Hirnforschung - Eine Wissenschaft auf dem Weg, den Menschen zu enträtseln: Ein SPIEGEL E-Book
Von Johann Grolle
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Über dieses E-Book
Doch wenn die Erkenntnisse tatsächlich so bahnbrechend sind, warum bringen sie Kranken so wenig Nutzen? Und übernehmen sich die Hirnforscher, wenn sie inzwischen auch im Terrain der Psychologen, Pädagogen und Philosophen wildern? Das E-Book "Hirnforschung", das Titelgeschichten, Artikel und Interviews aus dem SPIEGEL der letzten vier Jahre umfasst, beleuchtet Vorgehen und Erkenntnisse der Neurowissenschaften - und geht der Frage nach, wie im Gehirn z.B. Angst, Mitgefühl oder Fettsucht entstehen.
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Rezensionen für Hirnforschung - Eine Wissenschaft auf dem Weg, den Menschen zu enträtseln
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Buchvorschau
Hirnforschung - Eine Wissenschaft auf dem Weg, den Menschen zu enträtseln - Johann Grolle
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Brücke zum Bewusstsein
Bilanz der vergangenen zehn Jahre Hirnforschung
Im Flug durch das Gehirn
Hirnforscher wollen den Schaltplan aller 100 Milliarden Nervenzellen kartieren
„Wir sind nur Maschinen"
SPIEGEL-Gespräch mit dem Neurowissenschaftler Michael Gazzaniga über die Illusion des freien Willens
Die Hirningenieure
Die Ära der Maschinenmenschen bricht an
Kompass im Kopf
Osnabrücker Forscher schenken dem Menschen einen sechsten Sinn
Die Macht des Mitgefühls
Die Fähigkeit, am Erleben anderer Menschen teilzunehmen, ist tief in unserem Gehirn verankert
„Eine fast mystische Verbindung"
SPIEGEL-Gespräch mit dem Neurowissenschaftler Christian Keysers über das Gehirn als soziales Organ
Lob der Angst
Psychologen und Hirnforscher ergründen, wie stark die Angst unsere Persönlichkeit prägt
„Messfühler ins Unbewusste"
Im SPIEGEL-Gespräch streiten der Hirnforscher Gerhard Roth und der Psychoanalytiker Otto Kernberg über Grenzen und Möglichkeiten von Therapien
Wenn die Seele dick macht
Hirnforscher entschlüsseln, wie Fettleibigkeit im Kopf entsteht
Heilen mit dem Geist
Schulmediziner entdecken die Heilkraft positiver Gedanken
Großhirn-Voodoo
Die trügerische Bilderflut der Kernspintomografen
Gefangen im Jetzt
Der „Mann ohne Gedächtnis" gilt als berühmtester Patient der Neuropsychologie
Flattern, quieken, zucken
Neurobiologen hoffen, Autismus könne helfen, das Hirn zu verstehen
Superhelden aus dem Museum
Super-Recognizer haben die Fähigkeit, sich an fast jedes Gesicht erinnern zu können
Versöhnung mit der Heimat
Hirnforscher und Nobelpreisträger Eric Kandel versucht sich an einer Theorie der Neuroästhetik
Impressum
Vorwort
Aus Afrika stammt eine Affenart mit höchst bizarrem Verhalten. Ohne erkennbaren Anlass versammeln sich die Tiere, um im Verlaufe allgemeinen Schnatterns in Anfälle unwillkürlicher, krampfhafter Atemstöße auszubrechen. Das kollektive Keuchen kann so stark werden, dass es die Tiere förmlich lähmt.
Dieses im Tierreich einzigartige, groteske und unproduktive Verhalten hat die Affen nicht gehindert, zur erfolgreichsten Spezies des Planeten zu werden. In über sieben Milliarden Exemplaren bevölkern sie mittlerweile nicht nur Afrika, sondern auch alle anderen Kontinente. Ihr wissenschaftlicher Name ist Homo sapiens, das beschriebene Verhalten heißt Lachen.
