz.

    Dann verloren sie sich ineinander.

    Mateusz musste seine Hand sanft auf Sofijas Mund drücken, damit niemand ihre kleinen, unterdrückten Schreie hörte. Vergessen war das Schicksal, das sie beide schon vor über einem Jahr in die Fremde geführt hatte. Von einem Tag auf den anderen ihren Familien entrissen, zu Gefangenen gemacht, unter erniedrigenden Umständen zu Menschen verfrachtet, die ihre Feinde waren und für die sie jetzt von morgens bis abends schuften mussten, da in diesem Moment deren Männer, Brüder und Söhne auf ihre Männer, Brüder und Söhne schossen.

    Sie klammerten sich aneinander, weil das Schicksal ihnen ein klein wenig Glück in diesem Unglück geben wollte. Oder weil sie sich dieses kleine Glück nahmen. Eine Ukrainerin und ein Russe, deren Blicke und Körper sofort zueinandergefunden hatten, die sich gegenseitig liebkosten, hielten und Kraft gaben. Die sich verstehen konnten, da ihre Sprachen sich ähnelten und so der Klang der Heimat den Schmerz etwas linderte.

    Bevor sie sich wieder ankleideten, um zu den Höfen und Menschen zurückzukehren, für die sie arbeiteten, streichelten sie einander die erhitzten Gesichter. Kichernd zupften sie sich gegenseitig die Halme aus den Haaren, küssten sich noch einmal.

    »Do skorogo«, seufzte er leise. Bis bald.

    Sofija musste zurück zu ihrer Dienstherrin und dort wahrscheinlich bis zum Einbruch der Dunkelheit – und die ließ jetzt, im Frühsommer, lange auf sich warten – noch hart arbeiten, bevor sie ins Mehrumer Schloss zurückdurfte, wo sie und einige andere ukrainische Zwangsarbeiterinnen untergebracht waren.

    Das leise Schleifen des Scheunentors ließ sie zusammenfahren. Wieder drückte Mateusz Sofija seine Hand auf den Mund, diesmal jedoch, damit sie nicht vor Schreck aufschrie. Die Panik in ihren Augen schnürte ihm vor Mitleid die Kehle zu, am ganzen Körper spürte er das heftige Pochen ihres Herzens. So vorsichtig wie möglich löste er seine Hand und richtete sich etwas auf, um über das Heu zu gucken. Aber er konnte niemanden sehen. Das Tor war nur wenige Zentimeter geöffnet, niemand hätte dort hindurchgepasst. Vielleicht hatte nur eine kleine Windbö gegen das Tor gedrückt, die Luft wurde immer drückender, sicher würde es gleich ein Gewitter geben.

    Er verabschiedete sich mit einem aufmunternden Lächeln von Sofija und stieg laut pfeifend die Leiter hinab, jederzeit bereit, zur Tarnung ein Bündel Heu zu schultern und mit hinauszunehmen.

    Vor der Scheune schaute er unauffällig nach links und rechts. Nur Willi Ritter, den neunjährigen Sohn der Familie, bei der er untergebracht war, konnte er sehen.

    »Was du sein hier?«, rief Mateusz. »Hilf mir, die Tiere füttern.«

    »Diere«, verstand Willi, grinste aber schon lange nicht mehr über den harten Akzent des Russen. Mateusz strubbelte dem Jungen durch die Haare, legte ihm den Arm auf die Schultern und führte ihn von der Scheune weg.

    »Hans wollte bei uns Erdbeeren klauen«, beschwerte sich der Junge und versuchte, mit Mateusz’ lang ausholenden Schritten mitzuhalten.

    »Hans Täufner?«, fragte der Russe. »Der sein gerade hier?« Ein leichter Schatten fiel über sein Gesicht, was Willi jedoch nicht bemerkte. Ihm fiel nur auf, dass es ein wenig nach »Teufel« geklungen hatte, als Mateusz den Namen ausgesprochen hatte.

