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Die baltische Tragödie
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eBook882 Seiten12 Stunden

Die baltische Tragödie

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Über dieses E-Book

Siegfried von Vegesack hat in seiner großartigen Romantrilogie vom Schicksal der Baltendeutschen ein faszinierendes Panorama einer versunkenen Kultur- und Gesellschaftsschicht gezeichnet.

Am Beginn entfaltet sich in berührenden Bildern das Leben auf einem großen Gutshof, poetisch, unverkitscht und mit wachem Auge für die soziale Wirklichkeit geschildert. Später treten die politischen und sozialen Spannungen zwischen Deutschen und Russen einerseits, der Herrenschicht und den weitgehend rechtlosen Esten und Letten andererseits immer stärker ins Blickfeld, bis Vegesack schließlich den Untergang der deutschen Kultur im Baltikum in den Wirren des Ersten Weltkriegs, der bolschewistischen Aufstände und der Freikorpskämpfe schildert.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Juni 2021
ISBN9783853653296
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    Buchvorschau

    Die baltische Tragödie - Siegfried von Vegesack

    Blumbergshof

    „Die kleine Frühlingsnacht des Lebens verfließe dir ruhig und hell – der überirdische Verhüllte schenke dir darin einige Sternbilder über dir – Nachtviolen unter dir – einige Nachtgedanken in dir – und nicht mehr Gewölk, als zu einem schönen Abendrot vonnöten ist, und nicht mehr Regen, als etwa ein Regenbogen im Mondschein braucht!"

    Jean Paul

    Mila

    Im Anfang war eine große, weiche Dunkelheit, eine wohlige Wärme und tiefes Geborgensein. Nur manchmal wanderte der blaue Schein einer kleinen Öllampe durch das Dunkel und warf gespensterhafte Schatten an die Wände. Wie groß, fast bis zur Decke, wuchs Karlomchens Buckel! Das Licht huschte hin und her, und dann wurde es wieder finster.

    Aurel lag in seinem schmalen Gitterbett, streckte die kleinen Hände nach den hölzernen Stäbchen aus, die ihn wie in einem Käfig gefangenhielten. Aber die Stäbchen ließen sich wenigstens drehen, und das gab einen lustigen, quietschenden Ton. Und wenn er mit den Armen noch weiter nach unten vortastete, konnte er sogar ein weiches, warmes Fell erreichen, das dann gleich zu schnurren anfing. Nein, er war nicht allein: Minka war bei ihm. Jeden Abend, wenn Karlomchen gegangen war, sprang sie lautlos zwischen den Gitterstäben zu ihm ins Bett und blieb bis zum Morgen.

    Aber noch war es finster. Auch wenn Janz, der Gartenjunge, in der Frühe mit der Stallaterne kam, um den Kachelofen zu heizen, war alles dunkel. Janz ging lautlos, wie ein Gespenst, in seinen Wollsocken; nur die Bohlen des Fußbodens knackten, und das Licht der flackernden Laterne schwankte hin und her, bis es vor der Holzkiste stillstand. Dann hockte sich Janz auf den Knien vor dem Ofen nieder, und jetzt konnte Aurel ganz deutlich im Schein der Laterne sehen, daß die rechte Socke auf dem Hacken ein Loch hatte, ein großes, rundes Loch.

    Die Ofentür klapperte, das Feuer knisterte, prasselte; Janz schlurfte davon, aber die roten und gelben Lichter tanzten noch lange vor dem Ofen auf dem Fußboden, bis dann langsam die Dämmerung vom Fenster ins Zimmer stieg und es allmählich Morgen wurde.

    Mila kam, Aurel wurde aus seinem Käfig herausgehoben, der Tag fing an.

    Ein Tag war damals noch eine kleine Ewigkeit, oder vielleicht stand die Zeit überhaupt still, wie das Haus stillstand mit seinen weiten, hellen Räumen, den vielen weißen Kachelöfen und der alten englischen Standuhr, deren Räderwerk längst abgelaufen war und die ein merkwürdiges, heiseres Schnurren von sich gab, wenn man ihre Gewichte herunterzog.

    Aber das durfte man eigentlich nicht tun, und Aurel war auch dazu viel zu klein, nur wenn Mila ihn auf die Arme hob, konnte er bis zu den schweren Bronzezapfen hinauflangen und die blanke Scheibe des Perpendikels ein wenig auf und ab ticken lassen. Doch gleich darauf stand sie wieder still, der Zeiger rührte sich nicht. Die Uhr wollte nicht gehen.

    Nur die großen viereckigen Sonnenstücke wanderten langsam über den weiß gescheuerten, ungestrichenen Bretterfußboden und die bunten Flicken-Dielenläufer, die von einer Schwelle zur anderen schräg durch die Zimmer liefen. Auf diesem Dielenläufer im Saal ging Mila oft hin und her, den kleinen Aurel auf den Armen, und Minka, die dreifarbige Katze, lief feierlich, mit hochgehobenem Schwanz, hinter ihrem Rock immer auf und ab, bis der Junge ins Bett getragen wurde und sie sich wieder schnurrend zu ihm hinlegen konnte. Auf diesem gestreiften Dielenläufer machte Aurel seine ersten Gehversuche: Mila an der einen Hand und Karlomchen an der anderen. Vor ihm aber, nur ein paar Schritte entfernt, hockte die Mutter mit ausgebreiteten Armen auf den Knien und fing ihn auf, wenn er das letzte Stück ganz allein mit einem hellen Jauchzer an ihre Brust taumelte.

    Dann hob die Mutter ihn auf ihre Arme, war aber gleich so erschöpft, daß sie ihn doch der Wärterin abgeben mußte und Mila ihn wieder zu sich nahm.

    Wie zart und zerbrechlich war die Mutter und wie klein und bucklig Karlomchen neben der breiten, kraftstrotzenden Mila! Mila, und nicht die Mutter, hatte den Jungen genährt, und so hing er auch noch jetzt unzertrennlich an ihr wie an keinem anderen Menschen.

    Sonst waren da noch die großen Brüder: drei Knaben, viel älter als er, die mit dem verspäteten Jüngsten nichts anzufangen wußten. Aber an einem hellen Wintermorgen wurde Aurel ins Schlafzimmer der Mutter geführt, und da lag etwas Winziges, Rosiges neben ihr im Bett. Nun hatte er eine kleine Schwester.

    Der Vater war fast immer unsichtbar, und zu ihm durfte man nicht hineingehen. Nur manchmal öffnete sich die Tür, und dann stand er da in seinem braunen Hausrock, die lange Pfeife in der Hand, sagte etwas und war ebenso plötzlich wieder verschwunden. Aber ein wenig Pfeifenrauch blieb im Saal zurück, und dieser Geruch war eigentlich alles, was der kleine Aurel von seinem Vater hatte.

    Dafür öffnete sich ihm ein neues Reich, in das ihn Mila jetzt öfters mitnahm: die Gesindestube neben der Küche. Hier ging es laut und lustig zu, es war ein Kommen und Gehen, immer saß jemand am blankgescheuerten Tisch bei einem großen geblümten Kaffeekrug, die Mädchen rannten hin und her, es war ein ewiges Lachen und Geschwätz. Besonders toll trieb es die schwarze Tina, aber auch die kleine Karlin hatte ein Mundwerk, das nur selten stillstand. Und was gab es da für sonderbare Männer: den alten Kutscher Marz mit dem buschigen Vollbart, der ihm tief über die Brust hing und den er immer mit dem Handrücken strich, wenn er einen Kaffeeschluck geschlürft hatte; den stillen, bedächtigen Gärtner Indrik, der niemals lachte und immer zu träumen schien und der eine so schöne tiefe Stimme hatte, daß alle Mädchen weinten, wenn sie ihn hörten. Aber er sang nur selten und niemals, wenn man ihn bat. Dann war da oft der kleine, aufgeregte Buschwächter Mickel mit den kurzen, krummen Beinen und dem abgeschossenen Daumen: der glatte vernarbte Stumpf sah gruselig und widerlich aus, aber Aurel mußte ihn doch immer wieder genau betrachten.

    Am liebsten aber hatte er den Gartenjungen Janz, der im Winter die vielen Öfen heizte und die Wassereimer an der über die Schulter gelegte Stange vom Ziehbrunnen zur großen Tonne trug, die im Küchenflur stand. Immer schleppte Janz etwas: Holz oder Wasser. Immer rief man nach ihm, und immer war er auf den Beinen. Trotzdem fand er Zeit, für Aurel Spielzeug zu schnitzen: eine kleine Schaufel, einen Schlitten, ein Boot. Wenn Aurel etwas wollte, dann ging er zu Janz. Und Janz tat alles, was der kleine Herr befahl. Einmal steckte er sogar seine Hand ins offene Herdfeuer, nur weil Aurel wissen wollte, ob es auch wirklich heiß sei. Ja, es war heiß. Die Haut war sogar ein wenig angebrannt. Janz lächelte, als er die Stelle zeigte. Aber Aurel fing an zu weinen. Er wußte es selbst nicht, warum.

    Auch wenn die Mägde in der Dämmerung beim Spinnen oder Flicken sangen, oder wenn Mickel mit seinem abgeschossenen Daumen auf der Ziehharmonika spielte, stiegen dem Jungen die Tränen auf, aber er mußte trotzdem zuhören.

    Hier in der verräucherten, dunstigen Gesindestube fühlte er etwas, was ihm in den stillen, hellen Herrenhausräumen fehlte: derbes, ursprüngliches Leben. Aber zugleich fühlte er, daß er von diesem Leben ausgeschlossen war, daß er hier immer ein Fremder, ein

    Nichtdazugehöriger bleiben würde. Sogar der alte Marz nannte ihn „Jungherr", und Minna, die Wäscherin, küßte ihm jedesmal die Hand, wie alle Dienstboten der Mutter die Hand küßten.

