Corona – Des Rätsels Lösung?: Faktencheck einer Pandemie
Von Martin Sprenger
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Buchvorschau
Corona – Des Rätsels Lösung? - Martin Sprenger
CORONA – DES RÄTSELS LÖSUNG?
FAKTENCHECK EINER PANDEMIE
MARTIN SPRENGER
Seifert Verlagunveränderte eBook-Ausgabe
© 2022 Seifert Verlag
1. Auflage (Hardcover): 2022
ISBN: 978-3-904123-67-9
ISBN Print: 978-3-904123-56-3
Umschlaggestaltung: Markus Haralter, UnionWagner, Wien
Umschlag-Grafik: Umschlag-Grafik: Davor Kujundzic, auf Basis einer Illustration von CDC/Alissa Eckert, MS; Dan Higgins, MAMS
Editorische Notiz:
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde auf ein strenges Gendern verzichtet. Auch wurden mitunter auftretende Wiederholungen mit Rücksicht auf die Authentizität der Tagebuch-Auszüge und der integrierten Artikel des Autors belassen.
Sie haben Fragen, Anregungen oder Korrekturen? Wir freuen uns, von Ihnen zu hören! Schreiben Sie uns einfach unter office@seifertverlag.at
www.seifertverlag.at
facebook.com/seifert.verlag
INHALT
Vorwort
1. Wie alles begann …
2. Die Co-Existenz von Bakterien, Viren und Menschen
3. Versuche, die medizinisch-virologische Perspektive zu erweitern
4. Die Public-Health-Perspektive – eine kurze Einführung
5. Datenchaos vom Anfang bis zum Schluss
6. Strategien und Maßnahmen
7. Die vergessenen Gesundheitsziele
8. Die Pandemie als soziales Ereignis
9. Kinder und Jugendliche
10. Pflege
11. Die vermeintliche Überlastung der Krankenversorgung
12. Der unsichtbare Eisberg in der COVID-Versorgung
13. Damoklesschwert Long-COVID
14. Die Macht der Medien
15. Das Dilemma der Wissenschaft
16. Testen, Testen, Testen
17. Die unsichtbaren Genesenen
18. Die Politisierung von Impfungen
19. Wie geht’s weiter?
20. Epilog am Obersinger
Anmerkungen
VORWORT
Seit der Veröffentlichung meines Tagebuchs zur Corona-Pandemie im Seifert Verlag sind fast zwei Jahre vergangen. Viele meinen, während dieser Zeit hat ein »Jahrhundertereignis« stattgefunden. Ich sehe das noch immer nicht so. Dazu steht der Menschheit in diesem Jahrhundert noch viel zu viel bevor. Mit Sicherheit war und ist die Corona-Pandemie aber ein außergewöhnliches Ereignis. Sowohl in Bezug auf das Erkrankungs- und Sterbegeschehen als auch in Bezug auf die Reaktion darauf und die daraus resultierenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen.
Viele Dinge, die vor zwei Jahren noch undenkbar schienen, wurden Wirklichkeit. Mit einer vorher noch nie wahrgenommenen Klarheit wurden globale, europäische, nationale und regionale Strukturschwächen offengelegt. Aber auch auf der menschlichen und sozialen Ebene wurden Facetten sichtbar, die ansonsten gut verborgen werden. Schneller als das Virus infizierte die Angst Gesellschaften und Individuen und führte zu Verschiebungen von Wahrnehmung, Moral und Ethik, demokratischen Werten und Normen und von vielem mehr. Für unerschütterlich gehaltene Fundamente unserer Lebensweise bröckelten. Dies alles erfolgte mit einer Geschwindigkeit, dass einem beim Betrachten schwindlig wurde. Auch die Wissenschaft fand lange keinen festen Boden und schlingerte durch das Geschehen, auf der Suche nach Daten und Informationen, um wieder Halt und Sicherheit zu erlangen. Diese erschienen aber nur zaghaft und widersprüchlich, waren voller Rätsel und Fragen. Keine guten Voraussetzungen, um erfolgreich durch eine Pandemie zu kommen.