    1. Kapitel

    Samstag, Sommer 2022

    »Zielperson nähert sich dem Tatort. Over.«

    »Roger. Sehe auch, wie sie sich nähert. Over.«

    »Roger. Guckt sich um. Geht weiter. Over.«

    »Roger. Bleibt stehen. Scheint zu überlegen, ob sie es wirklich durchziehen will. Over.«

    »Roger. Over.«

    »Sollen wir die Observation abbrechen? Over.«

    »Roger. Nein. Over. Ich will die erwischen. Over.«

    »Roger. Du wirst dann aber den Zugriff alleine vornehmen. Du hast die Aktion geplant, du wirst mit den Konsequenzen klarkommen müssen. Over.«

    »Ja, klar, Roger. Das werde ich schon schaffen. Zielobjekt geht weiter! Roger! Äh, over!«

    Maria Skalecki stellte das Funkgerät auf »off«. Mit der gleich wie am Spieß schreienden Flora wollte sie nichts zu tun haben. Mit einem mühevoll unterdrückten Grinsen im Gesicht stieg sie über die große Wolfsspitzhündin Laika, die versuchte, auf den Steinplatten im Schatten etwas kühler zu liegen, und gesellte sich wieder zu ihrem Mann Rolf und zu ihren Gastgebern, ihrem Kollegen Freddie samt seiner Frau Christin und Tochter Mathilda, genannt Matti. Auch Kollege Schlüter und seine Frau Susanne sowie ihre junge Kollegin Laura mit ihrem Freund Hamza waren zu der Grillparty eingeladen.

    Natürlich war Christin nicht entgangen, dass Skalecki ohne Oskar und Flora wieder auf ihrem Gartenstuhl Platz genommen hatte. Gerade als sie die Polizistin darauf ansprechen wollte, hörte sie ein ohrenbetäubendes Geschrei aus Richtung der Gartenhütte. Da die Hütte auf der anderen Seite des Hauses stand, konnte sie nicht sehen, warum Flora so laut schrie, aber dass ihr jüngstes Kind anscheinend nicht ernsthaft verletzt, sondern nur furchtbar wütend war, konnte sie aus der Tonlage heraushören. Also erst einmal sitzen bleiben.

    »Skalecki?«, wandte sie sich mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an Freddies Kollegin, die zusammen mit ihrem Mann zu den engsten Freunden des Erlenbeck-Neumann-Haushaltes zählte.

    »Was?«, fragte diese zurück, zog ihre Schultern hoch, streckte die geöffneten Handflächen vor sich aus und setzte eine beleidigte Miene auf, die unterstreichen sollte, wie unschuldig sie an dem Geschrei der Kleinen war und wie empört über Christins angedeutete Vermutung. »Oskar hat das eingefädelt. Er hat mich um Unterstützung gebeten. Und ich finde, in der Sache hat er recht. Das ist quasi schon Verkehrserziehung.«

    Wie aufs Stichwort kamen Oskar und Flora um die Hausecke herum. Die blonden Haare des kleinen Mädchens hingen ihr tropfnass ins Gesicht, wütend versuchte sie, sich aus Oskars Griff um ihren Oberarm zu befreien.

    »Sie wollte es wieder tun«, rief Oskar. »Sie ist wieder zur Hütte geschlichen, um sich ihr Laufrad zu nehmen und abzuhauen.«

    »Und warum ist sie so nass?«, wollte Freddie wissen, nahm seine kleine Tochter auf den Arm und strich ihr die feuchten Strähnen aus dem Gesicht.

    Oskar streckte sich stolz. »Ich habe Wasser auf den Türrahmen platziert, das sollte sie so erschrecken, dass sie sich nicht mehr in die Gartenhütte traut.«

    Alle Gäste der Grillparty schauten angestrengt in eine andere Richtung und versuchten, mehr oder weniger erfolgreich, sich ihr Lachen zu verkneifen.

    »Und du, Skalecki«, fragte Christin, »hast du davon gewusst? Flora hätte sich verletzen können!«

    »Es waren Wasserbomben«, erklärte die Polizistin. »Die sind ganz weich.«

    »Woher hast du denn die Wasserbomben her?«, wollte die Pfarrerin nun von ihrem Sohn wissen.

