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Lieben und geliebt werden: Mein Leben nach Auschwitz-Birkenau
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eBook315 Seiten3 Stunden

Lieben und geliebt werden: Mein Leben nach Auschwitz-Birkenau

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Über dieses E-Book

Im Alter von über neunzig Jahren hält Éva Fahidi in ihrem neuen Buch Lieben und geliebt werden Rückschau auf ihr zweites Leben, das beginnt, als sie nach neunzehn Monaten im Lager Auschwitz-Birkenau und Zwangsarbeit in Allendorf als traumatisierte Überlebende des Holocaust in ihre ungarische Heimat zurückkehrt. Schonungslos offen spricht sie über ihre unerfüllten Hoffnungen in den Kommunismus und die bitteren Enttäuschungen, die sie sowohl in politischer wie in menschlicher Hinsicht erlebte. Mit ihren Schilderungen bricht sie ein langes, auch gesellschaftlich "verordnetes" Schweigen. Was sie erzählt, zeugt von der erschreckenden Erkenntnis menschenverachtender, fataler Parallelitäten in den Machtstrukturen autoritärer Systeme wie dem Stalinismus und dem Faschismus.
Mit viel Humor schildert Éva Fahidi ihre Erfahrungen im sozialistischen Alltag und gewährt Einblicke in sehr private Bereiche ihres Lebens.
SpracheDeutsch
Herausgebermarixverlag
Erscheinungsdatum17. Sept. 2021
ISBN9783843806916
Lieben und geliebt werden: Mein Leben nach Auschwitz-Birkenau

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    Buchvorschau

    Lieben und geliebt werden - Éva Fahidi-Pusztai

    Statt eines Vorworts

    Am 1. Juli 2003, neunundfünfzig Jahre nach meiner Verschleppung nach Auschwitz-Birkenau, kehrte ich aus eigenem Entschluss dorthin zurück. Ich war damals achtundsiebzig Jahre alt. Danach wollte ich das Unsagbare aus mir »herausschreiben«. Mithilfe des Zuspruchs und der Unterstützung meiner Familie und meiner Freunde schrieb ich das Buch Anima rerum. A Dolgok Lelke¹, das 2005 in Ungarn erschien. Es hat mittlerweile die dritte Auflage erlebt und damit einen recht großen Leserkreis erreicht. Darüber freue ich mich sehr, und ich möchte allen, die es gelesen haben, dafür danken.

    Schon vor 1947, dem Jahr, in dem das vorliegende Buch den Erzählfaden aus Die Seele der Dinge wieder aufnimmt, erlebten nicht alle von uns das, was uns widerfuhr, auf die gleiche Art und Weise. Das gilt auch für die Jahre danach. Aber auch wenn Schmerz, hilflose Wut, Erniedrigung und Hass nicht für jeden das Gleiche bedeuten, so gibt es doch viele Erfahrungen, die wir teilen. Und wir haben eben – abhängig vom Datum unserer Geburt – nach 1947 eine Reihe von Jahren gemeinsam erlebt.

    Mit dem Titel meines Buches, Lieben und geliebt werden, möchte ich keine falschen Hoffnungen wecken. Ich schreibe über den ungarischen Sozialismus, und zwar so, wie ich ihn ganz persönlich erlebt habe. Es geht mir nicht um die Schilderung politischen Geschehens. Ich liebe es, über Menschen zu schreiben, bisweilen ein bisschen scharfzüngig, und nicht immer kann ich mir meinen Hang zur Ironie verkneifen. Schon so oft hat man mich gefragt, was ich für gut und was für wichtig halte, was ich tun würde, wenn … Man kann in der Tat viele Lehren ziehen aus etwas, was geschehen ist. Diese dann auch in die Tat umzusetzen, ist eine andere Sache.

    Éva Fahidi schreibt an ihrem Buch (Foto: Zoltán Madácsi)

    Die für mich wichtigste Lehre aus der Geschichte möchte ich an dieser Stelle deutlich herausstreichen: Es braucht ungefähr zweihundert Jahre, bis man wissen kann, was tatsächlich passiert ist. Denn nach dieser Zeit ist niemand mehr am Leben, der ein Interesse daran hätte, die historischen Tatsachen zu verdrehen. Diese allgemeingültige Weisheit stammt nicht von mir, sondern von Anatole France, den ich hier sinngemäß zitiere. Vor dem Hintergrund seiner Aussage kann ich denen, die die Geschichte heute verfälscht darstellen, nur prophezeien, dass die Nachwelt sie entlarven wird. Was sind schon zweihundert Jahre?

