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Der Violinkönig
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eBook289 Seiten3 Stunden

Der Violinkönig

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Über dieses E-Book

Im Jahre 1852 startet der norwegische Geiger Ole Bull einen utopischen Versuch: Er möchte in Pennsylvania ein neues Norwegen gründen, um seinen Landsleuten, die in schwierigen politischen und ökonomischen Bedingungen leben, eine freie Heimat zu geben.

Ole Bull war, nach Niccolo Paganini, zu seiner Zeit der bekannteste Geigenvirtuose. Er trat in allen europäischen Ländern auf, improvisierte auf seinem Instrument zu klassischen und folkloristischen Melodien, hatte stets ausverkaufte Häuser. Er war so berühmt, dass das Wasser von seinem Sonntagsbad auf Fläschchen gezogen und an Verehrerinnen verkauft wurde. Zusammen mit Ibsen versuchte er, in Bergen ein Nationaltheater zu gründen, um norwegischen Künstlern und norwegischer Musiktradition zum Durchbruch zu helfen. Noch immer stand Norwegen im Schatten der übermächtigen Schweden und Dänen. (Ibsen hat später in seinem Peer Gynt einiges von der realen Figur Ole Bulls übernommen.) Dieses Projekt ließ sich im ersten Jahr gut an, wurde dann aber vom Staat nicht finanziell unterstützt. Zu dieser Zeit überlegte Bull, ob nicht die Vereinigten Staaten eine viel bessere Ausgangsbasis für seine Unternehmungen sein könne. Eine erste Tournee, zehn Jahre zuvor, war ein überwältigender Erfolg gewesen. Also ließ er ein sehr großes Areal aufkaufen, annoncierte sein "Oleana" in norwegischen Zeitungen und die ersten Siedler trafen ein, um aus dem "Urwald" eine norwegische Siedlung zu machen. Es sollten insgesamt vier Städte entstehen mit Gemeinschaftszentrum, Kirche, Gemeindewiese und Blockhäusern, wie es sie in Norwegen gab.

Der Versuch scheitert kläglich. Schon anderthalb Jahre später bricht das ganze Unternehmen zusammen. Die Fahnen werden eingerollt, die Siedler ziehen enttäuscht weiter, einige haben noch genügend Geld, um nach Norwegen zurückzukehren
SpracheDeutsch
Herausgeber110th
Erscheinungsdatum19. Mai 2015
ISBN9783958657120
Der Violinkönig

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    Buchvorschau

    Der Violinkönig - Jürgen Alberts

    werden.

    Kurzinhalt

    Im Jahre 1852 startet der norwegische Geiger Ole Bull einen utopischen Versuch: Er möchte in Pennsylvania ein neues Norwegen gründen, um seinen Landsleuten, die in schwierigen politischen und ökonomischen Bedingungen leben, eine freie Heimat zu geben.

    Ole Bull war, nach Niccolo Paganini, zu seiner Zeit der bekannteste Geigenvirtuose. Er trat in allen europäischen Ländern auf, improvisierte auf seinem Instrument zu klassischen und folkloristischen Melodien, hatte stets ausverkaufte Häuser. Er war so berühmt, dass das Wasser von seinem Sonntagsbad auf Fläschchen gezogen und an Verehrerinnen verkauft wurde. Zusammen mit Ibsen versuchte er, in Bergen ein Nationaltheater zu gründen, um norwegischen Künstlern und norwegischer Musiktradition zum Durchbruch zu helfen. Noch immer stand Norwegen im Schatten der übermächtigen Schweden und Dänen. (Ibsen hat später in seinem Peer Gynt einiges von der realen Figur Ole Bulls übernommen.) Dieses Projekt ließ sich im ersten Jahr gut an, wurde dann aber vom Staat nicht finanziell unterstützt. Zu dieser Zeit überlegte Bull, ob nicht die Vereinigten Staaten eine viel bessere Ausgangsbasis für seine Unternehmungen sein könne. Eine erste Tournee, zehn Jahre zuvor, war ein überwältigender Erfolg gewesen. Also ließ er ein sehr großes Areal aufkaufen, annoncierte sein Oleana in norwegischen Zeitungen und die ersten Siedler trafen ein, um aus dem Urwald eine norwegische Siedlung zu machen. Es sollten insgesamt vier Städte entstehen mit Gemeinschaftszentrum, Kirche, Gemeindewiese und Blockhäusern, wie es sie in Norwegen gab.