    Nein, er gehörte nicht in die Gesindestube, etwas stand zwischen ihm und diesen Leuten, etwas, was er nicht begriff und doch spürte, wie eine gläserne Wand, die ihn von allem abschloß. So sehr er sich auch bemühte, das Glas zu durchbrechen – er blieb doch immer draußen, und selbst wenn er Janz’ verbrannte Hand hielt oder Mickels Daumenstumpf befühlte, war etwas Fremdes zwischen seiner und ihrer Haut, ein unüberbrückbarer Abgrund.

    Wie beneidete er alle diese Menschen, die so unbekümmert schwatzten und Späße machten, die schmatzend, mit aufgestützten Ellbogen, den Kaffee schlürften und sich mit Butter gemischten Quark auf die dicken Schwarzbrotschnitten schmieren durften. Drinnen im Speisezimmer gab es nur Butter. Und wieviel besser schmeckte dieser weiße, körnige Quark! Mila gab ihm davon, außerdem hatte sie immer in ihrer tiefen Schürzentasche süße klebrige Bonbons oder braune gebrannte Zuckerstangen, an denen man lange lutschen konnte.

    Nein, Mila war nicht fremd, sie gehörte zu ihm, wenn sie auch hier in der Gesindestube aß. Und nur durch Mila fühlte er dunkel sich mit allen diesen Leuten verbunden, wenn sie ihm auch im Innersten verschlossen blieben. Es gab eben zwei Welten: die eine war still, mit bunten Dielenläufern, feiner Butter, Flüstern, gedämpften Schritten. Und die andere war laut, mit Quark und Gelächter und weißem Sand auf dem Fußboden. Diesen weißen Sand, der so schön unter den Schuhen knirschte, liebte Aurel besonders.

    Aber Quark und Sand blieben immer draußen hinter der Backstube. Dieser Raum mit dem mächtigen Backofen und der hohen Mehltruhe, der gleich hinter dem Anrichtezimmer lag, trennte die beiden Welten voneinander. Hier knetete Liese, die alte Köchin, mit aufgekrempelten Ärmeln den Teig in einem gewaltigen Trog, hier roch es säuerlich nach frischgebackenem Grobbrot, nach lockerem Karrasch und klintschigem Süßsauerbrot, und hier gab es, gleich neben dem Ofen, ein geheimnisvolles dunkles Loch in der Mauer, mit furchtbaren Spinngeweben. Aurel gruselte sich vor diesem Loch, aber er mußte doch immer wieder hineinschauen. Manchmal saß eine fette, runde Spinne in ihrem Netz, und dann mußte Janz seinen Arm hineinstecken – ganz tief, bis zum Ellbogen, und das graue Spinngewebe herausholen. Aber die Spinne selbst blieb immer in ihrem Versteck.

    In der Backstube standen auch die vielen Wasserstiefel vom Vater und den Brüdern, und Aurel sah zu, wenn Janz das weiße Schweinefett mit den Fingern in das schwarze Leder hineinrieb. Hier putzte auch Janz Vaters alte Schrotflinte mit einem geölten Hedepfropfen, den er mit einem Stock durch die Läufe stieß. Wenn Janz die Läufe gegen das Licht hielt und Aurel durchschaute, blitzten die runden Stahlwände wie brennendes Silber.

    „Warum schießt Papa Hasen?" fragte Aurel, der gesehen hatte, wie Mikkel einen toten Hasen in der Küche ablieferte.

    „Weil sie gut schmecken!" lachte Janz und drehte einen neuen Hedepfropfen.

    „Ich werde ihn nicht essen, erklärte der Junge nachdenklich, „– und auch keine Hasen schießen, wenn ich groß bin!

    „Und doch wirst du es tun, meinte Janz und stieß den Pfropfen in den Lauf. „Ein Jungherr geht auf die Jagd, und ein Jungherr schießt Hasen!

    „Und du?" fragte Aurel.

    „Ich bin kein Jungherr! lachte Janz. „Ich putz’ nur die Flinte!

    „Was ist ein Jungherr?" erkundigte sich Aurel.

    „Das bist du!" sagte Janz und preßte den Putzstock immer tiefer in den Lauf hinein.

    Wieder war die Glaswand da, diese unsichtbare Mauer, die ihn von Janz, von Mickel, von Indrik und sogar vom alten Marz trennte. Alle diese Leute sagten zum Vater: „Großherr, zur Mutter: „Großfrau und zu ihm und zu den Brüdern: „Jungherr". Es war wie ein Zauberwort, mit dem sie Vater, Mutter und Brüder in einen gläsernen Berg bannten. Und nun sollte auch er dort eingeschlossen werden.

    „Ich bin kein Jungherr, und ich werden den Hasen nicht essen!" Aurel stapfte mit dem Fuß und lief zur Backstube hinaus in das Anrichtezimmer. Hier trockneten die schwarze Tina und Karlin Geschirr.

    „Was hat nur der kleine Jungherr?" fragte die schwarze Tina und wollte ihn an sich ziehen. Aber er riß sich wütend los und stürmte weiter. Jetzt kam er an der dunklen Vorratskammer vorbei, die Tür stand offen, er hörte Karlomchen rascheln und kramen. Es roch nach getrockneten Äpfeln, Pflaumen, Rosinen und Korinthen, nach Honigwaben, Kaneel und Safran.

    Der Junge konnte nicht widerstehen: er ging in die Vorratskammer. Geduldig wartete er, bis Karlomchen mit dem Kramen fertig war. Wie klein war jetzt ihr Buckel geworden, viel kleiner als in der Nacht – ob wirklich Flügel darin versteckt sind, mit denen Karlomchen heimlich fliegen kann, wie Mila behauptet? Aber gesehen hatte er es noch nicht. Wenn es auch merkwürdig war, daß Karlomchen überall gleichzeitig sein konnte: beim Wäschezählen, beim Zuckerhacken, in der Apfelkammer, in der Schafferei, beim Einmotten vor der großen Pelzkiste oder auf der Veranda beim Erbsenbulstern. Karlomchen war überall und immer im Trab, so daß der große Schlüsselbund klirrte. Selbst nachts huschte sie mit der blauen Öllampe durch die Zimmer. Vielleicht flog sie dann?

    Aber jetzt schob sie endlich das große Schubfach dort oben ein wenig auf, griff hinein und gab dem Jungen, der nur darauf gewartet hatte, eine Handvoll getrocknete Apfelscheiben.

    „Karlomchen, ich will nicht den Hasen essen, erklärte Aurel, indem er sich ein Apfelstück in den Mund steckte. „Und ich will auch kein Jungherr sein!

    Karlomchen schob das Schubfach wieder zu.

    „Papperlapapp, ob du Jungherr bist oder nicht: es kommt nicht darauf an, was wir sind, sondern wie wir sind", meinte sie ernst und schloß die Tür der Vorratskammer.

    „Und warum muß ich dann Jungherr sein?" fragte Aurel und spürte mit Behagen den süß-säuerlichen Geschmack der getrockneten Apfelscheiben auf der Zunge.

    „Weil jeder das sein muß, was er ist! sagte Karlomchen und drehte den Schlüssel im Schloß um. „Aber im Himmel vor dem lieben Gott sind wir alle gleich!

    „Und warum können wir es nicht schon hier sein?" forschte der Junge und steckte sich ein neues Apfelstück in den Mund.

    „Weil wir noch keine Engel sind", seufzte Karlomchen und schon war sie mit ihrem Buckel verschwunden. Nur der Schlüsselbund klapperte noch irgendwo aus der Ferne.

    Nein, Papa ist kein Engel, wenn er Hasen schießt, überlegte Aurel und wanderte nachdenklich, das letzte Apfelstück in der Faust, auf dem Dielenläufer in den Saal. Erschrocken blieb er stehen: dort stand er, der Vater, die lange Pfeife in der Hand und schaute zum Fenster hinaus. Schon wollte der Junge umkehren, schnell davonlaufen, aber dann besann er sich: wie, wenn er ihn jetzt fragte, ihn bat – vielleicht war alles gutzumachen, vielleicht ließ er dann die Hasen leben?

    Das kleine Herz klopfte zum Zerspringen bis in den Hals hinauf, und die Faust hielt noch immer das Apfelstück umklammert, als er nun neben dem Vater dastand und mit hochgereckter Nasenspitze zum glimmenden Pfeifenkopf hinaufstarrte. Aber er brachte kein Wort hervor. Auch der Vater schwieg. Er legte nur seine schwere Hand auf den blonden Scheitel des Kindes, und damit waren alle Fragen und Bitten verstummt.

    Dann ging der Vater wieder in sein Zimmer. Die Tür schloß sich. Und Aurel steckte sich tief beschämt das letzte getrocknete Apfelstück in den Mund.

    Nein, dem armen Hasen war nicht zu helfen. Jetzt nahm der Vater sogar die großen Brüder mit auf die Jagd: drei Schlitten mit dicken Felldecken hielten vor der Veranda. Der Vater kutschierte den ersten und hatte Christof bei sich. Marz folgte im zweiten mit Balthasar und Reinhard. Und Mickel, der Buschwächter, saß im letzten mit den drei Hunden: Waldi, Sagrei und Schamyl.