    Eine persönliche Antwort auf die Frage, welche Konsequenzen ich aus dem, was geschehen ist, für wichtig halte, fällt mir leichter: Ich wünsche mir, dass sich die Welt in dem, was von grundlegender Wichtigkeit ist, einig ist. Aber was ist »grundlegend wichtig«?

    Zum einen natürlich das LEBEN. Noch nie ist jemand von der »anderen Seite« zurückgekehrt. Hier, auf »dieser Seite«, sollte man human, anständig und mitfühlend sein, denn wir können ein einmal verlorenes Leben niemals ersetzen. Wer das in Abrede stellt, ist zynisch und unmenschlich.

    Zum anderen die FREIHEIT. Eine Freiheit, die man nicht zu erklären braucht. Die Freiheit, in der sich der Wille der nicht manipulierten Mehrheit manifestiert – was zuweilen eine Zeitlang gelingt, wenn auch nicht perfekt, und was man dann Demokratie nennt.

    Wir alle wissen aus Erfahrung, dass uns diejenigen Menschen am nächsten stehen, die in uns Gefühle erwecken, die uns glücklich machen oder auch manchmal schmerzlich sind. Menschen, von denen wir hoffen, dass wir ihnen wichtig sind, weil sie uns ihrerseits sehr wichtig sind. Menschen, denen wir vertrauen, denen wir alles sagen können, die wir lieben und die wir glücklich wissen wollen. Menschen, die unserem Alltag einen Inhalt geben, um derentwillen wir nach Hause eilen, um etwas Feines zu kochen.

    Mit solchen Menschen habe ich in der Zeit des ungarischen Sozialismus gelebt. Mit ihnen teile ich die Erfahrungen jener Jahre. Diese Menschen sind das Wichtigste in meinem Leben. Über sie schreibe ich. Und ich danke ihnen dafür, dass sie stets für mich da waren und da sind.

    12011 in der Übersetzung von Doris Fischer unter dem Titel Die Seele der Dinge erschienen im Lukas Verlag, Berlin.

    Mein Onkel Géza

    Asyl in Érsekújvár

    Mein Onkel Dr. Géza Weil, Kreisarzt von Majcichov², danach von Nové Zámky³ und später Arzt im Kibbuz Kfar HaChoresch⁴, war mein Ersatzvater. Er hat mich sehr beeinflusst. Als ich zwanzig war, behandelte er mich schon wie eine Erwachsene. Dabei bin ich nie richtig erwachsen geworden.

    In meinem Buch Die Seele der Dinge schreibe ich, dass es für jemanden, der aus Auschwitz-Birkenau zurückgekommen ist, zwei Leben gibt: ein Leben vor Auschwitz und ein Leben danach.

    Mein erstes Leben endete, als ich am 29. April 1944 aus der Tür meines Elternhauses in der Szoboszló Straße 15 in Debrecen trat, auf dem Weg in das Ghetto. Ich war damals achtzehn Jahre und fünf Monate alt. Noch heute, mit über neunzig Jahren, suche ich nach meiner Mutter, weil ich mich nicht damit abfinden kann, dass die Suche nach ihr vergeblich bleiben soll. Und noch heute warte ich auf die Rückkehr meiner kleinen Schwester, obwohl mein Verstand weiß, dass das unmöglich ist. Aber mein Gefühl? Mein Gefühl weiß das nicht.

    Heute ist mir klar, dass ich mein Leben nach Auschwitz in dem Gefühl lebe, mir stünde alles zu und ich hätte auf alles ein Anrecht. Ja, uns Auschwitz-Überlebenden steht alles zu!

    Man kann uns nicht entschädigen. Durch nichts in der Welt. Weder durch materielle Dinge noch durch die Empathie Außenstehender. Nur wir selbst, die wir überlebt haben und zurückgekommen sind, verstehen einander wirklich. Und dies nicht durch Worte. Es reicht ein Blick, um uns über eine gemeinsame Erinnerung zu verständigen – an eine Geste, an den Knall der Peitsche, als der Unmensch von der SS den Wasserkübel brachte und demjenigen, der etwas Wasser ergattert hatte, das Gefäß aus der Hand schlug.