    Der Versuch scheitert kläglich. Schon anderthalb Jahre später bricht das ganze Unternehmen zusammen. Die Fahnen werden eingerollt, die Siedler ziehen enttäuscht weiter, einige haben noch genügend Geld, um nach Norwegen zurückzukehren

    Der Autor

    Jürgen Alberts studierte nach dem Abitur (1966) in Tübingen und Bremen Germanistik, Politik und Geschichte und promovierte 1973 am Fachbereich Kommunikation und Ästhetik der Bremer Universität zum Thema Massenpresse als Ideologiefabrik am Beispiel BILD.

    Er arbeitete als freier Mitarbeiter für den WDR und das ZDF und lebt heute als Schriftsteller in Bremen. Er schrieb Drehbücher, Hörspiele und 1969 den Roman NOKASCH U.A. sowie 1980 DIE ZWEI LEBEN DER MARIA BEHRENS, bevor er sich auch mit Kriminalgeschichten zu beschäftigen begann.

    Gemeinsam mit Fritz Nutzke (Pseudonym für Sven Kuntze) veröffentlichte er 1984 den mit Science-Fiction Elementen durchsetzten Kriminalthriller DIE GEHIRNSTATION und ein Jahr darauf als Alleinautor die Fortsetzung DIE ENTDECKUNG DER GEHIRNSTATION.

    Nach dem Roman TOD IN DER ALGARVE (gemeinsam mit Marita Kipping) schrieb Alberts den Polizeiroman DAS KAMERADENSCHWEIN, in dem es um den Fall eines Bremer Kommissars geht, der sich gegen die Weisungen seiner Kollegen als Nestbeschmutzer betätigt, weil er hartnäckig in einem Fall von Polizeigewalt gegen einen Verdächtigen ermittelt.

    In seinen weiteren Romanen DER SPITZEL, DIE CHOP-SUEY-GANG und DIE FALLE befasste sich Alberts in den darauffolgenden Jahren immer eingehender mit dem Innenleben der Bremer Polizei und ihrer Führung, bis schließlich mit KRIMINELLE VEREINIGUNG 1996 der zehnte Roman der später so bezeichneten Serie Bremen Polizei vorlag.

    1987 veröffentlichte Alberts den semi-dokumentarischen Roman LANDRU, in dem es um mögliche politische Hintergründe zum Fall des französischen Frauenmörders Henri Desire Landru (1869 - 1922) geht, der zu Beginn dieses Jahrhunderts wegen Mordes an zehn Frauen verurteilt und hingerichtet wurde.

    1988 erschien Jürgen Alberts' Kriminalroman ENTFÜHRT IN DER TOSKANA, den er gemeinsam mit Marita Alberts schrieb, ebenfalls mit seiner Frau schrieb er den Griechenland-Krimi GESTRANDET AUF PATROS.

    Von 1990 bis 1991 und von 2001 bis 2005 war Jürgen Alberts einer der Sprecher der Autorengruppe deutsche Kriminalliteratur DAS SYNDIKAT

    Preise:

    1988 Glauser - Autorenpreis deutsche Kriminalliteratur für Landru

    1990 CIVIS-Preis des WDR und der Freudenbergstiftung für Eingemauert

    1994 Deutscher Krimi Preis für Tod eines Sesselfurzers

    1997 Marlowe Preis der Deutschen Raymond Chandler-Gesellschaft für Der große Schlaf des J.B. Cool

    I had a very pleasant little party-kin last night

    at Cambridge at Longfellow's, where there

    was a mad-cap fiddler, Ole Bull, who

    played most wonderfully on his instrument,

    and charmed me still more by his oddities and

    character. Quite a figure for a book.