    Aurel war im Spielzimmer mit Hilfe eines Schemels auf das Fensterbrett geklettert, und von hier aus konnte er alles genau beobachten: die dampfenden Mäuler der Pferde, Vaters rote Fuchsfellmütze mit den Ohrenklappen, den schwarzen Bärenpelz, die blitzenden Flintenläufe. Und den aufgeregten Mickel mit den noch aufgeregteren Hunden, das runde Messingjagdhorn auf dem kurzen Schafspelz. Dann knallten die Peitschen, das Horn schmetterte, die Schellen läuteten, die Hunde jauchzten – die Schlitten bogen bei den Tannen ein und waren hinter der roten Klete verschwunden.

    Aurel ertappte sich bei dem Wunsch mitzufahren. Und dann kam wirklich der große Tag, an dem Mila ihn dick einpackte und er mit ihr und den Brüdern in einer „Ragge", einem tiefen, breiten Bauernschlitten, spazierenfahren durfte. Balthasar, der Älteste, kutschierte, und Reinhard und Christof balgten sich um die Peitsche, bis Balthasar auch die Peitsche an sich riß. Ehra, die alte Fuchsstute, rannte wie verrückt und schleuderte mit ihren Hufen vereiste Schneebälle in den Schlitten. Jetzt bogen sie von der Allee auf die Landstraße ein, dicke Weidenstümpfe mit kahlen Ästen flogen vorüber. Aber dann plötzlich, an einer Biegung, scheute Ehra, machte einen gewaltigen Satz, der Schlitten kippte um, und alle rollten in den Graben. Immer wieder mußte Aurel, ganz aufgeregt, Karlomchen und der Mutter davon berichten. Bis tief in die Ärmel und unter den Baschlik, die braune Kapuze, war der Schnee gedrungen. Er war glücklich und stolz wie auf eine Heldentat. Nur durfte er nicht mehr mit den großen Brüdern spazierenfahren.

    Dafür baute er sich im Spielzimmer mit Stühlen und Kissen selbst einen Schlitten, spannte das Schaukelpferd davor, packte sich in dicke Decken ein und fuhr los. Als die kleine Schwester etwas größer wurde, setzte er sie auch hinein und fuhr sie spazieren. Das Schaukelpferd Ehra trabte ganz brav, hob und senkte die Mähne, hob und senkte den etwas dünnen, halbausgerissenen Schwanz, die Schellen an der blauen Leine klimperten. Aber dann plötzlich machte Ehra einen Satz, der Schlitten fiel um, und Adda, die kleine Schwester, mußte, auch wenn sie gar nicht wollte, über den Fußboden rollen.

    Das Spielzimmer war Aurels Reich: hier baute er mit glatten Holzklötzen mächtige Türme und Häuser, weidete große Herden von Kühen (das waren braune Kastanien) und Schafen (das waren Weidenkätzchen) oder spielte auch stundenlang eifrig mit seinen Puppen. Besonders liebte er Franz, der sogar die Augen aufschlagen und schließen konnte und der immer bei ihm im Gitterbett schlafen mußte.

    Während er eifrig spielte, saß Mila am Fenster, strickte oder stopfte Strümpfe. Dann und wann huschte Karlomchen durch das Zimmer, oder die schwarze Tina steckte den Kopf durch die Tür. Aber die Mutter kam nur selten. Sie schaute dann wie suchend nur ein wenig herein, fragte etwas und war ebenso schnell wieder verschwunden. Dafür kletterte Aurel jeden Morgen zu ihr ins Bett. Die kleine Karlin brachte ihr das Frühstück auf einem Tablett, die Mutter mußte lange liegen. Besonders im Winter, wenn es draußen kalt und dunkel war. Die Mutter fror immer. Wie oft stand sie fröstelnd, einen weißen gehäkelten Schal um die schmalen, zusammengezogenen Schultern, am weißen Kachelofen im Saal und wärmte sich den Rücken. Solange draußen Schnee lag, ging sie fast nie hinaus.

    „Dies ist kein Land für mich, seufzte sie manchmal, „ich brauche Sonne und Wärme!

    Lange konnte sie am Fenster stehen und den grauen Himmel nach ein wenig Blau absuchen. Und wenn sie dann ein Stückchen fand, so groß, daß man „eine Hose daraus machen" konnte – dann war sie glücklich: dann klärte es sich auf! Und wenn die Sonne endlich durchbrach, strahlte es auch aus ihrem schmalen Gesicht. Dann kam es vor, daß sie leise vor sich hinsummte, alte Kinderlieder, die sie selbst einmal als Kind gelernt hatte. Der kleine Aurel trippelte neben ihr an der Hand, immer hin und her auf dem bunten Dielenläufer. Und Minka, die dreifarbige Katze, folgte mit hochgehobenem Schwanz von einer Schwelle zur anderen.

    Auf dem weißen Fußboden lagen große viereckige Sonnenstücke, die vom Schatten schmaler Blätter gesprenkelt wurden. An den Fenstern standen in hohen Kübeln die Oleander, ein ganzer Wald von schlanken Oleanderbäumen. Das waren die Lieblingspflanzen der Mutter, die sie selbst begoß und pflegte. Im Sommer standen sie vor den weißen Säulen auf der Veranda, und ihre zarten rosa Blüten dufteten süß und zugleich bitter, als sehnten auch sie sich nach einem wärmeren Lande.

    Aber jetzt im Winter blühten nur Hyazinthen und Goldlack auf den Fensterbrettern im Saal. Jeden Morgen öffnete sich eine neue Hyazinthe, und vorher rieten die Mutter und Aurel, welche Farbe sie haben würde.

    „Riech, wie sie duften!"

    Aurel grub die Nasenspitze tief zwischen die schmalen Blätter hinein und schnupperte an der kühlen Dolde.

    „Warum riechen die Blumen so gut?" fragte der Junge.

    „Weil sie nicht sprechen können und doch Gott danken wollen!" sagte die Mutter. Dann summte sie wieder, und beide gingen auf und ab, im rötlichen Schein der schwachen, niedrigen Wintersonne.

    Wenn sich aber die Tür vom Lesezimmer öffnete und der Vater dunkel mit der langen Pfeife auf der Schwelle stand, verstummte die Mutter. Und Aurel wurde zu Mila ins Spielzimmer geschickt.

    Wie bald kam die Dämmerung, und wie lange dauerte es, bis es richtig dunkel wurde! Mila erzählte Zauber- und Gespenstergeschichten von Ungeheuern und unheimlichen Geistern. Von einem Silberschatz, der tief im Moor vergraben lag, und von Wölfen, die ein Kind verschleppten, das dann wild in den Wäldern aufwuchs und ein richtiges Wolfsfell bekam. Dieser Wolfsmensch lief auf vier Beinen und konnte sogar richtig heulen. Marz, der alte Kutscher, hatte ihn einmal gehört, als er nachts durch den Wald fuhr, und seine Frau war am nächsten Tag gestorben. Und Mickel, der Buschwächter, hatte einmal auf ihn angelegt, aber dann war der Schuß in seinen eigenen Daumen gegangen. Denn der Wolfsmensch ist kugelfest, und wer ihn heulen hört, der muß sterben.

    „Aber Marz ist doch gar nicht gestorben?" meinte Aurel.

    „Dafür starb seine Frau, erklärte Mila, „der Wolfsmensch holt sich die Frauen! Und paß auf: auch Marz wird er einmal holen! Der Wolfsmensch ist stärker als alle Menschen, weil er einen Wolfsrachen hat, und schlauer als die Wölfe, weil er ein Menschenhirn hat. Er ist böse, weil die Menschen ihn nicht mehr in ihre warmen Stuben hineinlassen, und er ist hungrig, weil die Wölfe ihm nichts zu fressen geben. Er hat kein Zuhause, gehört nirgends hin, weder zu den Tieren, noch zu den Menschen, und nur wenn ein Mädchen ihm ihr Herz schenkt, kann er erlöst werden. Aber sie muß es ihm freiwillig geben, und noch hat er keins bekommen.

    „Und was macht er mit allen Frauen, die er sich holt?"

    „Er frißt ihre Herzen! Aber davon wird er nicht satt. Denn noch hat ihm keine ihr Herz geschenkt."

    „Und dann läßt er sie liegen?"

    „Nein, er vergräbt sie im Moor. Der alte Jaunsem, der Grabenstecher, hat oft ihre Knochen gefunden. Sie sind weiß wie Zähne, und wenn man sie an der Brust trägt, ist man gegen den Wolfsmenschen geschützt."

    „Hast du einen Knochen?"

    Mila schüttelte den Kopf:

    „Nein, ich habe keinen, sagte sie leise, „und einmal wird der Wolfsmensch auch mich holen!

    Aurel war auf ihren Schoß gesprungen, umklammerte heftig ihren Hals:

    „Nein, das wird er nicht! Dann schieß’ ich ihn tot!"

    Mila lächelte traurig:

    „Und wenn ich ihm mein Herz schenke?"

    Aurel brach in Tränen aus:

    „Das gehört mir!"

    Auch Mila schluchzte:

    „Wirst du mich nie vergessen?"

    Und dann weinten beide, bis Karlomchen mit der Petroleumlampe kam.

    Einmal wachte Aurel mitten in der Nacht auf. Weiße Mondstreifen lagen auf dem Fußboden, aber ein großer schwarzer Schatten fiel schräg über sein Bett. Er fühlte, daß dort jemand am Kopfende stand und ihn ansah, er glaubte sogar den schnaufenden Atem zu hören. Plötzlich wußte er: es war der Wolfsmensch, der gekommen war, ihn zu holen. Er wollte schreien, aber der Mund war ihm zugeschnürt; er wollte aus dem Bett springen, aber alle Glieder waren gelähmt, er konnte sich nicht rühren. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, die Augen zu schließen und sich schlafend zu stellen.