    Oskar guckte Skalecki an, doch bevor er etwas sagen konnte, sprang Skalecki auf. »Komm, Rolf, wir holen jetzt den Sekt aus dem Kühlschrank.«

    2. Kapitel

    Samstagabend

    Sanft lächelnd beobachtete Hans, wie Anneliese, in jeder Hand ein schmutziges Glas, ganz in Gedanken versunken aus dem großen Wohnzimmerfenster starrte. Die Spannung der angewinkelten Arme ließ langsam nach, die Hände sanken nach unten. Hans sagte nichts, die Gläser waren leer, so konnte nichts auf den Teppich fließen. Und wenn schon, dachte er, der Teppich war alt, seine Zeit vorbei.

    Was sah sie jetzt wohl dort draußen, in der Dunkelheit? Sah sie die Kinder, die im Garten spielten? Josef, der mit einem Holzschwert den Stamm des alten Kirschbaums malträtierte? Anne, die mit ernstem Gesicht Kuchen im Sandkasten backte? Oder konnte sie Jeremias sehen, der mit seinem Kinderrädchen Bahnen durch den Garten zog? Er sah nur Annelieses leicht gebückte Gestalt, die sich in der großen Fensterscheibe spiegelte. Ihr Gesicht erschien ihm dagegen wie das einer wesentlich jüngeren Frau. Entspannt, ganz leicht lächelnd, mit rosigen Wangen.

    Als wenn ein innerer Akku die Stromzufuhr wiederhergestellt hätte, lief sie plötzlich weiter. »Warum haben wir so viele schmutzige Gläser hier herumstehen?«, fragte sie ihren Mann, jetzt mit einem verwirrten Gesichtsausdruck.

    »Ach, Liebes! Die Kinder waren doch hier«, erklärte er ihr geduldig.

    Langsam ging seine Frau weiter in die Küche, in die man vom Wohnzimmer aus kam. Sie stellte die Gläser ab. Guckte sich um, lächelte dann wieder.

    »Stimmt. Sie haben auch hier gegessen. Aber wir haben uns gestritten«, fasste sie ihre Erinnerung an den Abend zusammen.

    »Ja«, bestätigte Hans. Er nahm seine Frau in die Arme, drückte sie an sich. »Das war zu erwarten gewesen. Lass uns weitermachen. Ich möchte fertig werden.«

    Kurze Zeit später schauten sie sich zufrieden um. Alles so, wie es sein sollte.

    Hand in Hand gingen sie zur Treppe, die in das obere Stockwerk, in dem ihr Schlafzimmer lag, führte.

    Fast wäre Hans die erste Stufe hinaufgestolpert, als Anneliese plötzlich an seiner Hand zog.

    »Hast du das auch gehört?«, fragte sie ihn.

    Beide lauschten. Ja, nun hörte er es auch.

    * * *

    »Was für eine grandiose Neuigkeit!«, rief Michael Schlüter aus und hob sein Sektglas.

    »Das ist wunderbar«, bestätigte seine Frau und drückte Skalecki an sich. »Dann werden wir ja Nachbarn. Wir Mehrumer freuen uns sehr über neue Dorfbewohner. Übrigens«, fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, »der Frauenchor probt montags, dass du das schon mal weißt. Auch Rolf ist herzlich willkommen, wir brauchen auch immer Männer.«

    Skalecki und ihr Mann sahen sich an, dann fingen beide gleichzeitig an zu stottern. »Ja, mal gucken …«

    »Da überrascht ihr uns aber wirklich«, sagte Freddie. »Dass ihr euch von der Stadt lösen könnt!«

    Mit nachdenklichem Blick betrachtete Skalecki die umstehenden Menschen. Ihr ansonsten eher spöttischer Gesichtsausdruck wurde ganz weich. »Rolf und mir ist irgendwann klar geworden, dass ihr die Menschen seid, mit denen wir am liebsten zusammen sind. Dann fiel uns die Anzeige von diesem traumhaften Haus in Mehrum in die Hände, und als wir es uns anguckten, war uns sofort klar, hier wollen wir wohnen. Dort am Deich ist es wie im Urlaub. Außerdem …«, jetzt blitzte wieder die Skalecki heraus, die die Geschehnisse um sich herum stets mit einer spöttischen Distanz betrachtete, »habe ich dann nicht so lange Anfahrtswege, wenn hier mal wieder etwas passiert.«