Ich habe mich bemüht, meine Einschätzungen und Aussagen aus dem Frühjahr 2020 einem Faktencheck zu unterziehen. Die unterschiedlichen Themenfelder wie Datenbasis, Strategien und Maßnahmen, Risikokommunikation und -management, die Folgen für Kinder und Jugendliche, Fragen der Ungleichheit, des sozialen Zusammenhalts oder die Rolle der Politik und der Medien werden in einzelnen Kapiteln behandelt. Das heutige Wissen, die aktuelle Studienlage dienen als Referenzpunkt. Damit wird nicht nur meine eigene Lernkurve sichtbar, sondern auch die der Wissenschaft, der Medien und der Politik. Meine Perspektive ist eine gesundheitswissenschaftliche. Sie hat vor allem die soziale Dimension der Pandemie im Blick, betrachtet diese als ein gesamtgesellschaftliches Ereignis. Während die Zukunft der Pandemie ungewiss in der Glaskugel flimmert, ist ihre Vergangenheit gut dokumentiert und nachlesbar. Trotzdem ist jede Auswahl subjektiv, meine gesundheitswissenschaftliche Wahrnehmung auch geprägt von Subjektivität. Verzerrt durch meine Ausbildung, meine Privilegien, mein wissenschaftliches und privates Umfeld und vieles mehr.
Ich möchte mich an dieser Stelle herzlich bei Maria Seifert bedanken, die erneut den Impuls zum Schreiben gegeben hat. Ein großer Dank gilt auch meinen Eltern, die mich zu einem kritischen, fröhlichen, neugierigen und jegliche Rangordnung ablehnenden Menschen gemacht haben. Ihnen verdanke ich die Liebe zur Natur, den Respekt vor anderen Meinungen, aber auch meine Furchtlosigkeit vor den »Mächtigen«, deren Nacktheit sie immer schon erkannt haben. Devot zu sein habe ich nie gelernt, es war aber aufgrund meiner behüteten wie wilden Kindheit, meiner guten Ausbildung und meinem Privileg der Unabhängigkeit auch niemals notwendig. Ich bedanke mich bei all den Menschen, die ich in meinem Leben kennen und lieben lernen durfte. Viele von ihnen sind kantige, schrullige und bunte Charaktere, Freigeister und lebensbejahend. Keiner von ihnen hat in den letzten zwei Jahren den Boden unter den Füßen verloren. Sie sind der wahre Schatz, den ich gefunden habe. Der größte davon ist meine Familie, die ich spät, aber umso bewusster genießen darf.
Wenn man so will, war dieses Vorwort der erste Faktencheck. Es gleicht dem vom Mai 2020. Manche Dinge ändern sich eben nicht. Menschen kann man so schnell nicht umkrempeln. Zumindest nicht die bodenständigen, realitätsverbundenen. Gute Freundschaften haben auch in Krisenzeiten Bestand. Wie befürchtet, hat aber die Angst weite Bereiche der Gesellschaften infiziert. Angst vor Arbeitslosigkeit, sozialem Ausschluss, der Zukunft, aber natürlich auch vor Krankheit und Tod. Die Verschiebung von Wahrnehmungen hat akrobatische Dimensionen und die Moral der Politik neue Tiefpunkte erreicht. Selbst die Ethik hat rote Linien überschritten, und so mancher demokratischer Wert ist verloren gegangen. Vieles in den letzten Monaten war irrational, schwer nachvollziehbar und unverständlich. Auch das macht Angst. Manches war klar und heilsam. So wie der erste Schritt am frühen Morgen in den Bergen.
Interessenkonflikt:
Bei der Einreichung jeder wissenschaftlichen Publikation, am Beginn jedes wissenschaftlichen Vortrags steht die Offenlegung der eigenen Interessenkonflikte. Die etwas sperrig klingende Definition lautet: »Interessenkonflikte sind definiert als Gegebenheiten, die ein Risiko dafür schaffen, dass professionelles Urteilsvermögen oder Handeln, welches sich auf ein primäres Interesse bezieht, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst wird.«
Hier also meine Interessenkonflikte in Bezug auf dieses Buch. Ich habe in den letzten zwei Jahren keinen einzigen Cent Honorar für ein Interview oder einen Medienauftritt erhalten. Wenn eine Anreise mit dem Zug notwendig war, habe ich einen Spesenersatz beantragt. Nach einer nächtlichen Fernsehsendung habe ich mehrmals einen Shuttle-Dienst in Anspruch genommen, um am nächsten Tag diverse Vereinbarungen einzuhalten. Die einzige entgeltliche Zuwendung betrifft einen Artikel für die Zeitschrift »Pragmaticus«. Für alle anderen veröffentlichten Artikel habe ich kein Honorar erhalten. Keine der oben angeführten Tätigkeiten hatte einen Einfluss auf das Geschriebene in diesem Buch.
