Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen
Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen
Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen
eBook451 Seiten6 Stunden

Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die verlorene Heimat, die Hölle des Krieges und der Neubeginn voller Zuversicht: ein Zeitpanorama von erzählerischer Stärke, das mit seiner politisch-historischen Dimension das Lebensgefühl zweier Generationen wiedergibt.*** "Wolfgang Bittner schreibt zweckdienlich, im besten Sinn tendenziös, dazu unterhaltend, spannend Eine singuläre Erscheinung auf dem Literaturmarkt der Eitelkeiten."(Hannoversche Allgemeine Zeitung)"Die Welt ist nicht so, dass man auf zusätzliche Geistesnahrung verzichten könnte. Das Gegenteil ist der Fall Es ist mehr Licht in die Welt zu bringen."(Neue Rheinische Zeitung online)"Umso wichtiger ist es, den Kulturpessimismus zu überwinden und die noch lange nicht eingelösten Forderungen der Aufklärung ständig als Ziel vor Augen zu haben. Autoren wie Wolfgang Bittner tragen zu dieser Arbeit bei "(Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder)
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum23. Juli 2019
ISBN9783943007220
Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen

Mehr von Wolfgang Bittner lesen

Ähnlich wie Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen

Ähnliche E-Books

Historienromane für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen - Wolfgang Bittner

    Über den Autor

    Wolfgang Bittner lebt als Schriftsteller und Publizist in Göttingen. Der promovierte Jurist schreibt Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Er erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen und ist Mitglied im PEN. Von 1996 bis 1998 gehörte er dem Rundfunkrat des WDR an, von 1997 bis 2001 dem Bundesvorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland, Gastprofessuren 2004 und 2006 nach Polen. Wolfgang Bittner war freier Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen und hat mehr als 60 Bücher veröffentlicht, darunter die Romane »Der Aufsteiger«, »Niemandsland« und »Hellers allmähliche Heimkehr«.

    Über das Buch

    1943 ist der Krieg in Oberschlesien, dem Industriegebiet Ostdeutschlands, noch weit weg. Die Mutter fährt mit dem Kind aufs Land, wo es Hirschbraten, Kaffee und Kuchen gibt. Im Volksempfänger spricht Adolf Hitler von Siegen. Doch immer öfter heißt es: »… für Führer, Volk und Vaterland gefallen.« In der Nachbarschaft werden die jüdischen Familien abgeholt, man muss sich vorsehen, es soll Konzentrationslager geben.

    Dann werden aus Siegen Niederlagen, und im Westen versinken die Städte im Bombenhagel. Vor der Gastwirtschaft des Großvaters schlagen sich Grubenarbeiter mit SA-Männern. Die Front rückt immer näher, und mit ihr kommt die Hölle des Krieges.

    Im März 1945 übernimmt Polen die Verwaltung der deutschen Ostgebiete, und es folgt ein Exodus von Millionen, darunter die Mutter und das Kind. Als sie halb verhungert in einer Kleinstadt in Norddeutschland ankommen, liegt der Vater schwer verwundet in einem Lazarett. Hunger und die furchtbare Kälte im Steckrübenwinter 1946, danach ein jahrelanger Aufenthalt im Barackenlager.

    Aber die Mutter gibt nicht auf. In der provisorischen Wohnküche arrangiert sie einen »Salon«, in dem kontrovers debattiert wird. Es ist die Zeit der Währungsreform mit der Teilung Deutschlands. Konrad Adenauer – von den Alliierten unterstützt – wird mit einer Stimme Mehrheit Bundeskanzler. Der Kalte Krieg beginnt, und die Weichen werden für das gestellt, was bis heute wirksam ist.

    Der Familie gelingt in den 1950er-Jahren, im »deutschen Wirtschaftswunder«, allmählich der Neuanfang.

    Umschlagtext

    Die verlorene Heimat, die Hölle des Krieges und der Neubeginn voller Zuversicht: ein Zeitpanorama von erzählerischer Stärke, das mit seiner politisch-historischen Dimension das Lebensgefühl zweier Generationen wiedergibt.

    »Wolfgang Bittner schreibt zweckdienlich, im besten Sinn tendenziös, dazu unterhaltend, spannend … Eine singuläre Erscheinung auf dem Literaturmarkt der Eitelkeiten.«

    (Hannoversche Allgemeine Zeitung)

    »Die Welt ist nicht so, dass man auf zusätzliche Geistesnahrung verzichten könnte. Das Gegenteil ist der Fall … Es ist mehr Licht in die Welt zu bringen.«

    (Neue Rheinische Zeitung online)

    »Umso wichtiger ist es, den Kulturpessimismus zu überwinden und die noch lange nicht eingelösten Forderungen der Aufklärung ständig als Ziel vor Augen zu haben. Autoren wie Wolfgang Bittner tragen zu dieser Arbeit bei …«

    (Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder)

    Wolfgang Bittner

    Die Heimat,

    der Krieg und

    der Goldene Westen

    Ein deutsches Lebensbild

    Roman

    Zum Titelbild:

    Blick auf die Schneekoppe, höchste Erhebung

    des Riesengebirges (Foto: Stefan Sander, Görlitz)

    1. elektronische Ausgabe: Juli 2019

    © Verlag zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2019

    © Wolfgang Bittner 2019

    Alle Rechte vorbehalten

    Dieses E-Book ist für den persönlichen Gebrauch des Käufers bestimmt, jede anderweitige Nutzung bedarf der vorherigen schriftlichen Genehmigung des Verlags oder Autors. Jegliche Form der Vervielfältigung oder Weitergabe, auch auszugsweise, verstößt gegen das Urheberrecht und ist untersagt.