    »Werdet ihr dann Oskar zu euch nehmen?«, fragte Mathilda, die genervt ihren jüngeren Bruder anstarrte. »Bitte, bitte!«

    Skalecki musterte den mittlerweile hoch aufgeschossenen Fünfzehnjährigen und schien ernsthaft über diese Frage nachzudenken. »Nein«, antwortete sie dann, »Rolf würde ihn zu sehr verwöhnen, dann würde er noch frecher werden.«

    »Wenn ihr Hilfe bei der Renovierung oder beim Umzug braucht«, schaltete sich nun Hamza, Lauras Freund, ins Gespräch ein, »sagt mir auf jeden Fall Bescheid.« Mit einem Blick zu Rolf fuhr er fort: »Ich kenne eine Menge Leute, die euch sehr gerne helfen würden.«

    Rolf Trautmann konnte sich denken, auf wen Hamza anspielte. Nicht selten hatte Rolf in seiner Funktion als Staatsanwalt dafür gesorgt, dass Bekannte von Hamza glimpflich aus Schwierigkeiten herauskamen. Der junge Mann engagierte sich neben seinem Bauingenieurstudium in einem Duisburger Jugendzentrum.

    »Ich helfe natürlich auch gerne, stecke aber im Moment in einer Klausurenphase«, sagte Laura. Nachdem sie vor einem Jahr ihre Ausbildung zum gehobenen Polizeidienst beendet hatte, hatte sie sich dazu entschieden, Psychologie zu studieren. Der Mord an ihrer Mutter, als sie ein kleines Kind gewesen war, und dessen Aufklärung Jahre später hatten sie, die jahrelang ein eher zwiespältiges Verhältnis zur Polizei gehabt hatte, dazu gebracht, Teil des Rechtssystems werden zu wollen. Durch das Studium wollte sie lernen zu verstehen. Die dunklen Seiten der Menschen. Zu verstehen und vielleicht zu verhindern.

    Mit einem Nicken bedankte sich Rolf bei Hamza. »Darauf kommen wir bestimmt zurück.«

    3. Kapitel

    Mittwoch, fünf Tage später

    Sabine Sommer ärgerte sich. Sie wollte sich nur einen Kaffee aus dem Vollautomaten ziehen und ihn gemeinsam mit einer Zigarette an dem noch kühlen Morgen im Garten genießen, aber die Maschine zögerte dieses Vergnügen gehässig heraus.

    Zuerst verlangte sie, dass der Kaffeesatz geleert wurde. Dann schrie sie nach Wasser, und zu guter Letzt hörte Sabine an dem heiseren Geräusch des Mahlvorgangs, dass der Behälter mit den Kaffeebohnen leer war.

    Nicht aufregen, dachte sie. Wenn dies alles ist, was mich am heutigen Tag ärgern wird, kann ich zufrieden sein. Wenn die Klimaanlage im Büro ausfallen würde, wäre das bei der Wetterprognose viel schlimmer. Positiv denken. Noch kühlten die Fliesen auf dem Küchenboden ihre Füße.

    Mit der Tasse Kaffee in der einen und einer Zigarette samt Feuerzeug in der anderen Hand ging sie in den Garten. Sie setzte sich auf einen abgesägten Baumstamm, den ihr Mann Henno nach einer Rückschnittaktion auf ihren Wunsch dort stehen gelassen hatte. Sabine schloss die Augen. Nahm einen tiefen Zug von der Zigarette, genoss den leicht bitteren Geschmack des Kaffees. Sie liebte es, hier in Mehrum zu wohnen. Ihr Haus stand fast direkt am Deich, hinter dem der Rhein floss. Sie war Mehrumerin und hatte nie damit gehadert, dass sie und ihr Mann nicht weggezogen waren, weg vom Land, weg von dem Rheindorf, in dem es noch nicht einmal mehr einen Kaugummiautomaten gab.