Warum dieses Buch
In unserer Welt
gibt es so viele Weichmacher,
Aufmacher, Schlaumacher,
Kleinmacher, Schlankmacher,
finden wir überall
Angstmacher, Sorgenmacher,
Krankmacher, Dummmacher
und so
wenig
Mutmacher.
(Kristiane Allert-Wybrianietz, 1987,
aus: »Dem Leben auf der Spur«)
1
WIE ALLES BEGANN …
Am 6. April 2020 führt Armin Wolf in der ZIB2 ein langes Interview mit dem damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz. Nach 15 Minuten zitiert mich Wolf mit den Worten: »Aber der Public-Health-Experte Martin Sprenger von der Uni Graz [sic!], Mitglied im Corona-Expertenbeirat, sagt heute in einem Interview mit Addendum, er versteht die Ausgangsbeschränkungen im Freien überhaupt nicht, weil wenn man dort genügend Abstand hält, kann man sich praktisch nicht infizieren. Deshalb hält er alle Einschränkungen der Bewegung im Freien, das Schließen von Parks und Wandergebieten, für falsch und nicht nachvollziehbar. Wie begründen Sie es?« Kurz antwortet: »Ich begründe es gar nicht, es ist ja nicht meine Meinung, es ist legitim, dass jemand diese Meinung vertritt, ich habe eine andere.«
Für mich war dieses Interview im Rückblick ein Schlüsselereignis, das mich nicht nur zum »falschen Experten«, sondern auch zu einer öffentlichen Person gemacht hat. Wobei es nicht nur die Erwähnung meines Namens in der ZIB2, sondern vor allem die Reaktion darauf war, die vieles verändert hat. Kurz hat vermutlich nach der Sendung mit seinem Mann für PR und Kommunikation im Kanzleramt, Gerald Fleischmann, gesprochen, und dieser hat wohl wiederum ein paar WhatsApp-Gruppen aktiviert. Was dazu geführt hat, dass ich unter anderem von zwei Rektoren und dem damaligen COVID-Sonderbeauftragten im Gesundheitsministerium Clemens Martin Auer via E-Mail nette Post bekam. Letzterer meinte: »Danke, dass Sie das von Anfang so deutlich und klar zum Ausdruck gebracht haben. Net wirklich hilfreich, von der Bande hereinzukeppeln, werter Herr Kollege!«
In meinem Buch »Das Corona-Rätsel« ¹ habe ich diese Episode und alles, was danach kam, ausführlich beschrieben. Eine Woche vorher, am 30. März, eskaliert der Ex-Kanzler vollkommen unnötig und sagt bei der Pressekonferenz: ² »Das Virus rottet sich nicht von allein aus« und »wirkliche Normalität gibt es erst wieder, wenn wir das Virus besiegt haben.« Wenn das nicht gelinge, gebe es nicht mehr viele Maßnahmen, die man treffen könne, dann seien wir bald am Ende der Fahnenstange angelangt. In der ZIB-Spezial am Abend eskaliert er weiter: »Die Wahrheit ist aber, dass die schweren Zeiten noch vor uns stehen. Die Zeit, in der die Intensivstation überlastet ist, die Zeit, in der mehr Menschen behandelt werden müssen, als vielleicht behandelt werden können. Wir werden in allen europäischen Ländern eine Überforderung der medizinischen Kapazitäten erleben« und: »Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist.«
Der Ex-Kanzler hat die Ebene der Sachpolitik eindeutig verlassen. Vier Tage vorher war er bei einer Taskforce-Sitzung anwesend, bei der alle Daten auf eine positive Entwicklung, auf ein baldiges Ende der ersten Infektionswelle hindeuteten. Meine Vermutung ist, dass er nach der erfolgreichen Abwendung der Bedrohung erkannt hat, dass er diese Krise politisch nutzen muss. In den Meinungsumfragen hat er absolute Spitzenwerte erreicht. Vielleicht haben ihn Victor Orbán oder Benjamin Netanjahu daran erinnern müssen, vielleicht auch nicht, auf jeden Fall setzt Kurz ab sofort auf eine Eskalation der Angst. Obwohl, nur zwei Wochen später, zu Ostern, da feierte er die Wiederauferstehung. Das war der Beginn der »Message Control«.