    Redaktionsschluss: Februar 2019

    Satz: Hoos Mediendienstleistung, Landau

    Coverdesign: Grafikfee GmbH, Bingen

    Druck und Bindearbeiten: CPI books GmbH, Leck

    E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN E-Book-Ausgabe: 978-3-943007-22-0

    ISBN gedruckte Ausgabe: 978-3-943007-21-3

    www.zeitgeist-online.de

    Von nichts bin ich mehr überzeugt,

    als dass ich mein Leben nicht

    nach euren Meinungen einrichten darf.

    Sokrates

    Erster Teil

    Der »Fall Blau«: eine Offensive der deutschen Kriegsführung im Sommer 1942, nachdem das Deutsche Reich im Juni 1941 den Krieg gegen die Sowjetunion begonnen hatte. Jetzt soll die an der Wolga gelegene Industriestadt Stalingrad eingenommen werden, um von dort aus weiter zu den Ölfeldern im Kaukasus vordringen zu können. Die Kriegsmaschinerie Nazideutschlands braucht Kraftstoff.

    In der Deutschen Wochenschau, die als Vorprogramm im Kino läuft, winken lachende Soldaten von ihren Panzern, junge Männer, die Abenteuer erleben wollen. Eine markige Stimme: »Die siegreichen Verbände stoßen tief in das wirtschaftliche Zentrum der Sowjetunion an der unteren Wolga vor. Bis Moskau sind es noch 900 Kilometer.« In einer Erdstellung richtet der Kanonier seine Acht-Acht-Flak auf ein russisches Dorf, es gibt einen trockenen Knall und fast gleichzeitig fällt der Giebel eines Bauernhauses in sich zusammen. Eine Kolonne Soldaten zieht festen Schritts singend nach Osten.

    Mehrmals am Tag meldet das Radio, genannt Volksempfänger, untermalt von Propagandamusik, neue Erfolge der Wehrmacht im Osten, Westen, Süden und Norden. Paris nach wie vor fest in deutscher Hand. Auch Rotterdam, Athen und Oslo. Soldaten singen: »Denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engeland …«

    Aus dem bombardierten Ruhrgebiet und aus Berlin werden Mütter und Kinder in die noch sicheren ländlichen Gebiete geschickt, auch nach Schlesien. In Gleiwitz, wo mit dem angeblichen Angriff Polens auf den Sender der Krieg begann, ist noch keine einzige Bombe gefallen. Die Großmutter steht in der Küche am Tisch und schält Kartoffeln. Aus dem Radio schallt Marschmusik. Sie sagt: »Die armen Jungs wissen noch nicht, was sie erwartet.« Ein Infanterist hat einen russischen Panzer mit der Handgranate erledigt. Der Großvater wendet sich ab. Im Hinausgehen ruft er: »Schalte aus! Die haben zu viel Karl May gelesen!« Die Großmutter sieht besorgt aus, sie schüttelt den Kopf. »Gnade uns Gott, wenn wir den Krieg verlieren sollten.« Das Kind kommt die Treppe herunter, und der Großvater nimmt es auf den Arm.

    Das Haus ist alt, aus dem 19. Jahrhundert, vorn an der Straße gelegen, Barbarastraße, später Ulica Czeslawa. Dahinter ein großer Hof, umstanden von zwei mehrstöckigen Wohnhäusern, auf der linken Seite Werkstätten und eine Garage. Im Vorderhaus die Gastwirtschaft »Zur Einkehr«, daneben die Fleischerei. Im ersten Stock Wohnungen: Großeltern, Vater und Mutter, Tante Franziska mit Sohn Edmund. Ein langer Flur, die Treppe hinunter, rechts die Küche, links die Gaststätte. Die eichene Haustür steht tagsüber offen, sobald die Gaststätte geöffnet ist.

    Der Großvater geht mit dem Kind auf dem Arm zur Theke. »Möchtest du vielleicht einen Schluck Bier?«, fragt er verschmitzt. Das Kind kann sich schon mit ihm unterhalten, es mag Bier, das süße, dunkle Malzbier natürlich. Noch ist kein Gast anwesend, und die beiden schauen zum Fenster hinaus auf die Straße, wo vor der hohen Mauer des Reichsbahnausbesserungswerks die Platanen mit den gescheckten Stämmen stehen und die Sonne goldene Kringel auf das Pflaster malt. Wenn jemand vorübergeht und dem Großvater zuwinkt, grüßt er freundlich zurück. Er ist eine bekannte Persönlichkeit im Viertel, stattliche Erscheinung, immer im dunklen Anzug mit Weste und Krawatte. Als Einziger in der näheren Nachbarschaft besitzt er bereits ein Auto.

    Das Kind spielt mit der Uhrkette und den Berlocken, kleinen Goldmünzen, die Wohlstand verraten. Dann kommt der erste Gast herein, wenig später der nächste. In Oberschlesien wird viel getrunken, schon am Vormittag. Es sind Bahnarbeiter nach der Nachtschicht oder Grubenarbeiter, die auf dem Weg nach Hause ins sogenannte Hüttenviertel rasch noch ihre Kehle befeuchten möchten. Manche begrüßen den Großvater mit Handschlag und duzen ihn: »Glückauf, Friedrich!«, heißt es, man kennt sich seit Jahren. Es wird lebhaft, und Mariya, die Haushaltshilfe, übernimmt das Kind und bringt es in die Küche zu Großmutter Felizitas, die von allen liebevoll Feli genannt wird.

    Die Mutter schaut nur kurz herein, denn sie muss sich beeilen. Seit einem Jahr arbeitet sie bei der Reichsbahn im Büro. Sie hat ein Lyzeum besucht, wo sie von Nonnen unterrichtet wurde, »drangsaliert«, wie sie sagt. Trat später, nachdem noch kirchlich geheiratet und der Sohn getauft worden war, aus der Kirche aus, obwohl das nicht einfach war. Aber sie ließ sich nicht davon abbringen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, blieb sie hartnäckig. Als junges Mädchen spielte sie Tennis, und im Winter war sie gern zum Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn. Kurzes Röckchen, locker flockig. Die Männer drehten sich nach ihr um. Einer der Verehrer, der spätere Ehemann, trug eine schöne graublaue Fliegeruniform, er tanzte wie ein Gott und spielte Klavier. Imponierend, ein Held zum Verlieben.

