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Warten auf Gianni: Eine Liebesgeschichte in sieben Jahren
Warten auf Gianni: Eine Liebesgeschichte in sieben Jahren
Warten auf Gianni: Eine Liebesgeschichte in sieben Jahren
eBook220 Seiten3 Stunden

Warten auf Gianni: Eine Liebesgeschichte in sieben Jahren

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Über dieses E-Book

Einfühlsam und humorvoll erzählt Susanne Scholl vom Warten und Träumen, aber auch von sehr unerwarteten Momenten der Wahrheit.

Sieben Sommer verbringt Lilly bei ihren italienischen Freunden auf Sardinien und genießt die unkomplizierte, sinnliche Atmosphäre endloser Urlaubstage - und die Zeit mit Gianni, der so gar nichts von einem Latin Lover hat und den sie trotzdem nicht vergessen kann. Sieben Winter jedoch muss Lilly zurück nach Wien in einen reichlich unerfreulichen Alltag: Ihr Ex-Mann hat eine neue, junge Geliebte, ihre beste Freundin stirbt an Krebs, ihr Vater outet sich als homosexuell und schreibt auch noch ein Buch darüber. Also flüchtet Lilly in ihre Traumwelt - und fantasiert von einem Leben mit Gianni, von einem eigenen Kind. Der letzte Sommer jedoch zwingt sie, ihre Wünsche endlich mit der Realität zu konfrontieren …
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum20. Jan. 2016
ISBN9783701745203
Warten auf Gianni: Eine Liebesgeschichte in sieben Jahren

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    Buchvorschau

    Warten auf Gianni - Susanne Scholl

    3

    Das erste Jahr – Der Versuch

    Sardinien also.

    Vor vielen Jahren hatte sie sich einmal dazu überreden lassen. Und war prompt krank geworden. Urlaub im Zelt, was für ein Albtraum.

    Nun, da ihr wieder einmal ein einsamer Sommer bevorstand, hatten ihre Freunde sie erneut eingeladen.

    In ein Haus allerdings, nicht ins Zelt. Eine Camping-Einladung hätte sie auch nicht mehr angenommen. Dass sie nicht fürs Campieren gemacht war, hatte sie mittlerweile begriffen.

    Eigentlich war sie sich nicht ganz sicher, ob sie wirklich mitfahren sollte. Aber sie brauchte Urlaub und Meer und Sonne.

    Denn ihr Leben war gerade ziemlich aus den Fugen geraten: Stefan hatte ihr vor ein paar Monaten nicht nur mitgeteilt, dass er sie nicht mehr liebte, er hatte ihr auch von seiner neuen Flamme erzählt. Nach zehn Jahren, in denen sie sich ihm voll und ganz untergeordnet hatte. Sie hatten die gemeinsame Wohnung gemietet, die er wollte, sie hatten sie nach seinem Geschmack eingerichtet, Lilly, die unter starker Höhenangst litt, hatte ihm zuliebe sogar einem Hochbett zugestimmt, auf das sie nur unter größter Überwindung jede Nacht kletterte. Und dann war sie eines Tages aufgewacht und hatte Stefan beim Packen zugesehen. Er hatte alles mitgenommen. Sogar das einzig Wertvolle, das sie gemeinsam angeschafft hatten – ein Bild von Hauser. Ihr, Lilly, habe das ohnehin nicht gefallen, hatte er gesagt. In den Kleinbus, den er gemietet hatte, hatten sogar sein Schreibtisch und sein Fauteuil hineingepasst, was Lilly nicht weiter gestört hatte, weil sie diesen angeberischen Polstersessel ohnehin heimlich gehasst hatte. Und dann war er gegangen – nicht ohne ihr noch ein schönes Leben zu wünschen. Und Lilly war durch die seltsam leer wirkende Wohnung geirrt, die ihr plötzlich viel zu groß schien mit ihren drei Zimmern, und hatte sich gefragt, was eigentlich geschehen war. Worüber sie allerdings sehr schnell die üblichen wohlmeinenden gemeinsamen Freunde aufgeklärt hatten, die es sich natürlich nicht entgehen lassen konnten, ihr von der Schwangerschaft der neuen Liebe ihres Ex-Freundes zu berichten. Und von der bevorstehenden Hochzeit.

    Stefan hatte mit ihr nie Kinder haben wollen. Hatte sie nie heiraten wollen.