    Eine Ewigkeit lag er so, jeden Herzschlag darauf gefaßt, daß das Ungeheuer sich über ihn stürzen werde. Als er endlich wieder einen Spalt der Augen öffnete, war der Schatten verschwunden. Auch der Mond war weitergewandert bis zum Ofen, der so fremd und entrückt wie ein weißes Gespenst dastand. Der Mond hatte ihn verzaubert.

    Aber Minkas Fell war warm und weich wie immer, und die Hand nach der schnurrenden Katze ausgestreckt, schlief Aurel wieder ein.

    Nein, der Wolfsmensch kam nicht, aber dafür kam ein Bär, ein richtiger brauner Bär mit dickem Zottelpelz, kleinen schwarzen Augen und mächtigen Tatzen. Vom Spielzimmerfenster hatte Aurel ihn kommen sehen, und ein schwarzer, dünner Mann mit einem großen Leierkasten auf dem Buckel stapfte hinter ihm her durch den tiefen Schnee.

    Dann kam der Bär in den Saal, der Mann drehte den Leierkasten, und der Bär mußte tanzen: er richtete sich auf den Hinterbeinen auf und wackelte mit dem Kopf. Es war ein noch junges, unausgewachsenes Tier, wenn er aber so dastand, war er doch größer als Aurel und recht unheimlich, obgleich er einen eisernen Maulkorb hatte.

    Die Mägde, die aus der Gesindestube hereingelaufen waren, standen lachend und kreischend im Kreise herum; die schwarze Tina schob immer die kleine Karlin vor, die sich an der alte Liese festhielt. Auch Marz, Janz, Mikkel und Indrik waren gekommen. Mickel erzählte aufgeregt und wichtig, wie er einmal einen Bären geschossen hatte, der auf ihn losgegangen war; aber das sei ein anderes Tier gewesen, dreimal so groß wie dieses Baby, und dabei griff er mit der Hand in das Nackenfell, zog sie aber gleich wieder zurück, als sich der Rachen mit den weißen Zähnen und der roten Zunge öffnete.

    Mila aber hatte keine Angst und streichelte den zottigen Kopf.

    „Armes Tier, sagte sie, „armes Tier!

    Und auch Aurel befühlte zögernd die rauhen Haare. Wie traurig ihn die kleinen schwarzen Augen über dem eisernen Maulkorb anblickten. Und wie traurig der fremde Mann im dünnen Sommermantel aussah, und wie traurig der Leierkasten klang, obgleich der Bär tanzte und alle rundherum so lustig waren.

    Die Mutter versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Der Vater, der eine Weile von der Schwelle des Lesezimmers zugeschaut hatte, schloß bald wieder die Tür. Karlomchen kramte in der Pelzkiste, bis sie endlich einen abgetragenen Wintermantel fand. Außerdem bekam der Leierkastenmann in der Gesindestube tüchtig zu essen und heißen Kaffee. Auch der Bär wurde gefüttert.

    Aber noch lange roch es im Saal nach Tier und Leuten. Karlomchen mußte alle Fenster öffnen und mit brennenden Wacholderzweigen die säuerliche Luft ausräuchern. Als die Fenster geschlossen waren, sprengte die Mutter Eau de Cologne aus.

    „Was denken sich wohl die armen Oleander, fragte sie, „daß Bären vor ihnen herumtanzen! Aber dies Land ist wohl mehr für Bären geschaffen!

    Endlich kam warmer Wind aus dem Süden, der viele Schnee schmolz, es tropfte vom Dach, und überall auf den Wegen standen große Wasserpfützen. Dann trat bald braune Erde hervor, und man konnte in hohen Galoschen zum „Kleinen Wald wandern. Das war der nahe Wald, gleich hinter der Landstraße, während der weite, der schwarz und endlos sich jenseits der Heuschläge und Moore hinzog, der „Große Wald hieß. Aber zum Großen Wald konnte Aurel noch nicht gehen. Mila führte ihn an der Hand; wenn eine Pfütze kam, griff sie ihn unter die Ellbogen und schwang ihn mit einem Ruck hinüber. Die großen Brüder sprangen von einem Erdhümpel zum anderen. Die Luft flimmerte, der Schmelzschnee glitzerte, in den klaren Wasserlachen spiegelte sich der hellblaue Märzhimmel mit den schnell dahinziehenden Frühlingswolken. Rosigweiß standen die jungen Birkenstämme am schwarzen Waldrande.

    Zwischen den dunklen Fichten lag noch viel Schnee, aber auf einer kleinen Lichtung, um einen Wassertümpel, leuchteten schon saftiggrüne Moospolster, und wenn man sich auf den Bauch darauflegte, konnte man durch ein Loch zwischen dem Wurzelwerk eines vermoderten Baumstumpfes ganz dicht in das blaßgrüne Eiswasser der Grube hineinblicken. Die großen Brüder taten das, sie lagen alle lang ausgestreckt auf dem Bauch und starrten abwechselnd in das geheimnisvolle Loch. Und weil die Großen das taten, legte auch Aurel sich hin und wollte hineinschauen. Dabei schob er sich wohl ein wenig zu weit vor, verlor das Gleichgewicht und stürzte Kopf voran in den Tümpel.

    Keine Luft, kein Licht, keine Sonne; die warme, helle Welt da oben war ausgelöscht, und eine andere, eiskalte und dunkle Welt griff nach seinem Herzen. Verzweifelt strampelten die kleinen Beine, aber der Kopf konnte sich nicht mehr aus dem Eiswasser heben. Die großen Brüder schrien und zerrten ihn an den Füßen, aber die Grube war zu tief und der kleine Bruder zu schwer – sie konnten ihn nicht herausziehen.

    Im letzten Augenblick kam Mila herbeigeeilt, packte die schon schwächer zappelnden Beine und zerrte den Jungen heraus. Die Luft, die Sonne, das Licht waren wieder da, wenn auch der kleine Körper vor Eiseskälte bebte, von Schneewasser triefte. Mit weit von sich gehaltenen Armen und steif gespreizten Beinen wanderte der kleine Mann, verwundert und sehr benommen, neben den großen Brüdern und der verzweifelten Mila heimwärts. Bei jedem Schritt glucksten die wassergefüllten Galoschen.

    Die Mutter erfuhr es erst, als er warm eingepackt in seinem Gitterbett lag. Sie beugte sich tief über ihn und hielt lange seinen Kopf umschlossen. Aber sie sagte kein Wort. Dann drückte sie Mila die Hand und streichelte ihren Rücken. Denn Mila konnte sich nicht beruhigen und machte sich die bittersten Vorwürfe, daß sie den Jungherren auch nur einen Augenblick unbewacht gelassen hatte! Karlomchen brachte heiße Himbeerlimonade.

    Dann schlief der Junge ein.

    Aber die Mutter saß noch lange bei ihm, befühlte seine Stirn, stopfte die Decke zurecht. Und der blaue Schein von Karlomchens Öllampe schwebte immer wieder wie ein guter Schutzgeist in der Dunkelheit, und unermüdlich wanderte ihr Buckel, der wieder zu einem großen Flügelpaar bis zur Decke gewachsen war, an den Wänden entlang. Dann ging die Mutter. Und auch die blaue Öllampe erlosch.

    Nur der späte abnehmende Mond, der über den weiten, dunklen Wäldern aufging, tastete sich durch das Fenster und legte sich auf die weißen Bretterbohlen.

    Der Junge erwachte. Wieder fiel ein schwarzer Schatten schräg über sein Gitterbett. Aber er fürchtete sich nicht. Er wußte: der Wolfsmensch konnte ihn nicht holen. Ruhig wandte er den Kopf auf die andere Seite und blickte auf.

    „Mila?"

    Ja, es war Mila, die dort neben seinem Bett kauerte, den Kopf tief in die Hände vergraben. Aber warum zuckten so ihre Schultern?

    Aurel richtete sich auf. Jetzt stand er, vom Mond beschienen, im weißen Nachthemd da und streckte die Arme nach Mila aus.

    „Du mußt dich hinlegen, du mußt schlafen!" sagte Mila leise, drückte ihn an sich und deckte ihn wieder zu.

    „Mila, der Wolfsmensch kann mich doch nicht holen?" fragte der Junge, schon halb im Schlaf.

    „Nein, das kann er nicht, und wenn er kommt, dann jag’ ich ihn fort!"

    Und wieder war um ihn eine große, weiche Dunkelheit, eine wohlige Wärme und tiefes Geborgensein.

    Aurel schlief ein.

    Der Wolfsmensch

    Und dann wurde es Sommer. Die Störche klapperten in ihrem Nest hoch oben auf dem Ahorn, der am Eingang zur Allee stand; der Faulbeerbaum neben der Schaukelbank am Spielplatz blühte, die verwilderten Cyrenen- und Jasminbüsche am alten Gartenzaun dufteten betäubend, und die Oleander vor den weißen Säulen der Veranda hatten schon zartrosa Knospen angesetzt.

    Schon ganz früh am Morgen drang durch die offenen Fenster ein unermüdliches Kratzen und Scharren ins Haus: Janz harkte mit einem hölzernen Rechen die breite Anfahrt vor dem runden Rasenplatz. Sorgfältig zog er schräge Strichelmuster in den lockeren braunen Grand und wischte behutsam die Spuren seiner nackten großen Füße hinter sich aus. In gemusterten Vierecken, wie Parkett, lag dann der breite Weg in der Morgensonne, schräg durchschnitten vom dunklen Dachschatten, der immer näher ans Haus rückte. Auf dem kurzgeschorenen Rasenplatz glänzten fett und schwarz die frischaufgeworfenen Maulwurfshümpel.