    William Makepeace Thackeray

    Weil du zum Ruhm für unser Land wurdest - so wie kein anderer,

    weil du unser Volk mit dir zu den Höhen der Kunst erhobst,

    weil du ein Vorkämpfer für unsere nationale Musik wurdest;

    treu, warmherzig, herzerobernd - so wie kein anderer,

    weil du eine Saat gesät hast, die in Zukunft keimen wird,

    und wofür kommende Geschlechter dich segnen werden.

    Mit tausend und aber tausend Dank für alles dies

    lege ich im Namen der norwegischen Tonkunst

    diesen Lorbeerkranz auf deinen Sarg nieder.

    Friede sei mit dir!

    Eduard Grieg

    Inhaltsverzeichnis

    Präludium

    1. Molto presto

    2. Allegro con fuoco

    3. Andante vivace

    4. Allegretto

    5. Furioso

    6. C-Dur

    7. Andantino

    8. Allegro giusto

    9. Adagio passionato

    10. Burlando

    11. Scherzo magnifico

    12. G-Dur

    13. Avvivando

    14. Erstes Intermezzo

    15. Accelerando

    16. Squillando

    17. Frettando

    18. D-Dur

    19. Rivoltato

    20. Ritmico

    21. Raccontando

    22. Saldo ma scordato

    23. Festivo

    24 .d-Moll

    25. Sognand

    26. Allegro maestoso

    27. Zweites Intermezzo

    28. Inquieto

    29. Fiasco sforzato

    3o. a-Moll

    31. Fiacco

    32. Ritorno al primo tempo

    33. e-Moll/E-Dur

    34. Postludium / Da capo al fine

    Glossar

    Lebensdaten von Ole Bull

    Danksagung

    Präludium

    Casamicciola, Sommer 1867. Mit leichtem Kopf verließ Henrik Ibsen die Villa Pisani, in der er sich und seine Familie einquartiert hatte. Er pfiff ein Liedchen, einem neapolitanischen Gassenhauer ganz verwandt. Was für ein Fund, welche Kraft! Die nächtliche Lektüre der Norske Eventyr og Folkesagn, vom Teufelsritt auf einem Rentierschädel, fulminant. Hoch über den Fjorden der Jäger Gudbrand Glesne, der glaubt, den enormen Bock mit einem einzigen Schuss erlegt zu haben. Und gerade als er sein Messer zieht, den Halswirbel zu durchtrennen, richtet das Tier sich auf und springt davon - seinen Widersacher zwischen den Hörnern. Ein wilder Ritt hinauf im Sturmgebraus, über Gletscher und Moränen, hinab in grüne Schluchten. Gudbrand glaubt, Sonne und Mond niemals mehr erblicken zu dürfen. Wüste Flüche, Stoßgebete. Da stürzt sich das Rentier ins Wasser, reißende Fluten, und trägt den Jäger hinüber. Als sie am Ufer angekommen, packt Gudbrand beherzt das Messer und heftet es dem Tier in den Nacken.

    Ibsen stoppte vor dem Eingang des Hotels Bristol Palace.

    Erstarrte.

    Das war doch Vilhelm Bergsøe.

    Was verschlug den auf Ischia?

    »Sind Sie das, Ibsen?«

    »Hab' Ihren neuen Roman gelesen, Bergsøe, handelt von Gegenwärtigem. So etwas müssen wir jetzt schreiben. Schluss mit dem romantischen Gefasel!«

    »Ach, Sie kennen den Verriss schon?«, fragte Bergsøe, »der wird meinem Buch Schaden zufügen, ganz gewiss. Clemens Petersen hat meinen Roman in Grund und Boden verdammt.«

    »Unsinn, niemals«, Ibsen wurde heftig, »wenn einem so ein langer und bösartiger Verriss ins Haus kommt, wird das Widersacher aufbringen und Aufmerksamkeit erheischen. In welchem Lokal verkehren Sie für gewöhnlich?«

    »Ich bin ziemlich mickrig im Moment und bleibe lieber im Hotel und trinke Tee.«

    »So werden Sie nie gesund, Bergsøe. Auf diese Weise wird man nur ein ganz gewöhnlicher Misanthrop. Lassen Sie uns zum Buffalo gehen, ein paar Gläser rosso darauf trinken, dass wir eines Tages diese Petersens bei weitem überflügeln werden.«

    So gingen die beiden Dichter, Seite an Seite.