    Als der Krieg vorbei war, war die Welt voll von Menschen, die ziellos und entwurzelt umherirrten und nach Halt suchten – wie die Fäden der Spinnweben, die im Herbst in der Luft schweben. Auch ich gehörte dazu. Géza und seine Frau Hédi fanden meinen Namen schließlich auf einer Liste von Überlebenden deutscher Konzentrationslager, die auf dem Heimweg nach Ungarn waren. Wie wäre es mir wohl ergangen, wenn sie mir nicht in ihrem Haus in Érsekújvár⁵ Asyl gewährt und mich, das einzige überlebende Mitglied meiner Familie, nicht bei sich aufgenommen hätten? Die ersten zwei Jahre nach meiner Rückkehr verbrachte ich nur im Bett. Alles erschien mir sinnlos.

    Ich liebte meinen Ersatzvater Géza sehr. Er war ein wunderbarer Mensch, aber er war nicht glücklich. Ich bin es ihm schuldig, meine Erinnerungen an ihn niederzuschreiben und damit zu bewahren.

    Ein Krämerladen und drei Universitäten

    Weiß heute noch jemand, wie viele Dörfer es in der großen österreichisch-ungarischen Monarchie gab – mit höchstens tausend Einwohnern, deren Häuser fast alle an der Hauptstraße lagen? Oft bestand das Dorf nur aus dieser Hauptstraße. Abgesehen von den Wohnhäusern gab es meist noch eine Kirche mit einem Kirchturm, eine Schule mit vier Klassenzimmern, ein Notariat, eine Kneipe und einen Krämerladen.

    In so einem Dorf lebten Ungarn und Slowaken friedlich nebeneinander. Zumindest vertrugen sie sich an normalen Wochentagen. Die Slowaken aßen ihre Mohnklöße mit Honig und kochten Kohlrouladen mit Tomaten, die sie mit einer Mehlschwitze andickten. In der Fastenzeit gab es geräucherten Hering. Sie lebten jedoch immer so enthaltsam, dass man sich fragte, worauf sie während des Fastens überhaupt verzichteten. In den meisten Haushalten gab es Fleisch sowieso nur zur Kirchweih oder an Festtagen.

    Welche spezifischen Sakramente die Slowaken hatten, war allenfalls zur Kirchweih Thema, dann nämlich, wenn ein angetrunkener slowakischer Bursche sich in das übernächste Dorf traute, weil er sich unsterblich in die schwarzen Augen eines dort lebenden ungarischen Mädchens verliebt hatte. In einem solchen Fall ging man natürlich – ganz im Namen der christlichen Nächstenliebe – mit dem Messer auf ihn los.

    Aber ob Ungar oder Slowake – ansonsten spielte das keine Rolle. Das gemeinsame Elend verband sie. Das Wort »Lebensstandard« kam in ihrem Vokabular nicht vor. Sie mochten noch so viel schuften, sie schafften es gerade eben, von einer Ernte bis zur nächsten zu überleben.

    In dem Dorf, in dem mein Onkel Géza aufwuchs, gab es ein Lehrerehepaar, das zwei Jahrgänge gleichzeitig in einem Raum unterrichtete. In den beiden ersten hatten sie meistens noch Schüler. Im dritten oder vierten Schuljahr ließen die Dorfbewohner ihre Kinder schon lieber Ziegen oder Schweine hüten. Es gab auch einen Notar. Er und der Dorfausrufer galten als die Obrigkeit im Dorf. Für den Erhalt der Ordnung war ein Gendarm in Paradeuniform auf einem tadellos gestriegelten Pferd zuständig.

    Die Krämerläden waren zur Zeit der Monarchie entstanden und hatten quasi als dörfliche Institution überlebt. Man konnte dort alles bekommen, von Petroleum bis Zucker, von der »Pick«-Salami bis zum Zwirn und zum »Frank«-Ersatzkaffee. Petroleum wurde literweise verkauft und mithilfe eines Dezilitermaßes in eine mitgebrachte Flasche gefüllt. Es war sehr wertvoll – das Dorf hatte keinen Strom, und auf der Post, beim Fräulein vom Amt, existierte lediglich ein Kurbeltelefon. Zucker gab es damals schon in verschiedenen Sorten: als Kristall-, Puder- oder Würfelzucker, hauptsächlich aber in der Form eines Zuckerhuts. Den zerkleinerte der Krämer zunächst mit einem Hammer. Dann faltete er aus altem Zeitungspapier eine Tüte, die er leer in die größere Schale seiner Waage legte. In die kleinere kam ein Wägestück. In die leere Tüte füllte er so lange von dem zerkleinerten Zucker, bis beide Zungen der Waage nebeneinanderstanden. Zur Kontrolle hielt er diese auch noch einmal kurz mit der Hand fest. Bewegten sie sich beim Loslassen nicht mehr, war dies das Zeichen dafür, dass das Wägestück dem Gewicht der Ware entsprach. Alle Welt konnte nun sehen: Die beiden Waagschalen befinden sich auf gleicher Höhe, hier, bitte schön, geht alles ehrlich zu.