    Aurel mußte sie glatttrampeln, aber er tat es nur zaghaft und sehr vorsichtig, um den Maulwürfen, die vielleicht dicht unter seiner Sohle ahnungslos hockten, nicht weh zu tun. Einmal hatte Janz einen gefangen. Er hielt das schwarze kleine Tier mit dem spitzen Rüssel und den komischen krummen Schaufelpfoten in der Hand und meinte lachend:

    „Man braucht ihm nur einen kleinen Klaps auf die Schnauze zu geben – dann ist er tot!"

    „Und warum willst du ihn totmachen?" fragte Aurel verwundert.

    „Weil er so häßliche Haufen macht", sagte Janz unbekümmert und griff nach dem Rechenstiel.

    Aber Aurel umklammerte den schon zum Schlag erhobenen Rechen, nahm ängstlich, aber doch tapfer das unheimliche schwarze Geschöpf in beide Hände und trug es mit Mila in den kleinen Wald. Wie seidig weich sich das glänzende Fell anfühlte! Und wie schnell sich das Tier in die gelbe, sandige Walderde hineingrub.

    Aurel nahm sich nun vor, alle Maulwürfe zu fangen und in den Wald zu tragen: dort durften sie ja ungestört ihre Haufen machen. Aber so tiefer auch mit den Händen in den aufgeworfenen Erdhümpeln herumwühlte – niemals konnte er einen erwischen.

    „Mein Gott, seufzte die Mutter, „was hast du wieder für Pfoten!

    Und Karlin mußte warmes Wasser und Karlomchen grüne Seife bringen, und die Mutter band sich feierlich eine blaue Schürze vor – war aber gleich so erschöpft, daß sie kraftlos in den Stuhl sank und Mila die erdigen Hände mit einer Bürste schrubben mußte.

    Das Händewaschen machte Aurel Spaß. Er tat es jetzt ganz von selbst. Aber nicht, um die Finger rein zu bekommen, sondern nur, um zu sehen, wie der Seifenschaum, wenn man ihn tüchtig rieb, immer tiefer in die Haut hineinging und schließlich ganz verschwand. Die Hände fühlten sich dann so merkwürdig glatt und seifig an. Und wenn man sie später irgendwo ins Wasser steckte, fingen sie wieder an zu schäumen. Das war ein großes Wunder, mit dem er Adda und Janit, dem kleinen Verwalterssohn, imponieren konnte, wenn sie am Teich mit ihren Segelschiffen spielten.

    Sie hockten auf dem schmalen Brettersteg, der auf einem Holzbock in das von grüner Entengrütze, Schlamm und Schilf verwachsene Wasser ragte. Nur eine kleine Stelle dicht am Steg war klar, und wenn man sich tief bückte und den Arm hineintauchte, konnte man fast den lehmigen Grund berühren. Von hier aus traten die Segelschiffe ihre weiten Weltreisen an, die immer irgendwo in der dicken Entengrütze endeten, so das Janz mit aufgekrempelten Hosen sie aus dem Wasser holen mußte. Hier gab es grüne Frösche, quabblige Kaulquappen, Feuersalamander mit roten Bäuchen, blanke, grünschillernde Wasserkäfer und die unheimlichen schwarzen Blutegel, die Janz sich lachend an die Wade setzte, wenn Aurel es haben wollte. Und hier konnte er das Seifenwunder vorführen:

    „Seht, ich habe kein Stückchen Seife!" Er hielt beide Hände in die Luft, Adda und Janit untersuchten sie ganz genau. Dann tauchte er sie ins Wasser, rieb und rieb sie eifrig aneinander, und langsam fingen sie an zu schäumen!

    Auch Marz, der alte Kutscher, der gerade zum Wasserschöpfen kam, um die Kalesche zu putzen, schüttelte verwundert seinen buschigen Vollbart. Und dann durfte Aurel auf den Bock klettern, die verstaubte Lederschutzdecke auf- und wieder herunterschlagen, die angetrockneten Schmutzspritzer abkratzen, zum gewölbten hochgeklappten Verdeck hinauflangen.

    Aber noch schöner war es drinnen im dunklen Wagenhaus, wo die vielen Equipagen unter weißen Staubdecken standen: das „kleine Kupee, das „große Kupee, der alte „Wasok – eine Art russische Kibitke – Kaleschen, Korbwagen, Jagdwagen und die mächtige, nur mit sechs Pferden zu fahrende „Familien-Droschke, ein Ungetüm aus Urgroßvaters Zeiten.

    Unter den herunterhängenden Decken konnte man überall hineinkriechen; am liebsten setzten sich Aurel und Adda in das „große" Kupee, lehnten sich tief zurück, steckten die Arme in die breiten, mit bunten Glasperlen bestickten Armhänger, lehnten die Köpfe gegen die Schlummerrollen und federten auf dem weichen Polster. An den Fenstern waren dunkelgrüne Seidenrouleaus mit Fransen angebracht, zupfte man an einem Schnürchen, schnellten sie in die Höhe und rollten sich oben auf. Zog man an einer Troddel, klingelte ein helles silbernes Glöckchen oben auf dem Bock. In dieser Kutsche war Großtante Ernestine über Königsberg zur Kur nach Marienbad gefahren! Wie es in allen Ecken nach Mottenpulver, nach altem Parfüm, uraltem Reisestaub roch!

    Und neben dem Wagenhaus war der Pferdestall; ein angenagelter Habicht, von dem nur noch ein paar zerzauste Flügelfedern übrig waren, spreizte sich über der Tür.

    Gleich am Eingang neben der Häckselmaschine stand die große Wassertonne, aus der die Pferde mit gesenkten Köpfen so merkwürdig lautlos tranken. Nur die sammetweichen Nüstern bewegten sich saugend über dem dunklen Wasserspiegel. Da standen die Pferde in den hohen Boxen: Ehra, die Fuchsstute; der dunkelbraune Viererzug: Brauni, Iipsi, Mascha und Mazurka; die beiden Apfelschimmel: Schalk und Scheck; und Hamilkar, der alte blinde Rappe, der nur noch zum Wasserfahren benutzt wurde. Sie mahlten mit den Mäulern, schnaubten, wendeten die langen, schmalen Köpfe – die Ketten klirrten, und dann und wann stampfte ein Huf. Wie Aurel diese schwere, von Pferde-, Zaumzeug- und Hafergeruch gesättigte Luft liebte!

    Die viereckige Düngerluke zum Garten stand offen. Grell und blendend, wie mit einem scharfen Messer herausgeschnitten, lag das Gartenstück im flimmernden Mittagslicht. Über den dichten Stachelbeerbüschen krümmten sich die alten kalkbespritzten Apfelstämme unter ihrer wachsenden Last. Weiße Kohlschmetterlinge schaukelten, Bienen brummten und Spatzen tschiebsten in der brütenden Luft.

    Aurel kletterte durch die Luke über den brodelnd warmen Düngerhaufen zu den Mistbeeten hinunter, zog eine rote Karotte aus der fetten Erde, wischte sie mit ihrem eigenen Blätterstengel ab und biß in die süße, harte Frucht. Die Erdkörner knirschten zwischen den Zähnen.

    Eine dunkle Wolke, hob sich der lärmende Spatzenschwarm aus dem Erbsenspalier und warf sich in den großen Cyrenenbusch am Ziehbrunnen. Knarrend senkte sich die lange Brunnenstange in die Tiefe. Janz schöpfte Wasser.

    „Willst du sehen, wie tief die Erde ist?" rief er lachend über den Zaun.

    Aurel rannte aufgeregt durch die Pforte, und Janz hob ihn an den bemoosten Bohlenrand des dunklen Brunnenschachtes. Mit der anderen Hand stieß er langsam die Stange mit dem Eimer in den Abgrund. Wie unergründlich tief lag dort unten der blaue Himmel.

    „Siehst du, wie tief die Erde ist? Dort hört sie auf, dort ist nur Wasser!"

    Mit einem klatschenden Schlag stieß der Eimer in den Himmel, zerschlug den Spiegel, füllte sich mit Wasser und stieg schwankend und schwappend aufwärts. Dann setzte Janz Eimer und Jungen auf den Rasen.

    „Willst du schmecken, wie kalt das Wasser ist?"

    Aurel beugte sich über den grünbemoosten Holzeimer. Das noch schaukelnde Wasser schlug ihm eisig in das erhitzte Gesicht.

    „Und noch tiefer, erklärte Janz, indem er die große Karaffe füllte, „ist lauter Eis. Die Erde ist eine Eiskugel, die nur oben ein wenig von der Sonne angewärmt wird!

    Da rief Mila von der Küchentreppe, und Aurel mußte zum Mittagessen ins Haus.

    Unter der Erde war kaltes Wasser, Eis und Finsternis. Aber auf der moorigen Wiese, am Rande der Pferdekoppel, brannte die Sonne. Die Luft über den Gräsern, den blauen Glockenblumen, dem gelben Löwenmaul und den roten Kleebällen flimmerte; die Blätter der Ellernbüsche am Stangenzaun hingen schlaff und unbewegt in der drückenden Glut.

    Aurel ging hinter Mila her auf dem schmalen Fußweg, der an der Koppel entlang zum Kirchhof führte. Er hielt einen kleinen bunten Tonkrug in der Hand, und Mila trug eine tiefe Blechkanne am Henkel. Unter ihrem dunkelroten Rock schauten die nackten, von schwarzen Sandalenriemen umwickelten Knöchel hervor.