    Der kleine, etwas staksige Henrik Ibsen, mit schwarzem Haar und schwarzem Backenbart, funkelndem Blick, angetan mit einer Seemannsjoppe und einem gestickten römischen Schal. Und der hoch aufgeschossene Vilhelm Bergsøe in feinem englischen Cut, mit weiß-silbrigem Plastron, Spazierstock und graufarbenem Zylinder.

    »Wann kehren Sie zurück, Herr Ibsen, wenn Sie mir diese Frage gestatten?«

    »Nach Christiana? So bald nicht. Ich finde in Italien, was ich zum Schreiben brauche. Widerständiges, starke Gerüche, aufmüpfige Gedanken.«

    Das Buffalo war um diese Uhrzeit noch nicht sehr frequentiert. Sie bestellten ein foglietto vino rosso. Zwei müde Kellner wuschen Gläser, ein Hund räkelte sich in der ersten Sonne.

    »Sind wir auf Ischia vor Erdbeben sicher?«, fragte Bergsøe und hüstelte ein wenig.

    »Ich bräuchte ein Erdbeben, damit ich endlich zu schreiben beginne. Die ganze Nacht hab' ich in Asbjørnsens Abenteuersagen gelesen. Stoffe voller Kraft. Schon vom Jäger Gudbrand Glesne gehört, den ein Rentier aufs Horn nahm? Oder von diesem Peer Gynt aus Kvam, der dem großen Krummen widersteht, die Trolle austreibt und eigenhändig den Bären fällt? Prosit!«

    »Kein Heimweh in den Norden, Herr Ibsen. Selbst nicht nach solcher Lektüre?«

    Ibsen leerte sein Glas in einem Zug, bevor er antwortete. Rotwein hatte auch am Morgen schon belebende Wirkung.

    »Diese unbeschreibliche Langeweile dort, das sorgsam Bescheidene, die wütige Tüchtigkeit der Spießer. Nein, Bergsee, das lass' ich hinter mir. Es ist das Verdammte an unseren kleinen Verhältnissen, dass sie die Seelen so klein machen. So verzagt, in sich gekehrt, frömmelnd.« Er blinzelte zu seinem Kollegen hinüber, dem diese Worte nicht zu behagen schienen.

    »Die Hohlheit hinter all den selbstfabrizierten Lügen, unser sogenanntes öffentliches Leben, die jämmerliche Phrasendrescherei, selbstzufrieden, Lauheit des Blutes, musterhafte Einförmigkeit und dazu noch einen Korporal als König...« Neuerlich hielt Ibsen inne, wartete auf eine heftige Replik. Bergsøe blieb aufgeregt, stumm.

    »Um Worte sind die unseren nie verlegen, reden gerne über große Sachen, aber wenn's ans Handeln geht, nichts. Nur Schlaffheiten, Brei, als flösse Sirup in ihren Adern. Unserem Norwegen fehlt ein Aufstand, es fehlt die große Unruhe ob all der Lügen und Ungerechtigkeiten... Ich dagegen fühle mich wie ein junger Hengst. Wenn ich bloß mit dem Schreiben beginnen könnte.«

    Dann kam die Rede auf Freunde und Feinde, Pastoren und Pack, Gönner und Neider. Der Sogne-Fjord im Abendlicht. Bergen, die Stadt im Zauber. Der Blick vom Fløyen über Hafen und Markt. Ibsen erzählte von Arne, den sein Dichterfreund Bjørnsjerne Bjørnson als naiv romantischen Helden herausgeputzt hatte.

    »Einmal geht Arne zum Pfarrer und sagt, er wolle heiraten. Und zwar die Witwe Elly. Aber die ist doch schon siebzig, ruft der Pfarrer entsetzt. Gleichwohl, erwidert Arne gelassen, sie besitzt eine Kuh!« Bergsøe kannte die Geschichte, aber ließ sich nichts anmerken. Er hatte schon davon gehört, dass Ibsen spätestens nach dem dritten Glas Wein diese »wahre Geschichte« zum Besten gab. Mit jedem Schluck kam Norwegen näher.