    Unvergesslich und unverwechselbar war der Geruch so eines Krämerladens. Nicht, dass ein Geruch dominiert hätte, vielmehr bildeten alle Gerüche zusammen eine Harmonie. Der Geruch des Petroleums vermischte sich mit dem des leicht ranzigen Specks, der Dunst des Essigfasses mit dem des Sohlenleders, der beißende Geruch der Kaliseife mit dem ätzenden des Kupfersulfats und dem Gestank der Heringe.

    Nicht nur in dieser Hinsicht ähnelten sich die Krämerläden, sie glichen sich auch in ihrer Einrichtung und in der Anordnung ihrer Räume. Wenn man sich in dem einen auskannte, fand man sich auch in einem anderen leicht zurecht. Der Eingang des Ladens lag immer auf der Straßenseite, auf der Hofseite befanden sich ein Parkplatz und die vom Laden abgehende Wohnung. Sie war aber auch direkt vom Hof her über die Küche zugänglich. Ein Krämerladen wurde von der ganzen Familie betrieben und hatte immer geöffnet zu sein. Die Ehefrau des Besitzers saß meistens an der Kasse. Wenn ihr Wissensdurst sie nicht an das städtische Gymnasium band, übernahmen die heranwachsenden Kinder nach und nach immer größere Aufgaben im Geschäft.

    Den Namen des Dorfes, in dem mein Onkel Géza aufwuchs, habe ich leider vergessen, aber an den Krämerladen seines Vaters kann ich mich gut erinnern. Im Dorf hatte man sich seit Langem an Gézas Vater gewöhnt, man nannte ihn nur »Onkel Weil« – die Anrede »Herr« gebührte einem Juden auch hier nicht – und die Bezeichnung »stinkender Jude« wurde im Wesentlichen dann verwendet, wenn irgendwelche Wahlen anstanden. Zum Glück gab es ja auch noch die Slowaken, die man als »stinkend« bezeichnen konnte.

    Nach dem 8. Mai 1945 kam das Attribut »stinkend« unter verändertem Vorzeichen erneut auf die Tagesordnung. Die Verwaltung lag jetzt nicht mehr in ungarischer, sondern in tschechoslowakischer Hand, und die Amtssprache war je nach örtlicher Verwaltung entweder Tschechisch oder Slowakisch. Daraus folgte ganz logisch, dass man Géza, den Sohn des Krämers, mittlerweile Kreisarzt von Nové Zámky, ganz im Sinne der Tradition auf der Straße anspuckte. Anders war nur, dass aus dem »stinkenden Juden« aufgrund der veränderten politischen Lage ein »stinkender Ungar« geworden war. Dabei war in Nové Zámky noch wenige Tage zuvor Ungarisch die Amtssprache gewesen. Und jeden Tag hatte beim Einlaufen des Schnellzuges aus Budapest eine Zigeunerkapelle gespielt.

    Noch während seiner Grundschulzeit wandte sich das Lehrerehepaar, das Géza unterrichtete, an seinen Vater:

    »Onkel Weil, Sie sollten Ihrem Sohn unbedingt eine Ausbildung ermöglichen. Es wäre eine Sünde gegen Gott, wenn Sie das nicht täten. Er hat einen so scharfen Verstand.«

    So wunderte sich der Krämer Weil auch nicht, als ihm sein Sohn, der mit einem hervorragenden Abiturzeugnis aus Nyitra⁶ zurückgekehrt war, strahlend eröffnete: »Papa, ich werde Arzt!«

    »Und wer soll das bezahlen?«, erwiderte er ganz nüchtern.

    Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, und seit Bestehen der Menschheit kann der Wille Berge versetzen. Géza machte einen Onkel ausfindig, der in Kispest, einem Vorort von Budapest, ebenfalls einen Krämerladen betrieb, in dem sich Géza natürlich auf Anhieb wie in seiner Westentasche zurechtfand. Sofort stellte man ihm ein Kanapee, das gerade nicht gebraucht wurde, in eine Ecke. So war alles geregelt, und er arbeitete fortan gegen Kost und Logis im Laden.