Für mich waren das genug Gründe, die Corona-Taskforce am 7. April so unkompliziert zu verlassen, wie ich ihr fünf Wochen zuvor beigetreten bin. Ich hatte keine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben oder Interessenkonflikte offenlegen müssen. Ich hatte kein Honorar und keinen Spesenersatz erhalten. Die unerwartet heftige Reaktion des »System Kurz« und die Einschüchterungsversuche führten aber auch dazu, dass ich mich im Sinne einer paradoxen Reaktion von nun an vermehrt öffentlich zu Wort meldete. Trotz meiner Abneigung gegen soziale Medien eine eigene Facebook-Seite einrichtete und zwei Jahre lang dort alles teilte, was ich interessant fand. Ob das rückblickend klug war, darüber bin ich mir selbst noch nicht im Klaren. Zu schweigen war aber auch keine Option.
Zwei Jahre später wissen wir, dass meine damaligen Aussagen vollkommen korrekt waren. Das Risiko, sich mit SARS-CoV-2 im Freien zu infizieren, ist extrem gering, vor allem wenn die Luft in Bewegung ist und ein gewisser Abstand eingehalten wird. ³ Im April 2021 hat sich die Gesellschaft für Aerosolforschung in einem offenen Brief an die deutsche Bundesregierung gewandt, in dem steht: ⁴ »Wir müssen uns deshalb um die Orte kümmern, wo die mit Abstand allermeisten Infektionen passieren – und nicht unsere begrenzten Ressourcen auf die wenigen Promille der Ansteckungen im Freien verschwenden.« Mitte Februar 2022 stellt die Virologin Dorothee von Laer fest: »Ansteckungen draußen sind eine absolute Rarität.« ⁵
Drei Tage vor meiner namentlichen Erwähnung in der ZIB2 am 3. April 2020 kontaktierte mich der Journalist Michael Fleischhacker. Einen Tag später haben wir ein langes Gespräch geführt, das am 6. April in der Online-Ausgabe der Rechercheplattform Addendum unter dem Titel »Es geht viel mehr, als uns die Politik weismachen will« veröffentlicht wurde. ⁶
Gleich zu Beginn des Interviews mache ich folgende Aussagen: »Diese Pandemie bzw. die Erkrankung COVID-19 ist medizinisch, auf der Behandlungsebene betrachtet, ein Chamäleon. Schwer zu diagnostizieren. Viele asymptomatische Verläufe, viele unterschiedliche Leitsymptome. Auf einer Public-Health-Ebene, und damit auch in der politischen Betrachtung, ist diese Pandemie eher wie ein Wollknäuel. Da gibt es drei Stränge, die ineinander verwoben sind, die man gemeinsam betrachten, aber auch entwirren muss.
Erstens das Pandemiegeschehen selbst, das durch das neue Coronavirus SARS-CoV-2 verursacht wird. Dieses temporär erhöhte Erkrankungs- und Sterbegeschehen bei zumeist hochbetagten und schwer vorerkrankten Menschen kann unsere Krankenversorgung und intensivmedizinische Versorgung überlasten. Das ist der erste Teil des Wollknäuels.
Der zweite Strang betrifft die Frage: Was passiert in einem Gesundheitssystem im COVID-19-Modus mit Menschen, die akut krank werden oder chronisch krank sind? Die Versorgung dieser Menschen ist ja nicht ausgesetzt, die muss ja trotzdem passieren, aber sie wird mit Sicherheit anders ablaufen als sonst. Zum Beispiel wurden elektive Eingriffe verschoben, die Krankenhäuser sind zurückhaltender bei der Aufnahme, die Fachärzte schwerer erreichbar, Therapeuten haben geschlossen, und die Angst vor Infektionen hat die Distanz zwischen Ärzten und Patienten vergrößert. Die Wege durch das Gesundheitssystem haben sich verändert, sind noch komplizierter, dauern noch länger, und mit Sicherheit kommt es dadurch zu gefährlichen Verläufen, vielleicht sogar Todesfällen. Nachdem dort aber derzeit niemand hinschaut, läuft das unter dem Radar der Öffentlichkeit.