    Auf der Straße fahren Lastwagen und Kettenfahrzeuge vorbei, es lärmt und rasselt zum Gotterbarmen. Der Großvater schaut hinaus. »Die OT«, sagt er. Die Organisation Todt, zuständig für militärische Bauarbeiten, benannt nach dem Generalinspekteur für das Straßenwesen, Leiter des Baus der Autobahnen und des Westwalls, Reichsminister für Bewaffnung und Munition. Er war im Februar unter ungeklärten Umständen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Hermann Göring, der Reichsfeldmarschall und Chef der Luftwaffe, habe damit zu tun, so wurde geflüstert, einer der keine Verwandten kennt. Todts Nachfolger, Generalbauinspekteur für die Reichshauptstadt Albert Speer, baut an Germania, dem neuen Rom, und er kurbelt mithilfe von Zwangsarbeitern die Rüstungsproduktion an. Es geht nach Osten.

    Die Mutter arbeitet halbtags. Die Vorgesetzten, Kolleginnen und Kollegen mögen sie, vor allem die Kollegen. Sie ist schlank, mittelgroß, brünett, raucht Zigaretten mit einer Spitze aus Elfenbein, womit sie demonstriert, dass sie emanzipiert ist. Wenn sie ausgeht, trägt sie elegante Kleider, von denen mehrere im Schrank hängen, manche fließend lang, taubengraublau, dazu schicke Pumps mit halbhohen Absätzen und extravagante Hüte. Immer gut frisiert, lackierte Fingernägel, kirschrot, ebenso die ausdrucksvollen Lippen. Sie macht was her, wie die Nachbarn sagen.

    Ihre Schwester beneidet sie, was gelegentlich zu Konflikten führt. »Ihr bevorzugt sie und ihren Sohn!«, hat sie mal im Streit die Eltern angeschrien. »Bin ich etwa weniger wert als sie? Helfe ich im Haushalt nicht mehr als sie? Habe ich nicht dieselben Rechte wie sie?« Die Großmutter hatte Mühe, sie zu beruhigen, und der Großvater sagte: »Aber Kind, du bist uns ebenso viel wert wie die Hella. Wir lieben euch doch beide und eure Kinder auch, das musst du doch merken.«

    Das Kind lebt sein eigenes Leben. Es darf im Haus und auf dem Hof spielen, aber nicht auf die Straße gehen. Tut es manchmal doch, heimlich verlässt es den Hof durch die große Einfahrt, läuft nach links an den Häusern entlang bis zu einem kleinen Platz. Dort wachsen ein paar Bäume und Sträucher, dazwischen ragt ein Luftschutzbunker aus Beton ein wenig aus dem angeschütteten Erdreich. Ein breiter Sandweg führt zwischen der Häuserfront und eingefriedeten Gärten zur nächsten Straße. Am Rand wachsen Gräser und allerlei Kräuter. Das Kind nimmt den Duft der blühenden Sträucher wahr, hört die Bienen summen und Vogelgezwitscher. Es steht vor einem Holzzaun und schaut durch ein Astloch in den dahinterliegenden Garten. Eine alte Frau hängt Wäsche auf.

    Mariya kommt, sie hat das Kind gesucht. An ihrer Hand geht es zurück ins Haus Nummer 38. Die Großmutter steht in der Küche am Herd und kocht ihre berühmte Gulaschsuppe. Sie droht mit dem Finger: »Du darfst doch nicht einfach fortlaufen, Herzele. Es gibt böse Menschen, die könnten dich mitnehmen.« Sie stellt den Volksempfänger an und gibt dem Kind einen Löffel Suppe, bläst, bis sie nicht mehr heiß ist. Das Kind will mehr. Es fühlt sich geborgen.

    Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Deutschland siegreich an allen Fronten. Das Afrikakorps rückt vor, Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der Wüstenfuchs, steht mit einer deutsch-italienischen Panzerarmee vor El Alamein, und auch im Osten geht es voran, die 6. Armee vor Stalingrad. Die knarzige Stimme des Führers Adolf Hitler: jüdischer Bolschewismus, asiatische Barbarei, Lebensraum im Osten, Rohstoff- und Ernährungsbasis …

    Ein ersehnter Brief des Vaters per Feldpost, diesmal aus Griechenland. Er gehört einer Elitetruppe der Fallschirmjäger an, war im Jahr zuvor bei der Eroberung Kretas eingesetzt gewesen. Aufgrund der geografischen Lage war die Insel für die Briten von großer Bedeutung für die Verteidigung Ägyptens und Maltas. Die Fallschirmjäger waren in den frühen Morgenstunden mit Lastenseglern eingeschwebt und bei unerwartet starkem Abwehrfeuer abgesprungen, unter ihnen die Boxlegende Max Schmeling. Schon in der Luft wurden viele der Kameraden abgeschossen oder verwundet, Max Schmeling verletzte sich bei der Landung. Hohe Verluste, ein Wahnsinnsvorhaben unter dem Kommando des Generalleutnants Kurt Student.

    Was das Oberkommando der Luftwaffe nicht wusste: Die Alliierten waren über den deutschen Angriffsplan vorgewarnt, denn sie hatten die Verschlüsselungsmaschine Enigma geknackt und die Funksprüche abgehört. Dennoch war die Einnahme der Insel gelungen. Kretische Zivilisten, die sich dem Widerstand anschlossen, wurden als Freischärler an Ort und Stelle erschossen, so ist das im Krieg. General Student, der vom Führer das Ritterkreuz erhielt, praktizierte die Kollektivhaftung: Erschießung von Partisanen und Geiseln.