    Sie konnte das Duisburger Ehepaar, das jetzt hierhin zog, gut verstehen. Sie machten einen patenten Eindruck. Beide waren auffallend groß, die Frau, eine Polizistin, sah in Uniform bestimmt imposant aus. Maria und Rolf, man war sofort per Du gewesen, waren im Moment oft in dem Haus, das sie gekauft hatten. Vielleicht würde sie heute Abend einfach mal mit einem kühlen Sekt bei ihnen vorbeigehen.

    Während sie die Ruhe des beginnenden Tages genoss, stellte sie plötzlich fest, dass es zu ruhig war. Mit einem Ruck öffnete sie die Augen, schaute sich um, versuchte, einen Blick in den Garten des alten Ehepaars Täufner zu werfen. Wann hatte sie die beiden zuletzt gesehen? Normalerweise werkelte mindestens Hans um diese Zeit schon im Garten herum, goss ein paar Blumen, setzte den Rasensprenger um, fegte den Gehweg.

    Sabine stand auf, stellte die Tasse auf dem Baumstumpf ab, drückte die Zigarette in dem bereitstehenden Aschenbecher aus und ging zu dem Zaun, der das Grundstück der Familie Sommer von dem ihrer alten Nachbarn trennte.

    Es war ihr unangenehm, so neugierig in den Garten von Anneliese und Hans zu gucken, aber in ihr machte sich ein leises Unbehagen breit, sodass sie diese Indiskretion für gerechtfertigt hielt.

    Die Blumen in den Beeten ließen die Köpfe hängen, die Erde sah hart und vertrocknet aus, und die Spitzen des gepflegten Zierrasens waren braun. Von dem Ehepaar war keine Spur zu sehen, und wenn sie so darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass die Rollos seit Tagen nicht bewegt worden waren.

    Entschlossen ging Sabine ins Haus zurück, zog sich ihre Sandalen an, lief zur Haustür ihrer Nachbarn und klingelte. Das ihr vertraute laute Schellen konnte sie deutlich hören, aber ansonsten blieb alles still. Sie klingelte noch einmal, diesmal länger. Aber auch danach vernahm sie keinen Laut aus dem Haus.

    Sie schaute sich unschlüssig um. Sollte sie Malte, ihren Sohn, wecken, der jetzt in den Sommerferien bis mittags schlief? So ein Verhalten sah den Täufners nicht ähnlich. Die Familie Sommer und das Ehepaar Täufner pflegten zwar kein inniges nachbarschaftliches Verhältnis, dafür war der Altersunterschied zu groß … und da war auch immer eine leichte Abneigung gegen die beiden älteren Menschen. Trotzdem lebte man ein höfliches Miteinander. Und das bedeutete, dass man sich gegenseitig darüber informierte, wenn man längere Zeit weg war und, dies galt allerdings nur für Täufners, dass Sommers sich gegebenenfalls um deren Garten kümmerten.

    Sabine entschied sich dagegen, Malte zu wecken. Sie ging um das Haus herum, um durch die Terrassentür zu gucken. Dort war die Küche, vielleicht konnte sie etwas erkennen, das Rückschlüsse auf Täufners Verbleib zuließ. Sie legte die Stirn an die Glasscheibe und umschattete mit beiden Händen ihre Augen, um besser hineinsehen zu können, als plötzlich die Terrassentür nachgab und Sabine einen kleinen Schritt über die Schwelle nach vorne stolperte.

    Ihr Herz fing an zu klopfen.

    Die Tür war nicht versperrt gewesen. Jetzt war sie sich sicher, dass etwas nicht stimmte. Sie trat in die Küche und nahm sofort einen ekelerregenden Geruch wahr. Verwesung? Kot? Sie unterdrückte den Reflex, sofort das Haus zu verlassen, überlegte, Malte doch zu wecken, als sie ein Geräusch aus dem angrenzenden Wohnzimmer hörte. Ein leises Summen, wie von einem Radio, das keinen Sender empfangen konnte. War doch jemand im Haus?

    »Hans? Anneliese?« Sabine rief sehr laut. »Kann ich reinkommen?«

    Keine Antwort.