Der Mensch lacht und weint nicht nur, er gebärdet sich auch sonst absonderlich. Er lässt sich durch etwas auf Papier verschmierte Tinte zu Tränen rühren. Er beobachtet stundenlang Licht, das flackernd auf eine Leinwand fällt. Und er kann eine befremdliche Passion für das Herumrücken von Holzfiguren auf einem karierten Brett oder für das Sammeln gezackter Papierschnipsel entwickeln.
Der Schlüssel zu Komik, Angst und Stolz, zu Langeweile, Abenteuerlust und Spieltrieb liegt hinter seiner Stirn verborgen: in einem grauweißen Klumpen aus Eiweiß, Kohlenhydrat und Fett, zerfurcht wie eine Walnuss, weich wie eine reife Avocado. Vor allem aber machte das Gehirn den spektakulären Erfolg des Menschen erst möglich. Deshalb ist seine Entschlüsselung zur vielleicht größten wissenschaftlichen Herausforderung des 21. Jahrhunderts geworden.
In der Tat haben die Neurobiologen Beeindruckendes vorzuweisen: Mit raffinierten Methoden gelingt es ihnen inzwischen nicht nur, einzelne Nervenzellen abzuhorchen, sie können auch in ihr Geplauder eingreifen. Sogar die Vision, einen vollständigen Schaltplan des zentralen Nervensystems anzufertigen, haben sie ins Visier genommen.
Und doch regen sich auch Zweifel: Wenn die Erkenntnisse tatsächlich so bahnbrechend sind, wie die Forscher es verkünden, warum ist dann ihr pharmakologischer Ertrag so dürftig? Wird der Aussagewert der bunten Tomografenbilder womöglich überschätzt? Und: Übernehmen sich die Hirnforscher, wenn sie inzwischen auch im Terrain der Psychologen, Pädagogen und Philosophen wildern? Sechzehn SPIEGEL-Beiträge aus den letzten vier Jahren beleuchten die Debatte.
Johann Grolle
SPIEGEL 9/2014
Brücke zum Bewusstsein
Warum es sich lohnt, das Gehirn einzuschalten, bevor man selbiges erforschen will. Von Felix Tretter
Psychiatrische Störungen machen bereits heute einen Großteil aller Krankheiten aus, mit steigender Tendenz. Es geht um Autismus oder ADHS bei Kindern, Erwachsene leiden an Süchten und Depressionen, ältere Menschen rutschen in die Demenz. Deshalb erhoffen Patienten ebenso wie Ärzte nichts sehnlicher als Fortschritte durch die Neurowissenschaften in Diagnostik und Therapie.
Auch existentielle Antworten erwarten wir von der Hirnforschung: Sie soll uns helfen, das Geistige zu verstehen. Es ist von größter Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen, legt es doch den Grund für die rechtliche, soziale und kulturelle Ordnung unserer Gesellschaft.
Es geht um nichts weniger als die Frage: Was ist der Mensch? Nur sein Gehirn? Viele Neurowissenschaftler glauben, diese Fragen hinreichend bearbeiten, wenn nicht gar beantworten zu können. Aber sie täuschen sich.
Vor knapp zehn Jahren wurde ein recht optimistisches, viele Dutzend Seiten langes „Manifest von Neurowissenschaftlern zu der damaligen Lage und zukünftigen Möglichkeiten der Hirnforschung publiziert. In der Zeitschrift „Gehirn und Geist
wird das Jubiläum jetzt mit einem Interview gewürdigt. Gibt es einen Grund zu feiern?
Zweifellos hat in den vergangenen Jahren vor allem die experimentelle Hirnforschung an Tieren durch neue Technologien vertiefte Einblicke und Möglichkeiten des Eingriffs in das Gehirngeschehen erbracht: Mit der Optogenetik beispielsweise lässt sich die Genaktivität modulieren, mit raffinierter Elektrodentechnik lassen sich die „Gespräche" der Neuronen registrieren. Kernspinuntersuchungen liefern Bilder vom Gehirn beim Denken, Fühlen und Handeln, und ausgefeilte Methoden der Hirnstimulation haben die psychiatrische Diagnostik und Therapie erweitert. Es geht noch weiter: Das Human Connectome Project soll einen Katalog der Faserverbindungen im Gehirn erstellen, und das mit einer Milliarde Euro ausgestattete Human Brain Project soll ein wahrhaftiges Computermodell des Menschengehirns liefern - was an sich sehr zu begrüßen wäre! Nur: Bringen solche teuren Giga-Projekte am Ende das, was wir uns davon erhoffen?