    Auch dem Vater, der leicht an der Hüfte verwundet worden war, wurde für seine Tapferkeit vor dem Feind ein Orden verliehen. Auf Genesungsurlaub berichtete er später von schweren Kämpfen in den Weinbergen und Olivenhainen, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Der General hatte ihm den Orden persönlich an die Brust geheftet, ihm in die Augen geschaut und fest die Hand gedrückt. Natürlich hatte die Mutter von dem Einsatz nichts gewusst – alles geheim bis zum Abschluss, dem Sieg.

    Wenn es möglich ist, schreibt der Vater jede Woche einen Brief: »Liebste, ich vermisse Dich und den Kleinen so sehr … Wir sind hier noch im Kampfeinsatz … Demnächst habe ich wieder Heimaturlaub, das hat der Kommandeur versprochen … Wir werden uns eine schöne Zeit machen … Bald ist der Krieg sowieso vorbei, natürlich gewonnen, was sonst.« Aber manchmal kommt wochenlang kein Lebenszeichen.

    Das Kind spielt mit einem kleinen Holzauto, das der inzwischen gefallene Onkel Vinz geschnitzt und mit Rädern aus Knöpfen versehen hat, auf dem oberen Flur. Braun glänzendes Linoleum. Mariya bohnert einmal in der Woche, ein fleißiges Mädel um die 18 Jahre, polnische Schlesierin aus einer bettelarmen Familie mit zwölf Kindern. Der Großvater kommentiert bisweilen: »Ob ihr Vater keine anderen Hobbys hat?« Dann droht ihm die Großmutter genierlich mit dem Finger: »Ach, du!«

    Gerade ist das Kind, in sein Spiel vertieft, an den Treppenabsatz gekommen, als es einen Stoß erhält und sich Sekunden später am Fuße der Treppe wiederfindet. Blut am Knie, am Kopf wächst eine dicke Beule. Oben feixt der Cousin, Edmund, unehelicher Sohn der Tante. Sein Erzeuger, ein Klempner, hatte Handwerksarbeiten im Hinterhaus verrichtet. Die Tante sagte, sie habe nicht gewollt, er habe sie quasi gezwungen. »So ein Dreckskerl, so ein verdammter Schubiak!« Der Großvater tobte. »Und du dumme Pute hast es zugelassen! Warum hast du nicht um Hilfe geschrien?« Es sei ihr peinlich gewesen, sagte sie, aber sie habe nicht gewollt. Wie auch immer, Abtreibung kam nicht infrage, die Großmutter war strikt dagegen. Wo auch? Aber heiraten? »Auf keinen Fall!«, entschied der Großvater. »Den kann sie nicht noch heiraten!« »Wär doch aber besser«, gab die Großmutter zu bedenken, »dann wär sie wenigstens unter der Haube.« »Nein, nein! Das erlaube ich nicht!« Der Großvater war aufgebracht wie selten. »Womöglich ein Mitgiftjäger! Noch dazu mit der Brechstange!« Meinte die Großmutter: »Brechstange ist gut.« Hin und wieder neigt sie zu Scherz und Ironie.

    Die Tante zieht ihren Edmund mithilfe der Großeltern allein auf. Eine »gute Mutter«, wie es so heißt, ist sie nicht, schon in jungen Jahren ein etwas morbide anmutender, leicht verhuschter violetter Nachtfalter im Charleston-Look, nicht hässlich, aber auch nicht schön, naiv lebensuntüchtig, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Tralala. Geheiratet wurde nicht, der Klempner erhielt Hausverbot, er bekam keinen Arbeitslohn, verschwand alsbald auf Nimmerwiedersehen. Edmund, der vaterlos aufwächst, entwickelte sich erst mal nicht zu seinem Vorteil. Unverheiratet Kinder zu haben ist ein großer Makel, nachteilig sowohl für die Mutter wie für das Kind. Zu Beginn des Schuljahres wird für jeden Schüler ein Fragebogen ausgefüllt. Erste Frage: »Vater?« Antwort: »Weiß ich nicht, kenne ich nicht.« Die Kinder lachen, die Lehrerin ist irritiert. Zweite Frage: »Beruf des Vaters?« Erübrigt sich, »entfällt«. Die Kinder lachen.

    Edmund hasst die Schule, er wird von älteren Mitschülern als Bastard beschimpft und drangsaliert. »Den hat der Esel im Galopp verloren«, hört er. Aber zu Hause auf dem Hof kann Edmund sich durchsetzen, er ist schließlich der Enkel des Eigentümers. Auf dem neuen Fahrrad, das ihm der Großvater zum Geburtstag geschenkt hat, zieht er zwischen den Häusern ein paar Runden und schreit: »Auf dem Acker sitzt ein Kacker, ruft Papier, niemand hier!« Er ist gut für jeden Schabernack, ab und zu auch für Streiche oder Unternehmungen, die von den älteren Nachbarskindern ausgeheckt werden und gar nicht lustig sind.

    Woher die Jungen – der älteste war dreizehn Jahre alt – die Handgranate hatten, ließ sich hinterher nicht eindeutig klären. Wahrscheinlich am Straßenrand gefunden. Sie explodierte zum Glück nur im Wasser des Klodnitz-Kanals. Anschließend kamen einige tote Fische an die Oberfläche, Schwimmblasen geplatzt. Sie wurden abgefischt und wanderten zu Hause in die Pfanne. Pech nur, dass jemand die Aktion beobachtet hatte und Anzeige erstattete, Denunzianten an jeder Ecke. Die Polizei machte bei zwei Familien im nahen Hüttenviertel Hausdurchsuchungen, fand jedoch nichts Verbotenes, außer einem Flugblatt der Kommunisten, das hatte der Vater des dreizehnjährigen Hans Grabowski in einer Schublade versteckt. Er wurde gleich mitgenommen und der Gestapo übergeben, kam zwei Tage später ziemlich zerschlagen zurück, hatte Glück, dass man ihm sonst nichts nachweisen konnte.