    Sardinien also.

    Die Hinfahrt war eine Katastrophe.

    Das Schiff schlingerte, und Lilly war überzeugt, dass sie und die hunderten Menschen, die sich mit ihr auf der Reise befanden, sterben würden.

    Ertrinken – was für ein grauenhafter Tod. Ertrinken in einem Schiff von der Größe eines Hochhauses, womöglich noch im Tod niedergetrampelt von anderen in Panik geratenen Passagieren.

    Lilly bedauerte, die Einladung angenommen zu haben. Sechs Stunden lang. Sechs Stunden hielt sie die Armlehnen des ihr zustehenden Fauteuils so fest umklammert, dass ihr bei der Ankunft nicht nur übel war von den hohen Wellen, sondern auch die Arme wehtaten.

    Sie brauchte zwei Tage, um sich von der Reise zu erholen und zu begreifen, wo sie sich befand.

    Nie im Leben hätte ich gedacht, dass man sich in einen Ort verlieben kann. Und zwar unsterblich.

    Hast du ja auch nicht. Du hast dich in ein Gefühl verliebt.

    Ein Gefühl? Welches Gefühl denn? Ich hab mich in die Hügel und die Oleanderbüsche, in die Salzseen und die Flamingos verliebt, in die Felder mit den Heuballen und die Überreste längst vergangener Kulturen, in die Strände und die Buchten und die Sonnenuntergänge über dem Meer. Ich hab mich in die viel zu süßen Süßigkeiten verliebt und in die Fregola mit Vongole. Die beste Muschel-Pasta der Welt. Ich hab mich in den Käse und die Tomaten und die reifen Pfirsiche und die heißen Abende verliebt, in die Hunde mit den viel zu kurzen Beinen und den Rosmarin, der am Wegrand wächst. Und in diesen Geruch, wenn man durch die Dünen spaziert …

    Du weißt nicht, von was du sprichst! Du hast dich in eine Idee verliebt und glaubst, dass das die Realität ist …

    Sie war voller Überschwang. Es schien ihr, als lösten sich alle ihre Sorgen, all ihre Trauer, all ihre Verzweiflung im durchsichtigen Wasser des Golfs, an dem das Dorf lag, in nichts auf. So sehr, dass sie sich zu einem Gedicht hinreißen ließ:

    Der Wein ist süß,

    Das Leben eine Weide.

    Ein Blick reicht aus Und

    schon bist du erlöst.

    Vom Honigduft

    Erzählt die wilde Heide,

    Bis zu den Felsen,

    Wo das Wasser tost.

    Verloren bin ich

    In der grünen Weite.

    Allein im Gluthauch

    Eines neuen Tags.

    Möcht fallen

    In die dunkle Tiefe, heute.

    Und neu erstehen,

    Morgen, ohne Angst.

    Sehr kitschig, sehr kitschig. Egal, so fühl ich mich, muss es ja keinem zu lesen geben. Damit sie mich auslachen? Nein, das bleibt bei mir – gehört mir. Damit ich mich im Winter erinnere …

    Carlo und Miriam, die sie nach Sardinien eingeladen hatten, waren alte Freunde aus jener Zeit, als sie zur Perfektionierung ihrer Sprachkenntnisse eine Weile in Rom gelebt hatte.

    Damals war sie das erste Mal von zu Hause weggegangen. Und die Wiener Familie, der »Clan«, wie Lilly sie heimlich bei sich nannte, hatte Wetten darüber abgeschlossen, wie lange sie es wohl alleine in dem großen fernen Rom aushalten würde. Aber Lilly, das Nesthäkchen, hatte sich damals sehr stark und frei gefühlt – Stefan lag ja noch weit vor ihr und konnte sie noch nicht kleinmachen. Sie hatte Rom geliebt und die Menschen, die sie dort kennenlernte. Miriam und Carlo zum Beispiel, denen sie zufällig begegnet war bei einem Konzert von Fabrizio de André, den sie gleichermaßen mochten. Man hatte sich auf Anhieb verstanden, und solange Lilly in Rom studiert hatte, waren sie unzertrennlich gewesen. Vor allem mit Miriam, die damals gerade kurz davor stand, ihr Medizinstudium abzuschließen. Carlo war schon fertig und arbeitete in einem der großen chaotischen Spitäler Roms, über das er die wahnwitzigsten Geschichten zu erzählen wusste, was Lilly zu der Überzeugung brachte, dass sie sich niemals im Leben in Rom in Spitalsbehandlung begeben würde. Was angesichts ihrer Jugend und ihrer durchaus robusten Gesundheit ein relativ leichter Schwur gewesen war.