Immerhin: Auch schwere sensorische und motorische Störungen lassen sich inzwischen besser behandeln: Wir können nun Sinnesorgane - Ohr und Auge beispielsweise - nachbilden, Neuroprothesen unterstützen die Motorik. Allerdings: Diese Technologien sind keine neuen Errungenschaften der modernen Hirnforschung. Im Prinzip kennen wir sie seit den siebziger Jahren aus dem Versuchslabor. Auch die sogenannte tiefe Hirnstimulation, die sich bei Tausenden Parkinson-Kranken - allerdings nicht ohne Nebenwirkungen - bewährt hat, hat ihren Ursprung in den sechziger Jahren; Verhaltensexperimente bei Tieren zeigten ihre Wirkung.
Das Manifest versprach 2004, dass für psychiatrische Erkrankungen bald ganz spezielle, bessere Psychopharmaka zur Verfügung stünden. Diese Medikamente gab es jedoch bereits. Sie wirken leider nicht so gut, wie Ärzte es sich wünschen, außerdem haben auch sie zuweilen problematische Nebenwirkungen. Letztlich stagniert die Entwicklung von Psychopharmaka seit mehreren Jahren.
Überzogen erschien schon vor zehn Jahren die Behauptung im Manifest, man könne bereits beurteilen, „welche Lernkonzepte - etwa für die Schule - am besten an die Funktionsweise des Gehirns angepasst" seien. Wenn das so wäre - wieso muss man dann weiterforschen? Weil man das Gehirn offensichtlich doch noch nicht so gut verstanden hat?
Zumindest aus klinischer Sicht ist also die Bilanz der vergangenen zehn Jahre Hirnforschung nicht besonders positiv. Woran liegt das? Könnte es sein, dass die Theorie der Neurowissenschaft auf ungenügend durchdachten Annahmen und Konzepten beruht? Fundierte, seriöse Brückenschläge zur Psychologie, Philosophie und Kulturwissenschaft fehlen - wie lässt sich ohne sie das Geistige begreifen?
Vier wichtige Probleme werden von Neurobiologen gewohnheitsmäßig übergangen oder ungenau beantwortet. Alles fängt an mit der Frage: Was genau ist das Geistige? Schon über das „Bewusstsein" sind die diversen Hirnforscher sich uneinig, wie die Psychologin und Schriftstellerin Susan Blackmore gezeigt hat. Interpretationen reichen von der Wachheit über das Wissen, das Selbstbewusstsein, das phänomenale Bewusstsein bis zum sogenannten Zugriffsbewusstsein.
Wie wird aber ein solch offensichtlich heterogenes Phänomen experimentell beforscht? Bei der Untersuchung von „Wachmachern" gegen Schlafanfälle beispielsweise kann nur die Dauer der Wachheit, die Aufmerksamkeit, die geistige Leistungsfähigkeit und die Fehlerrate gemessen werden. Damit entsteht im Labor aber nur eine Karikatur des Bewusstseins. Mit dem Erleben - wie es ist, ein Bewusstsein zu haben, bekannt als Qualia-Problem - hat dies wenig zu tun.
Die Frage ist doch: Wie finde ich für das phänomenale Erleben einen angemessenen Versuchsaufbau und passende Messmethoden? Dazu braucht es mehr als Neurobiologen und Mediziner, das ist vor allem Aufgabe von Psychologen.
Meist sind diese Fachkollegen nicht oder kaum beteiligt an den teils spektakulär erscheinenden Erkenntnissen der Hirnforschung. Und so liefern oft eindimensionale Versuche eindimensionale Ergebnisse. Die dann der Öffentlichkeit präsentiert werden, ohne Risiken und Nebenwirkungen - ein Defizit, das besonders eklatant zutage tritt, wenn es um Themen wie Liebe, Persönlichkeit oder Religiosität geht. Also: Brauchten wir nicht auch ein milliardenschweres „Human Mind Project", um nicht ständig den Pudding an die Wand zu nageln?