    In dem Flugblatt stand, der Krieg sei seit dem Einmarsch in Russland und erst recht seit dem Eintritt der Amerikaner in die Anti-Hitler-Koalition sowieso verloren. Wer wollte, konnte weiterlesen, Hitler sei ein Verbrecher und Volksverräter, der bereits Millionen Menschenleben auf dem Gewissen habe, er führe das Deutsche Reich in den Untergang. Es war gefährlich, solche Pamphlete, die gelegentlich in den Briefkästen steckten, aufzubewahren. Eigentlich musste man sie bei der Polizei abgeben, was aber kaum jemand tat. Am besten, man warf sie sofort ins Klo, besser noch in den Ofen.

    Auch Hans Grabowski und seinen Freund Paul Wisalla hatte die Gestapo verhaftet und in die Mangel genommen. Paul, genannt Wiso, war im Jungvolk aktiv und gleich wieder entlassen worden. Aber Hans, genannt Grabo, musste eine Nacht im Gestapo-Keller verbringen. Er trieb sich rum, wie es hieß, war schwer verdächtig und hatte sich wegen Widerworten ein paar Ohrfeigen eingefangen, bevor man ihn entließ. Beim Jungvolk war er ausgestoßen worden, weil er Befehle des Fähnleinführers missachtet, Appelle versäumt und nicht die vorgeschriebene Kluft, braunes Hemd und kurze schwarze Hose mit Koppel, getragen hatte. Auf einem gelben Entlassungspapier, das Grabo unter den Kindern herumzeigte, stand: »Hans Grabowski wird aus dem Deutschen Jungvolk wegen Ungehorsam und Befehlsverweigerungen ausgestoßen.«

    Edmund war ebenfalls vernommen worden, worüber sich die Tante furchtbar aufregte. Sie ist unpolitisch, harmlos, offenbar sexuell enthaltsam, jedenfalls hört man nichts anderes. Sie trinkt gern mal einen Schnaps, am liebsten Eierlikör, den sie sich aus der Gaststätte holt, wenn niemand zuschaut. Dann redet sie viel, erzählt, was sie so vorhat. Sie ist siebenundzwanzig, vielleicht eröffnet sie ein Textilgeschäft, Ober- und Unterbekleidung, Schnittware und so weiter. Oder sie macht ein Café auf, das würde ihr auch liegen. Natürlich müsste der Vater helfen, denn sie hat kein eigenes Einkommen. Zwar hat sie, ebenso wie die Schwester, das Lyzeum besucht, aber sich nie konsequent um eine feste Arbeit bemüht. Sie hilft mehr oder weniger im Haushalt, eher weniger.

    Der Eierlikör, der Alkohol. Die Männer trinken Bier und Schnaps. Die Trunksucht, die träge werden lässt, gleichgültig, die Existenzen zerstört. Im Januar des vergangenen Jahres hatten der Großvater und seine drei Brüder bei schönem Winterwetter vor der Stadt ein Rennen mit Pferdeschlitten veranstaltet. Sie verstanden sich gut, hielten nach einer schweren Kindheit in ärmlichen Verhältnissen zusammen. Hinterher wurde deftig und viel gegessen und getrunken. Einige Tage später war einer der Brüder, Bernhard, genannt Berni, gekommen, hatte ein wenig herumgedruckst, mit den Großeltern zwei, drei Schnäpse getrunken und schließlich um eine Unterschrift gebeten, als sei es das Normalste von der Welt. Pro forma, ohne Belang, ohne Konsequenzen natürlich. Eine Bürgschaftserklärung, er brauchte einen Kredit, 50 000 Reichsmark. Obwohl die Großmutter warnte, vertraute der Großvater seinem Bruder und unterschrieb.

    Ein großer Fehler. Schon ein halbes Jahr später wurde der Kredit, der mehrere Monate lang nicht bedient worden war, fällig und damit auch die Bürgschaft. Eine Katastrophe. »Habe ich dich nicht gewarnt?«, sagte die Großmutter schwer seufzend. »Es ist doch eine Binsenweisheit, dass man keine Bürgschaft abgeben soll, wenn man nicht notfalls auf das Geld verzichten könnte.« Was nützte es. Die Großeltern saßen tagelang bis in die Nacht hinein über den Geschäftsbüchern. Wie ließen sich die 50 000 Mark ausgleichen? Der Bruder ist betrunken, als er kommt. Er weint, aber er ist sich keiner Schuld bewusst. Andere haben schuld, davon ist er überzeugt. »Mann, Berni«, sagt der Großvater. »Da hast du uns ganz schön reingeritten.« Er schwankt zwischen Wut und Mitleid, er ist der Ältere. Was hätte er denn tun sollen?

    Die Großmutter weint ebenfalls, sie hat – wie man so sagt – nahe am Wasser gebaut. Wenn sie emotional betroffen ist, fließen schnell die Tränen. Ins Kino nimmt sie vorsorglich ein besonders großes Taschentuch mit. Dennoch ist sie eine gute Geschäftsfrau, sie berät den Großvater, erledigt die Korrespondenz, führt die Bücher für die Gastwirtschaft, das vordere Wohn- und Geschäftshaus sowie fürs Seitenhaus und das Hinterhaus. Vierundzwanzig Mieter, ein verpachtetes Ladenlokal mit einem großen Schaufenster zur Straße, Fleischerei mit Nebenräumen, Keller und einer Werkstatt im Hof.