    Zögernd ging sie durch die Küche. Der Gestank wurde noch intensiver, sie musste ein Würgen unterdrücken. Das Summen wurde lauter.

    In dem Moment, in dem sie die Tür zum Wohnzimmer aufdrückte, fiel in ihren Gedanken alles an den richtigen Platz.

    Die vertrockneten Blumen. Der Gestank, das Summen. Das Fehlen jeglichen Lebens.

    Und das Bild, das sich ihr bot, war lediglich eine grausame Konsequenz des Ganzen.

    4. Kapitel – Joe, Youssef, Josef

    Samstag, fünf Tage zuvor

    Der harte Rap dröhnte so laut aus den Lautsprechern des BMW, dass er die Vibrationen am Lenkrad spüren konnte. Der Mittelstreifen der A31 flog dicht an seiner linken Seite vorbei. Abbremsen. Wieder ein Penner, der, trotz seiner Lichthupe, im Schneckentempo herauszog, ihn ausbremste, statt seinem doch offensichtlich hoch motorisierten Wagen den Vortritt zu lassen. Als die lahme Gurke endlich wieder nach rechts zog, riss er, in Andeutung eines Stinkefingers, den Arm hoch und warf dem Fahrer einen wütenden Blick aus seinen fast schwarzen Augen zu. Dabei verriss er leicht das Lenkrad, eine Nanosekunde Panik, sofort wieder Kontrolle, Fuß auf dem Gaspedal wieder durchdrücken.

    Mit der rechten Hand tastete er nach der Dose Red Bull, die über den leeren Beifahrersitz kullerte. Er umschloss sie, die Augen fest auf die Fahrbahn vor ihm geheftet, der Zeigefinger suchte den Verschluss, die Fingerkuppe schob sich unter das Metall, zog den Ring hoch, es zischte, keinen Tropfen verschüttet, geübt ist geübt.

    Die Bahn vor ihm war jetzt frei, so konnte er gelassen wieder etwas vom Gas gehen, die Dose ansetzen und trinken.

    Er schüttelte sich. Ekelhaft, pisswarm, ging gar nicht, aber dafür blieb er nach der schlaflosen Nacht wach.

    Wieder die Augen starr nach vorne, rechten Fuß durchgedrückt.

    Noch knapp zwei Stunden, dann wäre er da.

    Joe, Youssef, Josef.

    Sein Herz fing an zu pochen.

    »Joe«, hatte er plötzlich Katrins Stimme im Ohr, »ich denke, es ist vielleicht besser, wenn ich mit den beiden Kindern eine Weile zu meinen Eltern ziehe.«

    Das hatte sie vor einigen Wochen zu ihm gesagt. Als er in ihr schmales, schönes Gesicht schaute, sah er Angst in ihren Augen und Entschlossenheit um ihre Mundwinkel. Martin, ihr Vater, sein Schwiegervater, wartete schon im Auto vor der Haustür. Plötzlich sah er sich mit ihren Augen.

    Youssef.

    Der Türke mit den krummen Geschäften. Nicht mehr Joe, der Mann, in den sie sich verliebt hatte.

    »Das habe ich für dich getan!«, schrie er das Lenkrad an und schlug darauf ein. Seine Kehle schnürte sich zu, das Herz raste. »Du wolltest doch ein Haus. Du wolltest die Auszeiten an der Küste, die Finca auf Mallorca, die Skiurlaube in den Weihnachtsferien!«, presste er hervor.

    Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, er spürte, wie sein T-Shirt unter den Achseln nass wurde.

    »Ey, Youssef, Bruder«, hatte er plötzlich die Stimme von Ali im Ohr. Leise, einschmeichelnd. »Ich glaube, du hast ein Problem, Bruder. Er will das Geld haben. Am besten noch diese Woche.«

    Ali brauchte seinen Namen nicht auszusprechen, Youssef wusste, wer »Er« war. Einer, mit dem man sich nicht anlegen sollte.

    Er musste aufstoßen, Galle stieg ihm in die Kehle hoch, plötzlich hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Geistesgegenwärtig warf er einen Blick in den Rückspiegel und über die Schulter, das Bordsystem zeigte ihm keine Gefahr an, er ging vom Gas, sah das »P« eines Parkplatzes.