Die zweite Frage, über die sich Hirnforscher nicht einig sind, lautet: Was genau ist das Gehirn? Meist ist das Großhirn gemeint. Es hat sich aber gezeigt, dass auch das Kleinhirn bei vielen geistigen Prozessen - Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis, Aufmerksamkeit - beteiligt ist. Und was ist mit Hirnstamm und Rückenmark? Wo ist die Grenze? Wer nur das „Gehirn im Tank" betrachtet, ignoriert, dass der Mensch über die Sinne, seinen Körper und vermittels seiner Sprache verbunden und eingebettet ist in eine soziale und kulturelle Umwelt - er lässt sich nicht auf sein Gehirn reduzieren. Zumal die Umwelt maßgeblich beeinflusst, wie sich ein Mensch entfaltet und was ihn einschränkt, kurz: was ihn krank oder glücklich macht.
QUAGGA ILLUSTRATIONS / PICTURE ALLIANCE / DPA
Ohne Gehirn ist alles nichts, das zeigt sich an Menschen mit schweren Hirnverletzungen. Aber das Gehirn ist nicht alles.
Wo im Gehirn sitzt eigentlich der Geist? Dieses - dritte - Problem der Neurowissenschaften zeigt sich immer dann, wenn es gilt, bestimmte psychische Funktionen im Gehirn zu verorten. In Studien heißt es dann, dass die Gehirnregion X an der psychischen Funktion Y „beteiligt sei, oder Y in X „verankert
. Hier finden Forscher Korrelationen wie die berühmte Beziehung zwischen Storchenflug und Kindsgeburten - aber verkauft werden sie als ursächliche, als Kausalbeziehungen. Dabei sind die Grundfragen noch gar nicht geklärt: ob das Gehirn das Geistige „erzeugt" und, wenn ja, wie? Und ob das Geistige, auch wenn es etwas nicht weiter definierbar Körperliches wäre, auf das Gehirn einwirken, Handlungen steuern kann?
Zu klären ist, was notwendige und was hinreichende körperliche Bedingungen für das Psychische sind.
Unbedacht dieser Fragen wird von Neurobiologen häufig ein monistisches Bild vom Zusammenhang von Gehirn und Geist vertreten („der Geist ist das Gehirn"), aber das ist Metaphysik und aus der Philosophie der griechischen Antike wohlbekannt. Es stammt also nicht aus Erkenntnissen der Hirnforschung der vergangenen Jahre. Daher scheint es sehr hilfreich zu sein, wenn Neurobiologen die Philosophie des Geistes mit größerer Aufmerksamkeit zur Kenntnis nehmen.
Hier kommt die vierte Frage ins Spiel: Wie sollten Hirnforscher umgehen mit den Ergebnissen ihrer Versuche? Die experimentelle Methode liefert nur indirekte und höchst unterschiedliche Bilder vom räumlichen und zeitlichen Charakter der jeweiligen Gehirnprozesse. So sind die beliebten bunten Hirnbilder nicht Messungen, sondern Konstruktionen von Konstruktionen: Weil wir da etwas sehen / messen, nehmen wir an, dass da etwas geschieht, das für unsere Messung wichtig sein könnte.
Schnell übersehen wir auch, dass Sinn X eben nicht einfach nur im Gehirnort Y wohnt: Beispielsweise ist das Sehen in Dutzenden Gehirnarealen verankert. Andererseits ist ein einzelner Ort im Gehirn zuständig für mehrere psychische Funktionen zugleich: Dem präfrontalen Cortex verdanken wir Aufmerksamkeit, Handlungsplanung, Bewertungsprozesse und vieles mehr. „Sitzt" also die Aufmerksamkeit in den hemmenden oder in den aktivierenden Neuronen? Und wenn ja, in Schicht 5 oder 4 des präfrontalen Cortex?
Die Neurobiologie stößt hier an ihre Grenzen. Solange sie erklärt, was Nervenzellen im Gehirn so machen, funktioniert sie. Sobald sie beginnt, damit seelische Zustände und Prozesse präzise erklären zu wollen, ist Obacht geboten. Wie sollen krankhafte Interaktionen von etwa 100 Milliarden Nervenzellen mit 100 Billionen Synapsen bei Angst oder Depression „verstanden" werden?