    Jeden Tag wird auf die Post gelauert, erwartungsfroh und zugleich besorgt, ängstlich. Oft geht die Mutter dem Postboten vergeblich entgegen. Aus einem Wasserfall der Freude wird manchmal ein Tal des Jammers. Der Ehemann im Krieg an vorderster Front, sie liebt ihn heiß und innig, obwohl sie ihn noch gar nicht richtig kennengelernt hat. Auch das Kind liebt den Vater, obwohl es ihn noch weniger, fast gar nicht kennt. Die Mutter erzählt von ihm und den Flitterwochen an der Ostsee, von Theaterbesuchen in Breslau, einem Badeurlaub auf Rügen. Sie zeigt Fotos von der Oder, der Kreideküste und großen Findlingen im Meer, wo sie gebadet haben und glücklich waren.

    Aber der Postbote bringt zunehmend Briefe in die Nachbarschaft, die dort bitteres Leid auslösen. Gefallenenmeldungen der Wehrmachtsauskunftsstelle für Kriegsverluste und Kriegsgefangene, WASt, des Oberkommandos der Wehrmacht, OKW. Einmal hat sie so einen Brief bei Nachbarn gelesen. Es hieß darin, der »Gefallene«, der natürlich nicht gestolpert und hingefallen war, sondern auf irgendeine schreckliche Weise den frühen Tod an der Front für Führer und Vaterland gefunden hatte, habe nicht gelitten. Wer weiß? So hieß es jedenfalls.

    Der Krieg, die Ostfront. Das Oberkommando der deutschen Wehrmacht gibt bekannt, dass die 6. Armee unter dem Befehl von General Friedrich Paulus Stalingrad erreicht habe: ein großer Sieg der deutschen Truppen. 250 000 Soldaten, Artillerie, Panzer, Flugzeuge, eine Million Bomben. Trotz hoher Verluste. Aber noch heftigste Kämpfe, bis im November die Stadt weitgehend eingenommen ist. Adolf Hitler spricht am 8. November 1942 unter dem immer wieder aufbrandenden Beifall seiner alten Garde im Münchner »Löwenbräukeller«, und an den Radios lauschen Millionen Volksgenossen seiner unverkennbaren, leicht heiseren Stimme: »Ich wollte zur Wolga kommen, an einer bestimmten Stelle, an einer bestimmten Stadt. Zufälligerweise trägt sie den Namen von Stalin, aber denken Sie nur nicht, dass ich deswegen dorthin marschiert bin!« Gelächter. »Dort schneidet man nämlich dreißig Millionen Tonnen Verkehr ab, darunter fast neun Millionen Tonnen Ölverkehr. Das war ein gigantischer Umschlagplatz, den wollte ich nehmen. Und wir sind bescheiden, wir haben ihn nämlich.« Brausender Beifall.

    Die Großstadt an der anderthalb Kilometer breiten unteren Wolga, bis 1925 Zarizyn geheißen, ist nicht nur von strategischer, sondern auch von symbolischer Bedeutung. Stalin befiehlt die Rückeroberung. Rüstungsgüter aus den USA kommen über das 400 Kilometer entfernte Kaspische Meer und weiter flussaufwärts. Doch der Nachschub ist unterbrochen, das kann Stalin nicht hinnehmen. Bereits Ende November werden die deutschen Truppen von sowjetischen Streitkräften eingeschlossen. Vor der Tür jetzt der russische Winter und drei russische Armeen. Die Bevölkerung, soweit sie den Bombenhagel überlebt hat, haust in Kellern und Erdlöchern, viele erfrieren oder verhungern. Die Kämpfe gehen weiter.

    In Oberschlesien ist der Krieg noch weit weg. Von Gleiwitz fahren die Mutter und das Kind mit der Straßenbahn über Hindenburg nach Beuthen, um Großmutter Lisa und Großvater Jakob zu besuchen. Auch hier geht noch alles seinen geordneten Gang – soweit man hinter dem Führer steht. Heil Hitler! Aber es gibt hier und da Bedenken, natürlich heimlich, hinter vorgehaltener Hand im Familienkreis. Vorsicht. Wer Kritik äußert, ob privat oder öffentlich, und angezeigt wird, ist geliefert, wird abgeholt, das ist bekannt. Man muss sich vorsehen, sonst landet man im Gestapo-Keller oder im KZ. Die Wände haben Ohren, die Denunziation blüht, mitunter sogar in der eigenen Familie, denn der Denunziant glaubt an die Ideen des Nationalsozialismus oder er liebt den Führer, und er hat den Vorteil, nicht in Verdacht zu geraten. Dennoch, es gibt Widerstand. Die Kommunisten, aber nicht nur die. Man hört so einiges, nichts Genaues.

    Großvater Jakob, ein schüchterner kleiner Mann mit einer runden Intellektuellenbrille, der häufig davon erzählt, wie er im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts mit einem Gehalt von 66 Reichsmark und zwei Drittel Pfennigen beamteter Lehrer geworden war. Er hat den Ersten Weltkrieg noch mitgemacht, zu seinem Glück nur kurz wegen eines Herzleidens. Er ist gegen Krieg, schon aus religiöser Überzeugung, sagt: »Dieser Irre! Dieser größenwahnsinnige Menschenschlächter!« Gröfaz, der größte Feldherr aller Zeiten.

    Der jüngste Sohn, Vinzenz, genannt Vinz, war gleich zu Beginn des Polenfeldzugs gefallen. Er hatte gerade eine Stelle als Ingenieur angetreten, als der Einberufungsbefehl zu den Pionieren kam. Der zweite Sohn, Hans-Heinrich, genannt Harry, liegt schwer verwundet in einem Feldlazarett. Und der dritte Sohn kämpft zur angeblichen Ehre eines Deutschen Reiches, das schon lange seine Ehre verloren und den Weg in die Diktatur genommen hat, an der griechischen Mittelmeerfront. Großmutter Lisa, die in den vergangenen Monaten noch hagerer geworden ist, hat verweinte Augen. Jeden Abend wird innig zuerst für den gefallenen Sohn und danach für den verwundeten und den »im Feld stehenden« gebetet.