Und dann gibt es noch einen dritten Strang in diesem Geschehen. Alle Maßnahmen, die wir da setzen, haben Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Arbeitslosigkeit, Stress, Zukunftsängste beeinflussen die Gesundheit und bewirken eine Zunahme der sozialen und gesundheitlichen Ungleichheit. Die ärmeren Menschen und Familien in unserer Gesellschaft trifft diese Pandemie am stärksten. Mit der Public-Health-Brille versuche ich, das Big Picture nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist schwierig, aber es ist, glaube ich, notwendig.«
Auch in diesem Buch versuche ich, das »Große Ganze«, die Zusammenhänge nicht aus dem Auge zu verlieren. In den folgenden Kapiteln möchte ich aber auch meine im Jahr 2020 getätigten Aussagen kritisch hinterfragen. Als Grundlage dient mein im Seifert Verlag erschienenes Buch »Das Corona-Rätsel«. ⁷ Dieses hatte ähnlich wie ein Tagebuch einen chronologischen Aufbau. Es beginnt mit dem 2. Februar und endet mit dem 20. Mai 2020. Ganz am Ende steht: »Mein Tagebuch ist nicht die ganze Wahrheit, nicht einmal ein Bruchteil davon. Es ist ein kleiner, subjektiver Einblick in die Geschehnisse der letzten drei Monate, nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht hilft es den Lesern, so wie mir, die Chronologie der Ereignisse besser zu verstehen. Erst im Rückblick wird klar, welche Entscheidungen wann, wie und warum gefallen sind. Natürlich hätte ich auch meine Fehleinschätzungen und Fehlberechnungen noch detaillierter schildern können. Aber es ging mir nie um eine Abrechnung, weder mit mir selbst noch mit anderen. Was deutlich werden sollte, ist meine eigene Lernkurve, aber auch die der Wissenschaft, der Medien und der Politik. Die vielen offenen Fragen und ungelösten Rätsel.«
Jetzt, fast zwei Jahre später, ist es Zeit, zurückzublicken und zu versuchen, ein paar dieser Fragen aus einer gesundheitswissenschaftlichen Perspektive zu beantworten. Ganz nach dem Motto: »Hinterher sind immer alle klüger.« Denn nur wenn hinterher wirklich alle klüger sind, und somit etwas gelernt haben, können wir zukünftige ähnliche Herausforderungen besser bewältigen, uns auf die nächste Pandemie vorbereiten. Deshalb ist es so wichtig zurückzuschauen, kritische Fragen zu stellen, Entscheidungen zu evaluieren, vergangene Geschehnisse besser zu verstehen. Bevor ich aber die Besonderheiten einer gesundheitswissenschaftlichen Perspektive beschreibe, wollen wir am Beginn die Beziehung von Viren und Menschen etwas genauer betrachten.
2
DIE CO-EXISTENZ VON BAKTERIEN, VIREN UND MENSCHEN
Viren hat es auf dieser Erde schon viele Milliarden Jahre vor den ersten Urmenschen gegeben, die vor etwas über zwei Millionen Jahren in Ostafrika lebten. Das Sapiens, das Kluge und Verständige, gesellte sich erst vor zirka 300.000 Jahren zum Homo, dem Menschen. Fest steht, Viren wird es auch noch lange geben, nachdem der letzte Mensch in seine Bestandteile zerfallen ist, aufgehört hat, der Entropie zu trotzen.