Die Gehirnforschung ist eine Domäne der Biologie und der Medizin, die aber von einer Vielzahl methodischer Probleme herausgefordert ist. Die moderne Psychologie kann hier an allen Ecken und Enden helfen. Und im Umgang mit den vielfältigen Daten, die neurowissenschaftliche Experimente hervorbringen, sind Physiker und Mathematiker notwendig. Sie werden auch gebraucht, wenn es darum geht, Modelle und Theorien zu entwickeln. Wie sonst lassen sich das Gehirn und seine Funktionen vernünftig simulieren? Und zwar so, dass auch der Neurobiologe und Mediziner auf Anhieb versteht, was da geschieht? Es darf hier keine Königsdisziplin geben; niemand darf Vorrang haben.
An einer derartig engen Zusammenarbeit sollten sich unbedingt die Philosophen beteiligen. Wir brauchen: die Wissenschaftstheorie, die Philosophie des Geistes, die Anthropologie, und nicht zuletzt die Ethik. Dazu müssten Neurologen und Psychiater eingebunden werden. Dann könnte die nötige Transdisziplinarität zustande kommen, die eine neue, nachdenkliche Neurowissenschaft entstehen lässt. Eine Hirnforschung, die auch ihre eigenen Grundlagen hinterfragen und ihre Grenzen erkennen kann.
Vielleicht brauchen wir dazu ein neues akademisches Fach: die Neurophilosophie.
Felix Tretter (*1949) ist Nervenarzt am Isar-Amper-Klinikum und klinischer Psychologe an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Er hat ein Netzwerk von Neurowissenschaftlern mitbegründet: Kollegen verschiedener Fachrichtungen, die in Theorie, Labor und Praxis der Hirnforschung tätig sind.
SPIEGEL 50/2012
Im Flug durch das Gehirn
Hirnforscher wollen den Schaltplan aller 100 Milliarden Nervenzellen kartieren. Kann das gelingen? Es lockt ein großer Preis: das Verständnis des Bewusstseins, die Enträtselung seelischer Krankheit - und womöglich die Unsterblichkeit. Von Johann Grolle
Durch ein Gewirr grauer Fäden geht der rasende Flug. Nur im Augenwinkel sieht der Pilot, wie rechts und links unförmige, verästelte Gebilde vorübersausen. Sein Blick ist auf eine Art Tunnel gerichtet, der sich direkt vor dem Cockpit öffnet. Seine Mission: nie diesen Schlauch verlassen.
Es ist ein Flug durch nie zuvor erkundetes Gelände. Aus Simulationen in Kino und Fernsehen mag sie geläufig sein, doch hier, am Münchner Max-Planck-Institut (MPI) für Neurobiologie, wird sie Wirklichkeit: die Reise durch Gehirnsubstanz. Denn jeder der Tunnel, die hier zu sehen sind, gehört zu einer realen Nervenzelle.
Die kleinen Schnürringe rechts und links, die der Kommunikation mit anderen Zellen dienen; die dicken Fettschichten, die einzelne Nervenfasern umschlingen; die Botenstoffbläschen, die, Staubwolken gleich, unvermittelt die Sicht nehmen können: alles echt, alles Abbild real existierenden Nervengewebes.
Der MPI-Forscher und Mediziner Moritz Helmstädter hat ein winziges Würfelchen Gehirnsubstanz, kaum größer als ein Zuckerkorn, in einige tausend hauchfeine Scheiben zerschnitten, jede von ihnen mit dem Elektronenmikroskop fotografiert und anschließend am Computer wieder zusammengesetzt. Jetzt kann er nach Herzenslust spazieren fliegen durch den Stoff, aus dem die Wünsche, Hoffnungen und Träume sind.
Denn es sind Zellen wie diese, in denen sich Neugier oder Begierde regt. Es ist elektrisches Geflacker in einem solchen enggeknüpften Neuronennetz, das uns trauern oder kichern lässt, das