    Als Erstes fragt die Großmutter: »Hat dir der Ernst geschrieben? Wir haben schon seit drei Wochen keinen Brief mehr bekommen.«

    Ja, vor einigen Tagen ist ein Lebenszeichen eingegangen, ein Päckchen aus Saloniki mit einem Seidenkleid und einem schönen Schal. Davor war ein Brief aus Athen gekommen. Ein Foto wird herumgereicht, es zeigt den Sohn, Ehemann und Vater in Uniform auf den Stufen der Akropolis. Es gibt Rouladen mit Rotkohl und schlesischen Klößen, dazu einen sehr herben – um nicht zu sagen sauren – Wein aus Grünberg, dem nördlichsten Weinanbaugebiet Europas. Vor dem Essen wird gebetet.

    Im Glasschrank, der eine Querwand des Esszimmers einnimmt, die Kristallgläser und das kostbare Service, Meißener Porzellan, alles zwölfteilig, ebenso das Silberbesteck. An der einen Längswand neben der Tür zum Wohnzimmer die Standuhr, die stündlich schlägt, sowie ein Hirschgeweih, Zwölfender, und ein Brettchen mit den Hauern eines kapitalen Keilers. Der Bruder der Großmutter ist Förster beim Freiherrn von Knesebeck in Auenrode, der Vater Wildmeister beim Grafen Schaffgotsch in Koppitz bei Grottkau. Von dort stammen die Trophäen, denn der Großvater geht nicht auf die Jagd.

    An der anderen Längswand ein Genrebild mit Hirten und Schäferinnen, daneben der Bücherschrank: Goethe, Schiller, Lessing, Kleist, alle in Halbleder, ein ganzes Regal. Darunter mehrere Regale mit Gerhard Hauptmann, Joseph von Eichendorff, Gustav Freytag, Paul Keller, Andreas Gryphius, Angelus Silesius, Jakob Böhme, aber auch Bücher von Autoren sogenannten »undeutschen Geistes« wie Thomas und Heinrich Mann, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Arnold Zweig, Erich Maria Remarque, Lion Feuchtwanger oder Hermann Hesse. Deren Werke waren bereits 1933 bei öffentlichen Bücherverbrennungen »den Flammen übergeben worden«, wie es hieß, von Berlin bis Köln und von Kiel bis München. Das hatte Großvater Jakob erzürnt, er nahm sich nach wie vor die Freiheit zu lesen, was ihm lesenswert erschien. Allerdings war das nicht ungefährlich, die Großmutter hatte ihn schon mehrmals ermahnt, diese verfemten Bücher wenigstens in die zweite Reihe zu stellen, davor vielleicht Romane von Hans Grimm, Artur Dinter, Hanns Johst oder Heinrich Spoerl sowie Alfred Rosenbergs »Mythos des 20. Jahrhunderts« und Hitlers »Mein Kampf«, 1933 informationshalber angeschafft.

    Zum Nachmittagskaffee Streuselkuchen. Tante Ortrud, eine Schwester der Großmutter, ist mit ihrer Schwiegertochter aus Oppeln gekommen. Sie wollen über Nacht bleiben und am nächsten Morgen Sohn und Ehemann in Hindenburg besuchen, der dort eine Stelle als Ingenieur in der Eisenverhüttung angetreten hat. »Gott sei Dank«, sagt die Tante. »Jetzt wird er nicht mehr zum Militär eingezogen. Unabkömmlich an der Heimatfront, vom Kriegsdienst freigestellt.« Der Großvater wird nachher zur Großmutter sagen, dass er das verlogen findet. »Die Ortrud ist für Hitler, hat ihn gewählt und bewundert ihn, aber ihren Sohn möchte sie in Sicherheit wissen, der soll nicht Soldat werden.«

    »Wir bekommen demnächst eine Werkswohnung in Ruda«, berichtet Elise, die Schwiegertochter, neunzehn, gerade erst verheiratet und deutlich schwanger. Sie erzählt von der Hochzeit, die im kleinsten Familienkreis gefeiert wurde. »Weil es pressiert«, setzt sie leicht errötend hinzu. In ihrem geblümten Kleid, ohnehin etwas mollig, wirkt sie ein wenig naiv und bieder. Im Gegensatz zur Tante, ihrer Schwiegermutter, die von gebremst lebhaftem Charakter ist, sehr aufrecht neben ihr sitzt und die Strenge hinter Leutseligkeit verbirgt. Ihr Mann, Onkel Gundolf, ist frühzeitig in die NSDAP eingetreten und hat bei der Stadtverwaltung eine Parteikarriere gemacht. Oberamtmann, das ist schon was.

    Der Großvater steckt sich einen Stumpen an und erzählt Anekdoten aus Koppitz, dem Dorf bei Grottkau, wo er seine erste Lehrerstelle angetreten hatte. Dort haben er und die Großmutter sich noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges bei einem Fest, das der Graf Schaffgotsch für die Dorfhonoratioren und seine höheren Angestellten im Schloss gegeben hatte, kennengelernt. Kurz darauf wurde geheiratet, da waren sie schon nicht mehr so ganz jung, dreißig und sechsundzwanzig, man musste ja einen Beruf haben und genügend verdienen, um eine Familie gründen zu können. Die Großmutter wischt sich die Augen. Auf dem Vertiko stehen Familienfotos, vorn das mit einem schwarzen Band versehene Foto des gefallenen Sohnes.