In ihrem Buch »Das Virus in uns« beschreiben die Gesundheitsjournalisten Kurt Langbein und Elisabeth Tschachler, wie Viren als raffinierte Überlebenskünstler die Evolution von uns Menschen und unsere Erbinformation, die DNA, geprägt haben: »In unserem Körper gibt es hundertmal mehr Viren als menschliche Zellen, und unser Erbgut wird von Viren maßgeblich mitgestaltet: Immerhin zur Hälfte besteht das menschliche Erbgut aus Viren oder genauer aus Virenresten.« ¹
Als vor etwas über 10.000 Jahren die Menschen sesshaft wurden, begannen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, kam es auch erstmals zu großräumigeren Infektionsgeschehen, sogenannten Epidemien. Ausgelöst durch Bakterien und Viren, die nun begannen, zwischen Tieren und Menschen zu wechseln. Je größer die Ansiedelungen wurden, je enger die Menschen mit Tieren zusammenlebten, und je mobiler sie wurden, desto gravierender wurden diese Ausbrüche. Von den Rindern erbten wir die Tuberkulosebakterien, die Pocken- und andere Viren. Schweine und Enten bescherten uns das Grippevirus, Pferde die Rhinoviren, und auch mit den Hunden teilen wir uns über 60 Krankheitserreger. Mit tierischen und menschlichen Fäkalien verunreinigtes Wasser war und ist in manchen Ländern auch heute noch ein nie versiegender Brunnen für Infektionskrankheiten. Jahrhundertelang wurden diese »Seuchen« als Strafe der Götter verstanden. Dementsprechend drastisch fielen auch die Maßnahmen aus. Betroffene Personen wurden ausgegrenzt, gefoltert, gekreuzigt, verbannt, verbrannt oder auf andere Art und Weise als »Schuldige« bestraft. So ging es Tausende von Jahren.
1676 beschrieb der Holländer Antoni van Leeuwenhoek in Berichten an die Königlich Wissenschaftliche Gesellschaft in London seine Beobachtungen von Bakterien, die er mithilfe eines selbstgebauten Mikroskops gemacht hatte. Es folgten 200 Jahre, in denen diese Beschreibungen immer detaillierter wurden. Der Zusammenhang zwischen Bakterien und Infektionskrankheiten blieb jedoch unentdeckt. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Naturwissenschaft in dieser Zeit ungemein viele Fortschritte gemacht hat. Noch bis weit in das 19. Jahrhundert lehrten die »Miasmotologen« an den medizinischen Hochschulen, dass Verunreinigungen und Gifte, die aus dem Erdreich aufsteigen, die Ursache der vielen Seuchen sind. Erst durch die Forschungen von Robert Koch und Louis Pasteur bekamen die »Kontagionisten« die Oberhand, und zwischen 1870 und 1880 bewiesen sie, dass Bakterien ursächlich für viele Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Syphilis, Cholera, Typhus verantwortlich waren. Die von Pasteur und Koch initiierte mikrobiologische Revolution begründete auch die neue Wissenschaft der Immunologie. ²
Nachdem die Menschheit 200 Jahre auf Bakterien gestarrt hatte, ohne den Zusammenhang mit Krankheiten zu erkennen, wurde nun dem Feind der Kampf erklärt. Forschung, Politik und Medien versprachen, dass bis Ende des 19. Jahrhunderts alle Infektionskrankheiten besiegt sein werden. Es kam anders. Erst 1928 entdeckte Alexander Fleming zufällig die antibakterielle Wirkung von Penicillin. Seine Publikation im »British Journal of Experimental Pathology« blieb jedoch unbeachtet. Zehn Jahre später stießen drei amerikanische Forscher auf Flemings Forschungen. Nach 70 Jahren Hilflosigkeit hatte das Zeitalter der Antibiose begonnen, und der Menschheit stand erstmals ein wirksames Mittel zur Behandlung von bakteriellen Infektionen zur Verfügung. Weitere sollten folgen. Heute wiederum, über 70 Jahre später, sind es vor allem die multiresistenten Krankenhauskeime, die uns vor große Probleme stellen. Und das Mikrobiom, das ist die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die den Menschen oder andere Lebewesen besiedeln, hat uns gelehrt, dass ein Leben ohne sie nicht möglich wäre.
Das »Human Microbiom Project« hat uns gezeigt, dass wir mehr Bakterien in und auf uns haben, als wir eigene Körperzellen besitzen. Das entspricht einem Gewicht von ein bis zwei Kilogramm. Schon weniger kennen das »Humane Virome Project«, das fast wöchentlich spannende neue Erkenntnisse liefert. ³ So sind zum Beispiel auch gesunde Menschen immer von unzähligen Viren und Makrophagen besiedelt. Ein Gramm Kot enthält bis zu hundert Millionen Viren. ⁴ Unser Immunsystem hat gelernt, damit mehr oder weniger erfolgreich umzugehen. Es finden sich fast immer Herpesviren, Humane Papillomaviren (HPV) oder Adenoviren in verschiedenen Körperregionen. ⁵ Und wer glaubt, dass zumindest die