    Ibsens Lehrjahre am Bergener Theater, er war zu arm, um zu heiraten, seine häufigen Anfragen an das Storting nach einem Stipendium für Schriftsteller, die Rückschlage bei seinen jährlichen Stücken, das erste Ensemble, mit dem er bei seinen Inszenierungen arbeiten mußte.

    Ibsen sagte hochvergnügt: »Jeder, der eine Note singen konnte, trat an die Rampe. Ein Stotterer wollte ein Gedicht aufsagen, ein Greis den klassischen Liebhaber geben und eine Scharteke unbedingt die strahlende Geliebte spielen. Wir kamen aus dem Gelächter nicht mehr heraus. Auch die alte Tante von Lorentz Dietrichson bewarb sich und wurde prompt akzeptiert, obwohl ihr ein Vorderzahn fehlte und sie nur Zischlaute hervorbringen konnte. Die Direktion war jedoch großzügig und spendierte ihr einen künstlichen Zahn. Doch als ihr Engagement zu Ende war, musste sie ihn wieder hergeben.«

    »Da war Ole eisern«, lallte Bergsøe, der bereits erheblich über sein Maß getrunken hatte. »Er warf stets mit dem Geld um sich, aber wenn etwas einzusparen war...«

    In diesem Augenblick tauchte ein Bild vor Ibsen auf: Ole, sein Gönner, Ole Bull, der Aufschneider, Lügenbaron, der Geiger, der Violinkönig Ole Bull. War der nicht dem sagenhaften Peer Gynt verwandt? Dem Fabelhans und Lügenschmied, von dem er letzte Nacht gelesen hatte. Der eine braucht Branntwein, der andere braucht Lügen.

    Vilhelm Bergsøe ließ seinen Kopf auf die Brust fallen und schlief unversehens ein. Ein leichtes Schnarchen war zu vernehmen. Henrik Ibsen erhob sich, nur wenig schwankend. Bull und Gynt, Modell und Fabel, Geschichtenerzähler und Garnspinner, Peer und Ole.

    Beginnen müsste es damit, dass Peer seiner Mutter erzählt, wie er auf dem mächtigen Rentierbock geritten ist, hinauf und hinab, in wildem Ritt über Gletscher und durch die Fluten des reißenden Bergbaches...

    »Sie müssen zahlen, Signore Ibsen. Er kann es nicht.«

    Abwesend klaubte Ibsen ein paar Münzen aus der Hosentasche und gab sie dem Kellner, der sich mit einem tiefen Bückling verabschiedete.

    »Bis morgen, Signore Ibsen!«

    Er warf dem schnurgelnden Bergsøe einen letzten Blick zu, dann eilte er davon.

    Noch bevor er die Villa Pisani erreicht hatte, fiel ihm der erste Satz für die erste Szene ein: »Peer, du lügst!«

    1. Molto presto

    Fru Grevle stemmte sich von innen gegen die Haustür, presste ihren schmächtigen Körper mit aller Kraft gegen das Holz, zog mit der rechten Hand einen Stuhl herbei und klemmte die Lehne unter die Türklinke. Sie hasste diese nächtlichen Belästigungen, immerhin war es bereits zwei Uhr in der Früh und vor ihrem Haus standen ein paar tausend Bergener Bürger, die keine Anstalten machten abzuziehen.

    Verrückte, tullingene, Holzköpfe, treskallene.

    Sie schimpfte, fluchte vor sich hin, stieß bittere Verwünschungen aus, übertönt von den wilden Schreien, die von draußen hereinschallten. Fru Grevle richtete ihren Blick nach oben, hinauf zum ersten Stock.

    Eine Fensterscheibe klirrte. Hoffentlich im Nebenhaus, dachte sie.

    Es gab nur einen Menschen in ihrer Heimatstadt, der eine derartige Anziehungskraft besaß, und der musste ausgerechnet bei ihr zur Untermiete wohnen. Hätte sie das alles zuvor gewusst, als er ihr seine Aufwartung machte und für ein paar Wochen um Logis nachsuchte. Ihm ging ein gewisser Ruf voraus, das schon, aber dieses Durcheinander. Nacht für Nacht. Diese wilde Toberei. Und dann auch noch das Gerede am nächsten Morgen. Die spöttelnden Nachbarn, die ihre Zunge nicht im Zaum halten konnten. Die bösen Blicke, die gierigen Schandmäuler. Waren doch bloß neidisch auf sie und ihren illustren Gast. Jeder von denen hätte ihn gerne bei sich aufgenommen, jeder, da war sie sich ganz sicher, und auch ohne je eine Bezahlung dafür anzunehmen.