    Plötzlich blieb sie stehen. Als Aurel aufschaute, sah er im Ellerngestrüpp am Zaun das braune, verschlafene Gesicht von Wannag, dem jungen Pferdeknecht. Wannag schlief immer; auch wenn er die Pferde striegelte oder die Häckselmaschine drehte, tat er dies wie im Schlaf. Gähnend, mit merkwürdig unbewegten Augen stand er da hinter dem Zaun, den nackten großen Fuß auf der wippenden Birkenstange.

    Aurel sollte ein wenig vorauslaufen, und als dann Mila später nachkam, war das weiße Kopftuch ihr tief in den Nacken gerutscht. Ihre Wangen glühten unter den schwarzen, wirr hervorquellenden Haaren.

    „Ist das eine Hitze!" stöhnte sie, indem sie mit hochgehobenen Armen das Kopftuch wieder in Ordnung brachte.

    Langsam stiegen sie den steilen Hang zum Kirchhof hinauf. Aber auch hinter der dichten Tannenhecke, unter den hohen Birken und Kiefern war es drückend heiß. Und nachdem sie einen halben Krug Erdbeeren gepflückt hatten, setzten sie sich auf einen flachen Grabstein, der eingesunken im hohen Grase lag. Etwas abseits, hinter einer Reihe solcher Steinplatten, stand ein weißes Marmorkreuz mit verblaßter Goldschrift neben einem kleinen Hügel. Sonst war der Kirchhof eine Wildnis, in der Fichten, Kiefern, Birken, stämmige Eichen, stachlige Wacholderbüsche, ja sogar weichnadlige Lärchen durcheinanderwuchsen.

    „Liegen die Toten tief in der Erde?" fragte Aurel und steckte sich eine dunkle Erdbeere in den Mund.

    „Ja, tief, sagte Mila, „sehr tief. Die können nie mehr heraus.

    „Im Wasser oder noch tiefer im Eis?"

    „Nein, in der Erde, die ist tief genug", erklärte Mila mit einem abwesenden Gesicht.

    Aurel überlegte: darum begräbt man also die Toten auf einem Berg, damit sie nicht im Wasser liegen müssen.

    „Und warum legt man so schwere Steine auf die Gräber?" fragte er nach einer Weile.

    Mila schwieg. Dann sagte sie leise:

    „Damit die Toten nicht wiederkehren."

    „Aber auf dem Grab dort liegt kein Stein, da steht nur ein Kreuz." Aurel wies auf den kleinen Rasenhügel.

    „Dort liegt dein totes Schwesterchen, sagte Mila ernst. „Und das ist ja auch wiedergekommen, fügte sie nach einer Weile lächelnd hinzu.

    „Und alle anderen dürfen nie wiederkommen?" Aurel sah Mila erschrokken an.

    Sie schüttelte das weiße Kopftuch:

    „Nein, nie."

    Aurel grübelte.

    „Und wer liegt unter diesem Stein?"

    Mila war aufgestanden. Sie gingen an der Gräberreihe entlang, und Mila zeigte auf die einzelnen Steinplatten:

    „Dein Großvater, und dessen Vater, und dessen Vater …"

    „Und die Großmütter?"

    „Die Großfrauen liegen alle neben ihnen, unter demselben Stein. Und hier liegt der General, der gegen die russischen Heiden kämpfte und mit dem schwedischen König bis in die Türkei ritt."

    Aurel blieb stehen:

    „Und warum hebt man nicht den Stein auf, damit er wiederkommen und weiterkämpfen kann?"

    „Weil er genug gekämpft hat, meinte Mila, „und weil genug Blut geflossen ist!

    „Und werde ich auch einmal hier liegen?" forschte Aurel weiter und holte sich wieder eine Erdbeere aus dem Krug.

    „Vielleicht, wenn die großen Brüder dir genug Platz übriglassen", lachte Mila und öffnete die hohe weiße Holzpforte.

    „Und du – dann liegst du doch neben mir, aber wir wollen keinen schweren Stein auf uns haben!"

    „Nein, Mila schüttelte wieder das weiße Kopftuch, „ich darf nicht hier liegen. Dieser Kirchhof ist nur für die Herrschaft, für die Großherren und Großfrauen, nicht für unsereinen. Wir werden auf dem Gemeindefriedhof begraben – da ist es enger, aber man ist auch näher beisammen. Und die Erde ist leicht: kein Stein liegt darauf, nur viele Blumen. Darum kommen wir immer wieder, und darum sind wir mehr als ihr. Ihr werdet immer weniger, und wir werden immer mehr!

    „Dann will ich bei dir unter den Blumen liegen!" erklärte Aurel und griff nach Milas Hand.

    „Das geht nicht, sagte Mila mit einem traurigen Lächeln und schloß die weiße Kirchhofspforte. „Das schickt sich nicht für einen Jungherrn!

    Wieder war die gläserne Wand da: so dick wie eine Kirchhofsmauer und so hoch wie diese hölzerne Pforte. Auch wenn man tot war, konnte man nie hinüber.

    „Hier hast du es ja auch viel schöner, suchte Mila ihn zu trösten. „Unsere Toten liegen so dicht nebeneinander, daß sie sich gar nicht in den Gräbern bewegen können!

    „Und warum liegen sie so dicht beisammen?" fragte Aurel weiter. Sie gingen jetzt auf dem Feldweg, der an der alten Windmühle vorbei zum Hofe führte.

    Mila blieb auf der kleinen Anhöhe neben der Mühle stehen. Die großen grauen Windflügel standen still, ein dunkles Kreuz gegen den hellen Sommerhimmel. Dann sagte Mila ernst:

    „Weil wir so wenig Erde haben!"

    Aurel begriff das nicht: gibt es nicht genug Erde – überall Erde, so weit man sehen kann? Verwundert fragte er:

    „Warum nehmt ihr dann nicht die Erde, die ihr braucht?"

    „Nein, das geht nicht, erklärte Mila, „weil die Erde deinem Vater gehört!

    „Die ganze Erde?"

    „Nicht die ganze, aber so weit du sehen kannst und noch weiter. Und wo die Grenze von Blumbergshof aufhört, da fängt ein anderes Gut an, das einem anderen Herrn gehört. Denn die Erde gehört nur den Herren, wie der Himmel nur Gott gehört. Das ist nun einmal so eingerichtet."

    Aurel hob sich auf den Zehenspitzen, aber das war ihm nicht hoch genug: Mila mußte ihn auf ihre Arme nehmen. Von hier aus konnte er das weite Land übersehen, das im grellen Licht der schon tief geneigten Sonne dalag. Er streckte den kleinen Arm aus und beschrieb einen Bogen durch die Luft:

    „Die ganze Wiese bis zum Wald – gehört die Papa?"

    Mila nickte mit dem Kopf:

    „Ja, das alles gehört dem Großherrn. Und der Wald auch!"

    „Und dort, Aurel wies auf die andere Seite, „alle diese Felder, die Allee und der Krug – gehört das alles ganz allein Papa?

    „Ja, bestätigte Mila, „alle Felder und auch die Heuschläge und Wälder hinter dem Krug – alles gehört dem Großherrn!

    Aurel schwieg überwältigt. Der Vater erschien ihm fast so groß wie der liebe Gott.

    „Und das alles, fuhr Mila fort, indem sie den Jungen wieder auf die Erde setzte, „wird einmal den großen Brüdern und dir gehören!

    „Dann nehm’ ich den Kleinen Wald, erklärte Aurel eifrig, als sie weitergingen, „und bau’ dir ein Haus, und dann haben wir genug Erde, damit wir zusammen begraben werden!

    Auf dem Viehweg, der von der Landstraße zum Hofe führte, kam ihnen die Herde entgegen. Eine rosa Staubwolke, durch die schräge Sonnenstrahlen fielen, zog hinter der Herde her, die jetzt zu den Ställen einbog. Die braunen und schwarzweiß gefleckten Leiber der Kühe schaukelten, die Hörner wiegten sich, eine schwarze Kuh ging an der Spitze.

    „Das bedeutet Unglück! meinte Mila ärgerlich. „Warum läßt der Pakalneek die Schwarze an der Spitze gehen?

    „Was für ein Unglück?" fragte Aurel erschrocken.

    „Irgendeins, sagte Mila und blieb am schrägen Bretterzaun stehen, „Unwetter, Feuerschaden oder Tod!

    Jetzt trappelten die Schafe, dichtgedrängt, eine weiche, wollige Masse, blökend mit langen, schwappenden Ohren vorüber. Pakalneek, der alte Hirt, mit zerrissenem, tief über das Gesicht hängendem Strohhut und bloßen Füßen, schlurfte, eine Rute in der Hand, hintendrein. Aber gleich hatte auch ihn die dicke Staubwolke verschluckt.

    „Und die Kühe und Schafe – gehören auch die alle Papa?" fragte Aurel.

    „Ja, auch alle Kühe und Schafe und alle Pferde und alle Schweine und alle Hühner und Enten und alle Häuser!"

    Sie kamen jetzt am Knechtshaus vorbei, einem roten, kahlen Ziegelsteinbau mit kleinen schwarzen Fensterhöhlen. Vor der Tür, im Staube, wälzten sich halbnackte Kinder in braunen Lumpen. Eine alte Frau humpelte über die Schwelle, bückte sich tief und griff nach Aurels Hand. Er wich ängstlich zurück, aber schon fühlte er den harten, zahnlosen Mund auf der Haut und hörte das unheimliche Zauberwort „Jungherr", das ihn kalt, wie etwas Feindliches, anwehte.

    Aber dann öffnete sich die Gartenpforte, die dichten Johannisbeersträucher und die niedrigen Apfelbäume nahmen ihn schützend auf; von den Blumenrabatten vor der Gartenveranda dufteten Levkojen und Reseda, und oben auf der hölzernen Treppe, neben dem Geländer, stand die Mutter, beugte sich nieder, breitete die Arme aus und drückte den Jungen an ihr Herz.