    Später, als Lilly nach Wien zurückgekehrt war, weil sie in Rom keine Arbeit fand, waren die Freunde in enger Verbindung geblieben. Und als Lilly Miriam weinend angerufen hatte, um ihr von Stefans Auszug zu berichten, hatte diese zunächst erklärt, dass ihr Stefan ohnehin nie sympathisch gewesen war, und dann energisch beschlossen, Lilly müsse diesen Sommer mit ihnen nach Sardinien kommen. Die beiden fuhren seit vielen Jahren jeden Sommer in einen kleinen Ort abseits der üblichen Touristenströme, gemeinsam mit einer ganzen Gruppe von Freunden aus Schulzeiten, die Lilly während ihrer Jahre in Rom ebenfalls kennengelernt hatte.

    Am dritten Abend nach Lillys Ankunft wurde eines der üblichen großen Abendessen veranstaltet, an dem all jene Freunde teilnahmen, die bereits auf der Insel angekommen waren.

    Lilly wurde allen vorgestellt. Auch Gianni.

    Er hatte sie nicht weiter beeindruckt. Er war weder so groß noch so schlank wie Stefan und sein Haar begann sich über der Stirn zu lichten. Er trug ein merkwürdig gemustertes Hemd über weiten Shorts – und einem soliden Bierbauch. An diesem Abend redete er kaum.

    Stefan hingegen war elegant und schlank und trug stolz eine dichte Löwenmähne.

    In letzter Zeit hatte auch er kaum mit Lilly gesprochen – bevor er sie endgültig verlassen hatte.

    Geblieben war ihr ein ungeheures Minderwertigkeitsgefühl, das er ihr in den Jahren ihres gemeinsamen Lebens einzutrichtern verstanden hatte. Sie hatte sich ihm ständig unterlegen gefühlt, sich als dumm, ungebildet und uninteressant empfunden und die Nachricht von der neuen Liebe und seinem Weggang fast schon mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. Weil sie sich jetzt wenigstens nicht mehr allzu sehr anstrengen musste. Dachte Lilly.

    Nachts allerdings, wenn sie nicht schlafen konnte, weil ihr Stefan fehlte und das Gefühl, nicht so ganz allein zu sein, nachts also dachte sie an all die Fehler, die sie sich selbst zuschrieb.

    Ihre Ängste und ihre Trägheit, ihre Unfähigkeit als Hausfrau und ihre Scheu vor fremden Menschen. Ihr Körper, den sie schon lange nicht mehr leiden konnte.

    Stefan hatte ihr erfolgreich zu verstehen gegeben, dass er sie nicht mehr attraktiv fand. Vielleicht, dachte sie nachts, wenn sie sich in ihrem Bett hin und her wälzte, vielleicht hatte er sie ja nie wirklich attraktiv gefunden? Auch wenn der Sex zu Beginn gar nicht so schlecht gewesen war. Aber das war lange her. Die neue Liebe, so hatte man ihr hinterbracht, war mindestens einen Kopf größer als sie selbst, dazu gertenschlank und blond. Dagegen, so dachte sie in ihrer Schlaflosigkeit, dagegen kam sie mit ihrem leichten Übergewicht, der Größe einer 12-Jährigen und den kurzen dunklen Locken natürlich nicht an.

    Sie hatte sich gekränkt. Sehr gekränkt. Wochenlang hatte sie sich ins Büro geschleppt, ihre Übersetzungen lustlos verfasst und den Rest ihrer Zeit völlig tatenlos auf dem Diwan gelegen und unsinnige Serien im Fernsehen über sich ergehen lassen.