    Zugleich liebte Fru Grevle diesen Untermieter über alle Maßen. Wie man im Leben nur einmal einen einzigen Menschen lieben konnte. Sie war seinem Anblick verfallen. Hoch aufgeschossen, breitschultrig, feingliedrige Hände. Das Blau seiner Augen hatte sie zu immer neuen Vergleichen herausgefordert: saphirblau, eisvogelblau, sphärenblau. Sie konnte sich nicht entscheiden. Als sei er einem Gemälde von Tidemand oder Gude entsprungen. Nach wenigen Stunden Schlaf stand er auf, nahm hastig im Stehen sein Frühstück und machte ihr einige schamlose Komplimente. Fru Grevle zählte bereits über 6o Jahre. Wenn sie ihm die Haare wusch, bevor er zu seinem abendlichen Auftritt eilte, drückte er ihr jedes Mal als Dank einen zaghaften Kuss auf den Mund. Immerhin war es ihr in den letzten Wochen gelungen, die kreischenden Frauen abzuweisen, die an der Türe forderten, sein Badewasser geschenkt zu bekommen. Manche von ihnen hatten Flaschen, Vasen und Kochtöpfe für diesen Zweck mit-gebracht. Er erzählte ihr von seinen Reisen in Länder, deren Namen sie noch nie gehört hatte, berichtete von seinen überaus glänzenden Auftritten und ließ sie an märchenhaften Erlebnissen teilhaben, die alles in den Schatten stellten, was sie bislang vernommen hatte, die norwegischen Sagen- und Abenteuersammlungen eingeschlossen. Und wenn er sich dann plötzlich in der Küche von ihr verabschiedete, ohne jemals zu vergessen, ihr einen letzten Kuss über den Handrücken zuzuhauchen, war sie stets aufs Neue in ihn verliebt. Nicht mal 4o Jahre war dieser Mann, den ihr eine wundersame Fee ins Haus geführt haben musste.

    Draußen wurden die Rufe wieder lauter. Sie skandierten seinen Namen, wie jede Nacht. Unaufhörlich, begleitet von rhythmischem Klatschen. Fru Grevle wusste, dass es nur ein Mittel gab, die aufgebrachte Menge zu beruhigen, aber sie wollte dies von ihrem geliebten Untermieter nicht einfordern. Sie wusste, dass er im abgedunkelten Zimmer im Obergeschoß saß und weinte. Vor Glück. Vor Erschöpfung. Vor Freude. Vor Angst.

    An diesem Abend hatte er ein Konzert unter freiem Himmel gegeben, vor über 10 000 Zuhörern bei freiem Eintritt. Er spielte seine neuen Kompositionen, die er in Amerika und Frankreich, Italien und Russland schon so oft erprobt hatte, spielte norwegische Volkslieder, einfache, eindringliche, einsame Weisen in Moll, spielte, bis er keine Kraft mehr in den Armen hatte. Tosender Applaus. Beifallsstürme. Er verbeugte sich wieder und wieder, rang vornübergebeugt nach Luft, um wieder aufrecht vor seinem Publikum stehen zu können, winkte mit Geige und Bogen seinen Zuhörern zu, um einen erneuten Applaussturm zu ernten. Es wollte einfach kein Ende nehmen. Manchmal waren es zehn Zugaben, manchmal zwanzig. Er war so erschöpft, dass er oftmals hinter der Bühne zu Boden stürzte und nach Luft schnappte. Sein Herz raste im Eiltempo eines wirbelnden Tanzes. In seinem Kopf Nachbilder aus hundert vergangenen Konzerten zugleich. Bis irgendjemand kam und sagte, die ersten Zuhörer würden abziehen, das Konzert sei wohl vorbei. Wenn er wieder auf den Beinen stehen konnte und manchmal noch gestützt von einem Freund hinaustrat, sah er die

    Menge, die umgehend in einen neuen Jubelsturm ausbrach. Wieder und wieder riefen sie seinen Namen. Als sei er ein Gott, ihr Gott, als würden sie den Heiland in ihm sehen, den Erlöser, den Wundermann, der all ihre Sorgen kannte und all ihre Wunden heilen konnte, der sie tröstete und hoffen ließ, dem sie alles zu opfern bereit waren, nur damit er sie ihre Leiden und Alltagsnöte für ein paar Stunden vergessen ließ.