    Für Géza tat sich hier die Welt auf. Der Krämerladen war in einer Hinsicht genau wie der zu Hause, in anderer unterschied er sich jedoch gewaltig. Im Vergleich zu dem kleinen bescheidenen Dorfladen herrschte hier in Kispest ein unglaublicher Betrieb. Der Andrang begann schon in den frühen Morgenstunden. Es war noch dunkel, und es musste eine Petroleumlampe angezündet werden, um die erste Kundschaft zu bedienen. Zunächst erschienen die Marktfrauen. Sie waren mit ihren Waren auf dem Weg zur Großen Markthalle in Budapest. Sie schleppten riesige Ballen, Bündel und Körbe mit allem, was man essen und trinken konnte, von der gemästeten Gans bis zum selbstgemachten Himbeersirup, von paarweise zusammengebundenen Brathähnchen bis zum Pfirsich aus dem eigenen Garten. Danach kamen die Handwerker, die sich aufspielten wie die großen Herren. Sie trugen kein Werkzeug bei sich, denn sie hatten einen festen Arbeitsplatz. Es waren Maurer, Zimmerleute, Bautischler, Klempner und Schlosser. Ihnen folgten die kleinen Angestellten, denen man schon ansah, dass sie es nie weit bringen würden, aber irgendeine Art von Pension würde sicher für sie abfallen, wenn sie ihre Zeit auf dem Amtsgericht oder in irgendeiner anderen Amtsstube abgesessen hatten.

    Hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, Géza wäre nie auf die Idee gekommen, welche geradezu magische Anziehungskraft dieser Krämerladen jeden Morgen auf so viele Menschen ausübte. Als würden dort Süßigkeiten verteilt! Tatsächlich aber waren alle demselben Zaubertrank verfallen. Man hätte meinen können, sie kämen nur, um regelmäßig einen gemeinsamen Gott anzubeten. Dieser Gott hieß Alkohol – das war es, was sie wollten, auch wenn er verschiedene Namen trug: ein Dezi oder ein halber Dezi Obstschnaps aus Marillen, Pflaumen, Erdbeeren, ein Trester aus einem Obstgemisch oder – wenn auch selten – Rum. Für den Ausschank galten feste Rituale, er fand immer nur an einer bestimmten Stelle statt: Auf der Theke wurde ein zwei Hände breites Blech befestigt und zwar so, dass es sich leicht neigte. Auf den Boden neben die Theke stellte man eine Schale, sodass – sollte etwas von dem heiligen Nass versehentlich daneben fließen – es genau in diese Schale tropfte. So kam am Ende eines Tages eine ganz ansehnliche Portion Fusel zusammen. Morgens um halb sieben, wenn der erste Andrang vorbei war – heute würde man sagen: zum ersten Schichtwechsel –, erschien Janó. Er war so eine Art Dorftrottel. Ihm überließ man alles, was sich in der Schale am Boden gesammelt hatte. Gratis – er solle es nur mitnehmen.

    Wie war Géza in seinem ersten Jahr als Medizinstudent in Budapest nur auf die Idee gekommen, man würde ihn nicht an die Front schicken, wenn er gegenüber der Einberufungskommission in den Ersten Weltkrieg vorgab, Tiermedizin zu studieren? Schließlich war damals in der k. u. k. Armee das Pferd von großer Bedeutung für die Logistik. Auch an der Front zogen Pferde die Wagen, die Gulaschkanonen und vor allem die echten Geschütze.

    Géza landete also geradewegs an der Front, und kaum war er dort zu sich gekommen, sollte er dreißig klapperdürre Pferde wieder einsatzfähig machen. Ihm, der noch nie so viele Pferde aus der Nähe gesehen hatte, wurde schnell klar, dass er ziemlich in der Patsche steckte. Zum Glück hatte sein inzwischen pensionierter Vorgänger zwei wichtige Bücher über Pferdekrankheiten hinterlassen, und außerdem – was noch wichtiger war – gab es da einen Feldwebel, der sein ganzes Leben mit Pferden verbracht hatte. Man könnte natürlich fragen, wieso dann die Tiere in einen so schlimmen Zustand geraten waren. Géza konnte zu seinem Glück gut mit Pferden umgehen. Er widmete sich ihnen später sein ganzes Leben lang hingebungsvoll – er wurde sechsundneunzig Jahre alt – und war bald ein hervorragender Reiter.