    Dann hatte sie nach und nach begonnen, Stefan in Gedanken zu ermorden. Sie hatte sich alle seine schlechten Eigenschaften wie ein Mantra vorgezählt, seine Arroganz, seine Selbstverliebtheit, seine Großmäuligkeit. Sie hatte daran gedacht, wie oft sie seine Wäsche vom Badezimmerboden aufgeklaubt und in die Waschmaschine gesteckt hatte, ohne dass er sich jemals dafür bedankt hätte. Daran, wie oft er ihr einen Kino-Besuch versprochen hatte, um dann viel zu spät am Treffpunkt aufzutauchen. Wie oft er sie vor den gemeinsamen Freunden lächerlich gemacht hatte. Sie hatte sich erinnert, wie oft er ihr erklärt hatte, wie dumm sie sei. Das hatte ihr geholfen, ihn weniger zu vermissen.

    Es hatte ihr aber keineswegs geholfen, sich nach einem neuen Partner umzusehen. In ihrem Freundeskreis, der gar nicht so klein war, galt sie als kühl und abweisend, als verschlossen und desinteressiert. Und sie hatte nichts getan, um diesen Ruf loszuwerden. Besser allein, als in schlechter Gesellschaft, hatte sie sich selbst immer wieder vorgesagt – und gar nicht erst riskiert, in eine derartige Lage zu geraten. Und dann war Miriams Einladung gekommen, und Lilly hatte gedacht, dass Italien ihr guttun würde.

    Natürlich ist es das Lebensgefühl, in das ich mich verliebt habe. In das gemeinsame Frühstück am Strand, wenn jeder seine Zeitung liest und man doch zusammen ist. An die abendlichen Besuche bei dem oder jenem, wenn man einfach nur so zusammensitzt, Wein trinkt und sardische Süßigkeiten in Massen vertilgt. An die Tage am Strand unter mindestens fünf Sonnenschirmen, wenn es immer etwas zu bereden gibt. An den Tratsch, der in der Gruppe kursiert und so amüsant ist, weil er mich nicht betrifft. Natürlich habe ich mich in das alles verliebt. Und in das Meeresrauschen, in die Flamingos, die über unsere Köpfe hinwegfliegen und sich dabei krächzend unterhalten wie schlecht gelaunte alte Männer. Die Kellnerin im Lokal am Strand, die mich jedes Jahr begrüßt wie eine Verwandte und sich doch nie merkt, was ich frühstücke. Der Zeitungshändler, der sich mit mir über das Wetter und die Politik unterhält. In das Nie-alleinsein-Müssen. Ich hab mich in ein Dasein verliebt, das von begrenzter Dauer ist und so anders als der Rest meines Lebens, dass ich es ohne Bedauern lieben kann. Auch weil ich weiß, dass es enden wird.

    Sie war seit Jahren nicht mehr am Meer gewesen.

    Stefan hasste das Meer. Er war ein schlechter Schwimmer, hatte wohl auch Angst vor dem Wasser. Sie nicht. Sie war immer gerne geschwommen. Als Kind war sie viele Jahre lang mit den Eltern jeden Sommer an einen Kärntner See gefahren – und dort hatte sie auch schwimmen und das Wasser lieben gelernt. Aber sie hatte Stefan jedes Jahr nachgegeben und war mit ihm in die Berge gefahren. Obwohl jede Fahrt mit einer Gondel oder einem Sessellift für sie eine Qual war. In den Bergen hatte Stefan sich wohlgefühlt. Er hatte sich sportlich und elegant zugleich gekleidet und ihr ständig erklärt, welcher Berg wie hieß und welche Wanderung unbedingt zu unternehmen sei.

    Manchmal hatte Lilly gedacht, Stefan absolviere diese Urlaubsreisen vor allem, um danach von ihnen zu erzählen. Aber eigentlich, so hatte sie sich sogleich korrigiert, eigentlich konnte man ja von den ewig gleichen Wanderungen nicht wirklich viel erzählen. Nach und nach war ihr dann klar geworden, dass es nicht um die Wanderungen ging, sondern um den Aufenthalt in jenem schicken Urlaubsort am See, in dem so viele Prominente oder Halbprominente unterwegs waren. Stefan brauchte das Gefühl, dazuzugehören. Wozu er genau zu gehören glaubte, wenn er stolz in seiner sportlichen Aufmachung durch das Dorf spazierte, hatte sie nie so genau verstanden. Sie selbst hatte sich dort immer ein bisschen fehl am Platz gefühlt und jedes Jahr aufs Neue bedauert, dass sie nicht ans Meer gefahren waren. Nur wenn es einmal sonnig genug war, um in den nicht besonders warmen See zu springen, hatte sie so etwas wie Entspannung verspürt – was sie aber immer sogleich bitter zu bezahlen hatte. Denn was ihr Vergnügen bereitete, ließ Stefan missmutig und auch ungerecht werden. Die schlechte Laune konnte nur vertrieben werden, wenn er einen Politiker oder Schauspieler entdeckte, der in Lederhosen über den Dorfplatz spazierte. Mit einem Wort, die gemeinsamen Urlaube waren nie sehr erfreulich gewesen. Vielleicht, weil sie gemeinsam verbracht wurden. Lilly wäre es allerdings nie eingefallen, Stefan getrennte Urlaube vorzuschlagen – was ihrer Beziehung ja unter Umständen hätte guttun können. Doch dafür war es jetzt ohnehin zu spät. Die neue Liebe spazierte jetzt sicher im Designer-Dirndl an Stefans Seite durch den Ort und die beiden zählten wahrscheinlich, wie viele Leute sie aus dem Fernsehen kannten. Und das zu erwartende Kind würde dann wahrscheinlich auch in teurer Trachtenmode vorgeführt werden. Ach Stefan.