    Nun war alles wieder gut, alle Fragen, alle dunkle Unruhe verstummt. Die Toten lagen auf dem Kirchhof, aber der Kirchhof war weit. Und die Knechtskinder wälzten sich in dickem Staub – aber das Knechtshaus war tief unten, hinter dem Gartenzaun. Die Welt war wieder schön, und dies hier war die Welt: das Haus mit den weißen Säulen, den blühenden Oleandern, den hohen schlanken Lebensbäumen, die sich, eine grüne Mauer, schützend auf der Gartenseite erhoben. Und alles, alles gehörte Papa.

    Der Vater wurde ihm dadurch noch rätselhafter, noch fremder. Auch wenn er jetzt oft auf der Veranda saß, im Korbstuhl, die lange Pfeife zwischen den Knien, und über den runden Rasenplatz in den dunklen Schlauch der Allee blickte, an deren Ende, unter den tief herunterhängenden Lindenzweigen, der rote Ziegelsteinfleck des Kruges schimmerte. Von hier aus konnte man auch den Wirtschaftsweg übersehen, der hinter einer dünnen Blättergardine junger Laubbäume quer über den Hof führte, so daß jedes Gefährt und jeder, der vorüberging, wie vor einer Linse die runde Einfahrt der Allee überqueren mußte. Und weiter zwischen einigen Lücken dieser „Gardine" schimmerte sogar die alte Landstraße durch, die am Kruge vorbeizog.

    Dies war der Lieblingsplatz des Vaters; von hier aus konnte er beobachten, wer zum Verwalterhaus, wer zu den Ställen, wer zur Klete ging, wer zum Kornmagazin und wer zur Mühle fuhr. Hier sah man den Postboten oder den Fleischer in ihren klappernden Wägelchen vom Krug her durch die Allee zuckeln, die sonst nur von herrschaftlichen Equipagen benutzt werden durfte. Aber der Postbote kam nur zweimal in der Woche und der Fleischer noch seltener, so daß der Weg zwischen den Wagenspuren vergraste.

    Kam ein Knecht oder der Viehpfleger oder der Verwalter an der Alleeöffnung vorbei, so blieb er stehen, zog tief den Hut und ging erst weiter, wenn der Vater den Gruß mit einem Kopfnicken oder einem Wort erwidert hatte. Ja, einmal hatte Aurel sogar gesehen, wie zwei uralte Bäuerchen vor dem Vater auf der Veranda in die Knie gefallen, auf den Knien bis zu ihm gerutscht waren und kniend seine Hand geküßt hatten. Der Vater war wirklich fast wie der liebe Gott und auch wie Gott oft lange unsichtbar. Manchmal war er ganz verschwunden, irgendwo auf den Nachbargütern oder in der Stadt.

    Und dann geschah es, daß an einem heißen Sommertage alle Polstermöbel, Kissen, Matratzen, Heusäcke und Decken auf den runden Rasenplatz wanderten und hier ein ohrenbetäubendes Klopfen begann. Die schwarze Tina, Karlin, Janz, sogar Minna, die alte Waschfrau, liefen aufgeregt hin und her, schüttelten die Matratzen, trugen Lehnstühle, Sofas, Couchetten, klapperten und klopften. Auch Karlomchen und die Mutter griffen zu, schleppten die Pelze, die Jagdmuffen und Fußsäcke aus den Truhen, hingen die Bären- und Elchfelle auf dem Geländer der Veranda auf.

    Die großen Brüder hatten sich gewöhnlich an solchen Tagen rechtzeitig gedrückt und waren irgendwo in die Koppel oder in den Wald verschwunden. Aber Aurel und Adda wälzten sich auf den roten Matratzen, bauten Kaleschen aus den Polsterstühlen und Kissen und schleppen das Schaukelpferd hinaus. Wie sonderbar so ein Sofa, so eine Couchette auf dem Grase aussah – aber das waren dann gar keine Möbel mehr, das waren Ozeandampfer, Eisenbahnen, Karossen. Und der Rasenplatz war die Welt: rund und ohne Grenzen.

    Wie die Mittagssonne schmorte, wie die Luft flimmerte, wie tief im blauen Himmel die weißen Sommerwolken schwammen! Waldi, die alte Jagdhündin, lag mit herausgestreckter Zunge auf der Verandastufe, Sagrei auf dem Rasen, und Schamyl hatte sich unter dem Sofa verkrochen. Sogar die Schmetterlinge flatterten nur träge in der Luft, und zwei waren zusammengewachsen und konnten überhaupt kaum noch fliegen. Sollte man sie nicht auseinandernehmen? Aber die schwarze Tina lachte nur: sie fand das komisch. Und die Mutter sagte ernst: „Laß sie nur, wie sie sind." Das Schmetterlingspärchen taumelte weiter.

    Wie es von der Lindenlaube her duftete und summte! Die dunklen Kronen der uralten Bäume ragten bis über den Giebel des silbergrauen Schindeldaches. Alle waren ins Haus gegangen. Nur Aurel lag noch, versteckt zwischen Sofa und Stühlen, auf einer Matratze und blinzelte mit halb geschlossenen Augen in das flirrende Licht. Und dann schlief er ein.

    Karlomchen weckte ihn. Wie traurig besorgt sie ihn über die schiefgeneigten Brillengläser ansah, und wie sonderbar ihre Stimme klang. Er sollte gleich zur Mutter kommen.

    Auf der Veranda begegnete er der schwarzen Tina. Sie hielt den Klopfer in der Hand und hatte so erschrockene Augen. Im Schlafzimmer war es dunkel und kühl. Die grünen Fenstervorhänge waren zugezogen. Nur ein schmaler Lichtstreifen fiel schräg über den Fußboden bis zum Bett, in dem die Mutter, den Kopf tief in die Kissen gedrückt, lag. Sie zog den Jungen an sich und strich mit der Hand über sein Haar. Dann sprach sie, aber ihre Stimme war so leise, daß Aurel nur das Summen der Fliegen hinter dem Fenstervorhang hörte. Und als endlich die Worte zu ihm drangen, konnte er sie nicht begreifen. Er starrte angestrengt auf seine nackten Beine, die über die Bettkante baumelten. Wenn er den einen Fuß ein wenig vorstreckte, berührte er mit den Zehen den kühlen Nachttisch. Und wenn er den großen Zeh etwas einbog, konnte er mit dem Nagel das glattpolierte Holz kratzen. Nein, er begriff nicht, was die Mutter da sagte, warum Mila jetzt fortgehen, ohne ihn fortgehen sollte.

    „Willst du denn gar nicht bei mir bleiben?" fragte die Mutter traurig.

    „Ich bleibe bei dir und Mila", erklärte er immer wieder.

    „Und wenn Mila fortgeht?"

    „Warum muß Mila fort?"

    Nein, das begriff er nicht. Noch weniger: er verstand überhaupt nicht den Sinn dieser Worte. Mila war ein Stück von ihm wie die Mutter. Konnte man ihn denn entzweischneiden, mittendurch in zwei Teile? Nein, das konnte man nicht. Wenn er hierblieb, dann blieb auch Mila hier. Die Mutter machte nur Spaß. Wie kühl das polierte Holz war, und wie schön der Nagel kratzen konnte, wenn man den großen Zeh zusammenzog.

    Aber dann führte Karlomchen den Jungen ins Spielzimmer, und hier stand Mila, das weiße Kopftuch und das rote, aufgequollene Gesicht, und sie hatte keine Schürze um, und statt der Sandalen trug sie richtige Stiefel. Sie sah so fremd aus, nur das Kopftuch war wie immer ein wenig auf die Seite gerutscht, aber jetzt fing es plötzlich an so merkwürdig zu zucken, beugte sich nieder – und dann sah Aurel nichts mehr. Er fühlte nur, wie etwas Heißes, Bebendes aufstieg, wie etwas Furchtbares, Unbegreifliches ihn schüttelte, die Kehle zusammenschnürte und endlich brennend wie fließendes Feuer in die Augen stürzte.

    Aber begriffen hatte er es noch immer nicht, auch nicht, als die Tür sich schloß, als er allein da stand, als Karlomchen kam und ihn schlafen legte. Er ließ alles ruhig mit sich geschehen. Die schwarze Tina wusch ihn, sie sollte diese Nacht bei ihm schlafen. Karlomchen brachte das Abendbrot, aber essen konnte er nicht. Dann betete sie wie immer mit ihm, auch die Mutter kam noch zum Gutenachtkuß. Minka sprang zwischen den Gitterstäben ins Bett, der Junge schlief ein.

    Mitten in der Nacht wachte er auf. Es war so merkwürdig dämmerhell im Zimmer, wie gedämpftes Mondlicht, nicht Tag, nicht Nacht. Alle Dinge konnte man sehen, aber alle Dinge waren hinter einem Schleier: der weiße Kachelofen, der Strohstuhl, Milas Bett. Aurel richtete den Kopf auf und starrte hinüber.

    „Mila!" rief er.

    Aber keine Antwort kam, nur ein gleichmäßiges, tiefes Atmen. Er mußte zu ihr, er mußte sie wecken, er mußte sehen, daß alles ein böser Traum war, daß sie dalag und daß sie immer bei ihm bleiben würde.

    Leise erhob er sich aus der warmen Decke, kletterte vorsichtig über das Gitter, trippelte mit den bloßen Füßen über die kühlen Bohlenbretter und blieb vor Milas Bett stehen. Aber da war keine Mila. Ein fremder, im Schlaf zerwühlter Kopf lag dort auf dem Kissen mit offenem Mund.