    Zwei Minuten später stand er. Stellte mit einem Ruck die Musik aus.

    Sein Herz raste immer noch, es dröhnte in seinen Ohren, aber seine Atmung fing an sich zu beruhigen.

    Wie hatte es nur so weit kommen können?

    Es war ungerecht, Katrin die Schuld in die Schuhe zu schieben. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass er, als es eng geworden war, immer mit ihr hätte reden können. Schon vor dem Ukraine-Krieg waren die Verkäufe rückläufig gewesen. Alle wollten auf einmal Elektroautos, wollten die Prämie vom Staat kassieren. Wieder schlug er auf das Lenkrad. Er hätte einfach nur mit ihr reden müssen! Dass man den Gürtel etwas enger schnallen müsse, einfach etwas weniger ausgeben. Er hätte seiner Frau vertrauen müssen, sie hätte ihm keine Vorwürfe gemacht, sie hätte sofort die Finca storniert. Hätte, hätte, hätte, dachte er wütend.

    Aber nein. Dazu war er zu sehr Youssef. Türke. Macho.

    Ali, der schon einige Jahre bei ihm seine Autos kaufte, hatte das gerochen. Man dünstet den Misserfolg wie kalten Schweiß aus. Vielleicht, weil man ein wenig zu freundlich, zu bemüht beim Kundengespräch ist.

    »Ich hätte einen interessanten Auftrag für dich, falls du im Moment ein bisschen Zeit übrig hast.«

    So fing es an.

    Leicht verdientes Geld, nur Autofahren. Probefahrten, Testfahrten. Und dabei kleine Päckchen mitnehmen. Von Bahnhof zu Bahnhof.

    Ein freundliches Arbeitsklima. So hätte er die Kontakte beschrieben, wenn er eine Google-Bewertung hätte schreiben müssen.

    Wie dämlich er gewesen war! Fühlte sich als der große Youssef, war aber nur der kleine Josef. Eine Spielfigur, die Leute wie »Er« einfach wegwischen würden.

    Befand er sich gerade richtig in der Scheiße, ja sogar in tödlicher Gefahr? Wusste »Er«, dass er eine Frau und zwei Töchter hatte? Wo sie sich aufhielten? Wie weit würden diese Typen für fünfundfünfzigtausend Euro gehen? Sollte er umdrehen und seine Familie außer Landes bringen?

    Verdammter Mist! Wo sollte er innerhalb von ein paar Tagen fünfundfünfzigtausend Euro herkriegen?

    Wieder stieg ihm Galle die Kehle hoch. Tränen schossen ihm in die Augen.

    Er wollte seine Frau zurück. Wollte seine beiden Töchter zurück. Morgens in das verschlafene Gesicht von Katrin gucken, sich mit den Mädchen um die Zeit im Badezimmer streiten, abends das spielerische Handgemenge um den besten Platz auf der Couch.

    Dann dieser irrwitzige Anruf seiner Eltern. Hans und Anneliese. Plötzlich wieder Josef, das adoptierte Kind türkischer Herkunft, einer der drei bunten Pudel in Mehrum.

    »Josef, wir möchten mit euch reden. Mit euch allen dreien«, hatte Hans mit seiner immer noch vollen Stimme ins Telefon gedröhnt. »Es ist wichtig. Am Samstag. Bei uns im Haus.«

    Joe konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt mit seinen Eltern gesprochen hatte. Kira war jetzt dreizehn, Meike elf Jahre alt. Hatten seine Eltern Meike überhaupt schon kennengelernt?

    Bilder von seinen Adoptiveltern stiegen in ihm hoch. Hans. Groß, schlank, immer mit einem selbstbewussten, geschäftigen Gebaren. Anneliese. Kleiner, schlank, immer mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, aber streng und unnachgiebig, wenn es um ihre Prinzipien ging.

    Er erinnerte sich daran, dass es eine Zeit in seiner Kindheit gegeben hatte, in der er so etwas wie Glück und Zufriedenheit verspürte. Anneliese

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