    Sardinien war anders.

    Natürlich hätte sie Stefan irgendwann hierher lotsen können, ihn mit der Aussicht ködern, nicht nur lokale, sondern internationale Prominenzen zu Gesicht zu bekommen. Wieso sie sich nie dazu entschlossen hatte, verstand sie im Nachhinein selbst nicht so recht. In jenem kleinen Ort, wo sie mit Miriam und Carlo am Strand lag oder an der Bar saß, gab es allerdings keine Fernsehpersönlichkeiten – sah man einmal von einem durchschnittlich anerkannten, mittelalten Schriftsteller ab, der in dem Ort allerdings schon zum Inventar gehörte und daher nicht weiter auffiel. Im Übrigen machten hier angenehm normale Menschen Urlaub. Und Lilly entdeckte, dass es niemanden zu interessieren schien, wie viel Übergewicht sie hatte und welches alte Strandkleid sie zum Frühstück anzog.

    Gianni fiel auch nicht weiter auf in seinem merkwürdig bunt gemusterten Hemd und seinen ausgebleichten Shorts, in denen sie ihn am nächsten Morgen in jener Bar am Strand wieder sah, in der Carlo, Miriam und sie jeden Tag frühstückten. Die Bar war ein Treffpunkt der Gruppe und Quelle für unendliche Scherze jeder Art. Denn die Kellnerinnen waren keineswegs für diesen Beruf gemacht. Sie vergaßen auf dem Weg von der Terrasse ins Lokal, wer was bestellt hatte, brachten den Kaffee mit der falschen Menge an Milch und die in Italien unvermeidlichen süßen Croissants fast immer mit der falschen Füllung. Eigentlich war das ärgerlich, aber irgendwie fanden alle das gemütlich und inspirierend. Manchmal, wenn die Gruppe zu groß wurde, gerieten die armen Mädchen ganz und gar außer sich und man musste sie mit Freundlichkeiten überschütten, um überhaupt zu irgendeinem Frühstück zu kommen.

    An jenem Morgen war wieder einmal Panik angesagt. Der Cappuccino schmeckte chemisch, fand Miriam, die auf frischer statt Haltbarmilch bestand und erklärte, sie könne schon am Geruch erkennen, welche Milch man ihr in den Kaffee gegossen hatte. Carlo und sein Freund Simone hatten ihre Croissants statt mit Marmelade mit Schokolade gefüllt bekommen. Und Gianni hielt sich den Bauch vor Lachen, weil die junge Kellnerin ihn gezählte fünf Mal gefragt hatte, was er eigentlich haben wollte.

    Lilly fiel auf, dass er ein spitzbübisches Grinsen hatte. Und ansteckend lachte. Das Frühstück verlief fröhlicher als sonst. Danach teilte sich die Gruppe wie immer auf. Die einen fuhren an einen weiter entfernten Strand, die anderen gingen einfach über die Straße und verankerten ihre Sonnenschirme gegenüber der Bar im Sand. Lilly, Carlo und Miriam fuhren zurück zu dem Haus am Meer. Es war kein Luxusbau, aber es hatte eine wunderbare, wenn auch völlig schattenfreie Terrasse, von der aus man über die ganze Bucht sah. Vor allem gab es unterhalb der Terrasse einen kleinen Sandstreifen, den die drei fast als

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