    Aurel erstarrte. Lange stand er da wie gelähmt. Dann hatte er es begriffen: Mila war fort, und er war hier ohne Mila. Er wollte schreien, aber die Kehle war ihm zugeschnürt. Irgend etwas würgte seinen Hals. Nur mühsam konnte er den Kopf wenden wie damals, als der Schatten des Wolfsmenschen auf sein Bett fiel. Und plötzlich wußte er: der Wolfsmensch hatte Mila geholt. Und jetzt wollte er ihr Herz fressen. Er mußte zu ihr, er mußte sie retten, jetzt gleich, bevor es zu spät war. Er brauchte ja nur durch den Garten zu laufen, da wußte er unten ein Loch im Zaun, und dann über den Heuschlag, immer am Graben entlang, bis zum Großen Walde – wenn er dann rief, würde Mila ihn hören. Noch konnte der Wolfsmensch sie ja nicht weit fortgeschleppt haben. Aber er mußte sich beeilen.

    Leise kletterte Aurel auf den Strohstuhl und von dort auf das Fensterbrett. Jetzt saß er im Nachthemd auf dem harten Holz, hielt sich am Fensterhaken und tastete mit den nackten Beinen in die Tiefe. Wie kühl und feucht die Blätter des wilden Weines waren, der die Gartenseite des Hauses berankte. Und wie schwarz und schmal sich die Lebensbäume gegen den blaßgrünen Himmel abhoben.

    Vom Heuschlag stiegen weiße Nebel auf, und dahinter am Horizont zog sich ein langer roter Streifen über den schwarzen Wald. Eine Schnarrwachtel knarrte.

    Dorthin mußte er; wenn er den Fensterhaken losließ, kam er schon hinunter – tief konnte es ja nicht sein …

    „Aber Aurel!"

    Er fühlte sich von hinten umschlungen – Karlomchen hielt ihn und zog ihn ins Zimmer zurück. Dann lag er schluchzend im Bett.

    Die weiche, warme Dämmerung war hart und kalt geworden, die tiefe Geborgenheit war zerrissen.

    Vom offenen Fenster wehte kühl ein erstes schmerzliches Verlorensein.

    Das rote Bänkchen

    Fömarie heißt eigentlich Fräulein Marie, aber das ist zu lang, Aurel kann das Wort „Fräulein nicht aussprechen. Fömarie hat eine turmhohe Frisur mit Knotenzopf und unzähligen Spangen, runde, wasserhelle, immer erschrockene Augen und furchtbar viel Röcke, die man alle sehen kann, wenn sie in der Allee spazierengeht. Denn dann rafft sie die Röcke mit einem „Pagen, einem schwarzen Gummiband, hoch, weil draußen doch Pfützen sein könnten:

    „Aurel, paß auf, da kommt eine Pfütze!"

    Und Fömarie macht mit hochgerafften Röcken einen gewaltigen Sprung.

    Ebenso fürchtete sie sich vor Fröschen, Kröten, Donner, Mäusen und Zugwind.

    „Mein Gott, es hat geraschelt, sagt sie mitten in der Nacht und macht Licht. Oder: „Es donnert! – und hält sich beide Ohren zu. Oder: „Es zieht! – und schließt alle Fenster. Wenn Fömarie ausgeht, steckt sie sich und Aurel immer Wattepfropfen ins Ohr. Und dann wandern sie in der Allee: immer bis zum Krug und wieder zurück. Manchmal auch die „kleine Runde: auf der Landstraße ein Stück und dann auf den Wirtschaftsweg heimwärts. Alles richtet sich nach dem Wind, und wenn man trotz aller Berechnungen den Wind ins Gesicht bekommt, darf man nicht sprechen und muß die Hand vor den Mund halten.

    Aber Aurel kann die Wattepfropfen nicht leiden: er zieht sie heimlich aus den Ohren heraus.

    „Mein Gott, wo sind deine Wattepfropfen?"

    „Herausgefallen."

    „Wo herausgefallen?"

    „Das weiß ich nicht. Vielleicht auch hereingerutscht."

    „Mein Gott, hereingerutscht! Wie ist das denn möglich? Laß mal sehen!"

    Aurel hält das Ohr hin und macht ein sehr nachdenkliches Gesicht:

    „Vielleicht ganz tief hereingerutscht!"

    „Mein Gott, ganz tief! Ich sage dir doch immer, du sollst dich gradehalten. Bei mir sind sie noch nie hereingerutscht oder herausgefallen. Schnell nach Hause. Bei dem Wind ohne Watte. Du kannst dir den Tod holen!"

    Zu Hause muß Aurel auf alle Fälle immer gurgeln: wenn er hustet, wenn er niest, wenn er mit nassen Füßen nach Hause kommt.

    Außerdem hat Fömarie noch eine Leidenschaft: die Köpfe der Kinder zu waschen. Auch die großen Brüder müssen dran glauben. Jeden Samstag schleppt die schwarze Tina unzählige Eimer heißes Wasser in die Backstube, Karlomchen bringt grüne Seife, die sich wie kalter quabbliger Froschlaich anfühlt, Fömarie bindet sich eine Küchenschürze vor und krempelt die Ärmel hoch. Nachher müssen die Kinder vor dem großen Backofen sitzen, und Tina, Karlin, die alte Minna und Fömarie bearbeiten abwechselnd die Haare mit Tüchern und Händen. Dann bringt Karlomchen zur Belohnung heiße Himbeerlimonade, aber die großen Brüder sind so beleidigt, daß sie nichts trinken. Sie hocken finster da, Bal, Rei und Tof (auch die Namen Balthasar, Reinhard und Christof sind für Aurel zu lang) und brüten Rachepläne aus. Einmal haben sie Fömarie einen Frosch ins Bett gelegt. Ein anderes Mal Brausepulver in den Nachttopf geschüttet. Beide Male erschrak Fömarie zu Tode:

    „Mein Gott, ein Frosch! Mein Gott, wie das kocht! Habe ich Fieber?"

    Aurel, der jetzt oben bei Fömarie schlief, mußte sich den Zipfel des Kissens in den Mund stecken und die Decke über das Gesicht ziehen, um nicht herauszuplatzen. Die großen Brüder imponierten ihm sehr. Auch wenn sie bei Acka einen ganzen Sonntagvormittag nachsitzen mußten.

    Acka war Herr Ackermann, der stille, kränkliche, immer freundliche Hauslehrer, der fast den ganzen Tag in einem dicken Schlafrock in seinem Zimmer saß, das „Afrika" hieß, weil der Kamin von der Küche dort durchging. Nur zu den Stunden wanderte er ins Schulzimmer hinüber, wo die Brüder an schrägen Pulten unterrichtet wurden.

    In den Pausen tobten sie im „Großen Korridor", der eigentlich ein gewaltiger Saal mit tiefen Fensternischen war. Hier hing an zwei Stricken eine Stange, auf der man so hoch schaukeln konnte, daß die Fußspitzen die Dekke berührten; aber nur Bal und Rei kamen so hoch, Tofs und Aurels Beine waren noch zu kurz. Dann standen da zwei Barren, eine große Mehlkiste mit abschüssigem Deckel, auf dem man herrlich hinunterrutschen konnte, die Pelztruhe, die immer nach Mottenpulver roch, ein altes Sofa mit schwarzrot gemustertem, zerschlissenem Polster. Schränke, Kommoden, drei kleine Kinderschlitten auf eisernen Kufen mit bunten, zerkratzten Bildern auf dem schrägen Schutzblech; auch im Sommer konnte man mit diesen Schlitten auf dem Bretterboden herumrutschen, wenn man mit den Hacken nachhalf.

    Und dann gab es zwischen den tiefen Fensternischen schmale, schräg abgedachte Rumpelkammern, die von zerbrochenen Möbeln, Geschirr, Kisten und rätselhaftem Gerümpel angefüllt waren. Diese Dachkammern hießen „Tschulanchen", und wenn man hineinkroch, erstickte man fast in der dikken, staubigen, glühend heißen Luft. Aber man konnte sich hier gut verstekken, wenn Fömarie rief und Aurel und Adda lieber mit Puppen spielen wollten als mit wattierten Ohren über die Pfützen springen.

    Außer der staubigen Rumpelkammer gab es für Aurel noch einen Zufluchtsort; das war „Afrika, das war „Acka. Afrika und Herr Ackermann waren für ihn ein Begriff, und dieser Begriff war mit Wärme, Petroleumlampe und Schlafrock verbunden. Bei Acka durfte Aurel Bilderbücher besehen, bei Acka durfte er selbst Bilder kritzeln. Er saß Herrn Ackermann gegenüber, und die weiße Alabasterlampe stand zwischen ihnen. Fast so weiß wie die Lampe sah Ackas Gesicht aus, dieses immer freundlich lächelnde und doch traurige, nach innen gekehrte Gesicht mit der leisen Stimme.

    Aurel zeichnete Häuser, Bäume, Kühe und darüber immer eine runde Sonne mit langen, geraden Strahlen. Und dann schenkte er Acka das Bild, der sich besonders über die Sonne freute.

    „Die Sonne muß immer drauf sein, erklärte der Junge, „sonst erfrieren die Bäume und Kühe!

    „Und auch die Menschen!" meinte Herr Ackermann fröstelnd.

    Aurel schüttelte den blonden Kopf:

    „Die haben doch Öfen! Oder einen Schlafrock! Oder auch einen Pelz! Die Bäume und Tiere haben nichts!"

    „Aber die Sonne ist wärmer!"

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