    Der Erste Weltkrieg ging zu Ende. Géza überlebte Doberdò und Isonzo⁷, und als er sich von der Front erholt und die Lage sich einigermaßen konsolidiert hatte, bewarb er sich an der Medizinischen Fakultät der Ungarischen Königlichen Pázmány Péter Universität in Budapest, um sein Studium fortzusetzen. Ich weiß nicht, ob er überrascht war, dass er dort nicht angenommen wurde. Am 26. September 1920 war nämlich vom ungarischen Parlament das als »Numerus Clausus«⁸ bekannte Gesetz verabschiedet worden, das die Zulassung von Juden zum Universitätsstudium beschränkte.

    Erst siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bin ich darauf gekommen, dass wir uns einer Illusion hingeben, wenn wir sagen: »Der Krieg ist zu Ende.« Wir sprechen zum Beispiel über diesen Krieg, als wäre er damals und dort zu Ende gegangen, wo man 1945 aufgehört hatte zu schießen. Aber seit dem 8. Mai 1945 vergeht kein Tag, an dem nicht das weitergeht, was einen Krieg ausmacht. Wenn wir sagen, der Krieg ist zu Ende, bedeutet das nur, dass sich der Schauplatz verschoben hat. Die Auswirkungen sind auch nach so vielen Jahren immer noch gegenwärtig und unübersehbar.

    Das war auch nach dem Ersten Weltkrieg nicht anders. In meiner Kindheit war der Erste Weltkrieg noch sehr unmittelbar zu spüren und zu sehen: Die einbeinigen und einarmigen »Helden« – besser gesagt: Opfer – und die Männer, deren Glieder ständig zitterten, weil in ihrer unmittelbaren Nähe ein Schrapnell eingeschlagen war, gehörten zum Straßenbild. Es gab viele Kriegswaisen und Kriegerwitwen, die eine Trafiklizenz⁹ erhalten hatten, weil jetzt sie es waren, die ihre Familie ernähren mussten. In meinem erweiterten Familienkreis von Fehérgyarmat¹⁰ über Wien, Prag, Bratislava, Nagyszombat¹¹ bis Debrecen gab es keine Vitrine ohne eine kleinere oder größere Silbermedaille für »heldenhafte und aufopfernde Taten« im Ersten Weltkrieg.

    Nachdem Géza in Budapest keinen Studienplatz erhalten hatte, führte sein Wille, Berge zu versetzen – diesmal den Gellértberg¹² – erneut zu einem Erfolg. Er fand einen Verwandten in Wien, bei dem er wohnen konnte, und bekam einen Studienplatz an der Medizinischen Fakultät der Wiener Universität.

    Obwohl sein Heimatdorf nach dem Ersten Weltkrieg gemäß dem Vertrag von Trianon zur Tschechoslowakei gehörte, schien es, dass Géza sein Studium würde absolvieren können. Im zweiten Studienjahr stellte sich aber leider heraus, dass der väterliche Krämerladen nicht genug Devisen erbrachte, um ein Studium in Wien zu finanzieren. So wurde Prag zu seinem dritten Studienort. Nebenbei bemerkt musste er an jeder dieser Universitäten ein Kolloquium ablegen und zwar auf Ungarisch, Deutsch und Tschechisch. Und bekanntlich finden derartige Prüfungen nicht in der Alltagssprache statt. Als Géza dann später in seiner Praxis in Majcichov sein Arztdiplom an die Wand hängte, beherrschte er folgende Sprachen: Ungarisch, denn das war seine Muttersprache; Deutsch, denn als er geboren wurde, existierte noch die Österreichisch-Ungarische Monarchie, wo Deutsch die wichtigste Sprache war; Slowakisch, weil in seinem Heimatdorf Ungarn und Slowaken lebten und jeder von ihnen auch die jeweils andere Sprache wie seine Muttersprache beherrschte; Tschechisch, weil er in Prag studiert hatte.

    Ich frage mich, ob Géza wohl genug Humor besessen hätte, um Pál Teleki einen Dankesbrief zu schreiben. Zu der Zeit, als der besagte »Numerus Clausus« vom ungarischen Parlament ratifiziert wurde, war Teleki Premierminister. Hätte es dieses Gesetz nicht gegeben, hätte Géza alle seine Prüfungen in Budapest in seiner Muttersprache ablegen können.

    Mit dem »Numerus Clausus«

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