    Jeden Abend nach dem Konzert führten sie ihn im Triumphzug durch die dunkle Stadt Bergen, durch Straßen. und Gassen, hügelan bis zu dem Haus von Fru Grevle, die ihn stets wie ihren Sohn an der Haustür in Empfang nahm Mit staksigen Schritten erklomm er die Treppe, nicht ohne seiner Vermieterin einen kurzen, liebevollen Blick zugeworfen zu haben, mit beiden Händen zog er sich mühsam am Holzgeländer nach oben. Manches Mal stöhnte er leise dabei. Sein desolater Zustand gab Fru Grevle stets einen Stich ins Herz.

    Kaum war die Menge vor dem Haus angeschwollen, ging das Spektakel los. Wenn doch wenigstens die Polizei kommen würde und die Verrückten auseinandertriebe, dachte Fru Grevle, die Polizisten sollten alle inhaftieren und ein paar Stunden in die Zellen sperren, damit sie wie-der zur Vernunft kämen. Sosehr sich auch alles in ihr da-gegen sträubte, sie musste ihn bitten, doch noch mal ans Fenster zu treten. Nur wenn er sich der Menge zeigte, würden sie in dieser Nacht ein wenig Ruhe finden können. Es gab keine andere Möglichkeit. Fru Grevle versicherte sich, dass der Lehnstuhl fest unter der Türklinke eingeklemmt war, den Schlüssel hatte sie vor Jahren schon verloren, und trat den Weg ins obere Geschoß an. Die Holztreppe knarrte bei jedem Schritt.

    Ihr geliebter Künstler lag hingestreckt auf dem Fußboden. Sein langes, blondes Haar verwirbelt, in feuchten Strähnen, die weißsilbrige Fliege verrutscht, der Kummerbund abgeknöpft, die schwarzlackierten Schuhe weit von sich geschleudert. Nur die Geigenkästen waren ordentlich nebeneinander gestapelt.

    »Ole, Ole«, sagte sie leise, »es hört nicht auf.« Keine Regung.

    Nichts. Er lag da, ohne sich im Mindesten zu rühren. Als habe ihm jemand den ganzen Lebenssaft herausgesogen. Draußen schwollen die Rufe weiter an. Wie Wellen, die ans Gestein schlugen. Hohe, furchterregende Wellen, die irgendwann den Fels besiegten. Am liebsten wäre Fru Grevle ans Fenster gegangen und hätte die Verrückten an-gebrüllt, hätte ihnen zugerufen, dass sie ihren Ole in den Wahnsinn treiben würden, dass sie ihn umbringen... aber was hätte es genützt?

    »Ole«, sie kam ganz dicht an sein Ohr, »Ole, du musst noch einmal aufstehen, sonst...«

    Sie hörte, wie ungleichmäßig sein Atem ging. Stoßweise. Ruckend.

    Ohne jeden Rhythmus.

    Mal ganz flach und kurz.

    Dann wieder lang und aufstöhnend.

    Fru Grevle sah die Spur der Tränen, die über seine Wangen geflossen waren.

    »Ole, ich helfe dir auf. Es wird bestimmt nicht lange dauern, aber einmal musst du dich noch zeigen.«

    »Ich komme, warten Sie nur ein bisschen, bitte«, seine Stimme war so rau, dass Fru Grevle heftig erschrak. »Lassen Sie mich einen Augenblick ruhen.« Mit festem Schritt ging Fru Grevle ans Fenster. Öffnete es. Für einen kurzen Augenblick wurde es vor ihrem Haus ein wenig stiller.

    »Ole wird gleich erscheinen. Er macht sich etwas frisch

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