    Die Familie ist weit verzweigt: Breslau, Oppeln, Glatz, Liegnitz, Neiße, Ottmachau, Brieg, Ratibor, Grottkau, Hirschberg. Nach überlieferten Berichten waren die Vorfahren bereits im 13. Jahrhundert mit einem Siedlertreck aus dem Frankenland am Main nach Niederschlesien eingewandert. Die schlesischen Piasten warben um Siedler, und später auch die böhmischen Könige, nachdem Schlesien Mitte des 14. Jahrhunderts zu Böhmen gekommen war. In der Nähe des Klosters Heinrichau gründeten die Franken ein Dorf, rodeten den Wald und kultivierten das Land. Bald schon, 1241, mussten sie in der Schlacht bei Liegnitz gegen den Ansturm der Hunnen kämpfen, die bereits einen Teil Russlands und Polens verwüstet und Kiew erobert hatten. Zwar wurde das deutsch-polnische Ritterheer, das sich als zu unbeweglich erwies, von den geschickt auf ihren wendigen Pferden agierenden Hunnen besiegt, doch die Feinde zogen sich zurück, als es ihnen nicht gelang, Liegnitz einzunehmen. So war die neue Heimat doch noch erfolgreich verteidigt worden, und die Siedler wurden allmählich Schlesier. Der älteste Sohn übernahm jeweils den Hof, die Töchter heirateten oder blieben als Mägde, die jüngeren Söhne wurden Förster, Waldarbeiter, Handwerker, Gutsverwalter, Lehrer, Pfarrer oder Knechte, wenn sich nicht eine Bauerntochter zum Heiraten fand, die einen Hof in die Ehe mitbrachte.

    Viele standen in Diensten des zugewanderten Adels, der sich schon bald über ganz Nieder- und Oberschlesien ausgebreitet hatte. Da waren die Schaffgotsch, Hochberg, Ballestrem, Pleß, Henckel von Donnersmarck, Nimptsch, Brauchitsch, Frankenberg, Pfeil, Knesebeck, Wrochem und so weiter. Freiherrn, Barone, Grafen, Fürsten, sie alle brauchten Hilfskräfte, Arbeiter, Angestellte, treue Diener und Vasallen. Und es war immer besser, sich ihnen anzudienen, als hungerleidend in Fron und Leibeigenschaft zu geraten. Später wanderten Tausende nach Amerika aus, auch viele Verwandte. Der Großvater berichtet von zu Herzen gehenden Briefen aus Illinois und Arkansas, die er in einer Truhe aufbewahrt. Heimweh, Schicksalsschläge, Tod bereits auf dem Auswandererschiff, bitterste Armut, zum Militärdienst gepresst …

    Seit 1335 hatte Schlesien zu Böhmen gehört, dessen König einer der sieben Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war; 1526 fiel es an die Dynastie der Habsburger, 1763 dann an Preußen. Sieben Jahre lang kämpften die kaiserlich-österreichischen Habsburger zusammen mit Frankreich und Russland gegen die Preußen und die mit ihnen verbündeten Briten. Es ging um territorialen Zugewinn sowie die Vorherrschaft in Mitteleuropa, für Frankreich und Großbritannien auch um ihre Kolonien in Nordamerika, der Karibik und Afrika. Wie immer spielten wirtschaftliche und politisch-strategische Interessen die Hauptrolle beim großen Untertanensterben.

    Nach der verlustreichen Schlacht bei Leuthen in Niederschlesien dankte der König – es war Friedrich II., genannt der Alte Fritz – dem Herrn mit entblößtem Haupt für den Sieg gegen die feindliche Übermacht. 25 000 übrig gebliebene und zu Tode erschöpfte Soldaten der preußischen Armee sangen den Choral »Nun danket alle Gott«. Über 1000 Tote und mehr als 6000 Verwundete und Verkrüppelte auf preußischer, 3000 Tote und 7000 Verwundete und Verkrüppelte auf österreichischer Seite. Ein Vorfahr, so erzählt der Großvater, war als Feldscher zum Soldatendienst gepresst worden und in Ausübung seiner ärztlichen Dienste an der Diphterie gestorben; das hatte die Urgroßmutter neben vielen anderen Informationen im Familienstammbuch aufgeschrieben.

    Leuthen stand noch zu Beginn des Siebenjährigen Krieges, weitere Schlachten mit Tausenden von Opfern und verwüsteten Provinzen folgten: Hastenbeck, Roßbach, Groß-Jägersdorf, Zorndorf, Hochkirch, Mehr, Kay, Kunersdorf, Bergen, Minden, Korbach, Emsdorf, Warburg, Liegnitz, Torgau, Kampen, Bunzelwitz, Kolberg, Burkersdorf, Freiberg, Wilhelmsthal, Lutterberg … Mitteleuropa, das sich kaum von der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges erholt hatte, war erneut – und immer wieder – ein einziges Schlachtfeld. Aber Friedrich II. mit der Ehrenbezeichnung »der Große« hatte sich durchgesetzt, die wertvolle Provinz Schlesien gehörte erst mal für lange Zeit zu Preußen.

    Die Leibeigenschaft wurde durch Erlass König Friedrich Wilhelms III. erst 1807 im Wege der Stein’schen und Hardenberg’schen Reformen abgeschafft. Doch zunächst änderte sich wenig, noch 1844 gab es den Weberaufstand, der blutig niedergeschlagen wurde. Die beginnende Industrialisierung brachte dann allmählich eine Veränderung der Verhältnisse, die Landbevölkerung fand Arbeit in den Fabriken, Kohlegruben und Eisenhütten. Oberschlesien wurde zum zweitgrößten deutschen Industriegebiet mit Städten wie Kattowitz, Königshütte, Gleiwitz, Beuthen, Hindenburg, Ruda. Arbeitersiedlungen entstanden. Und der schlesische Adel erkannte die Zeichen der Zeit, verlegte sich von der Landwirtschaft auf die Industrie.

    Erinnerungen, ein Familienstammbuch, braunstichige Fotos in ledergebundenen Alben, Bilder von Schlössern, Gutshöfen, schönen Landschaften, von Dörfern, Städten

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1