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Gefangen in Englischen Eisen
Gefangen in Englischen Eisen
Gefangen in Englischen Eisen
eBook337 Seiten4 Stunden

Gefangen in Englischen Eisen

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Über dieses E-Book

1708. Willem van Ruysdael kehrt nicht von seinem Auftrag zurück. Die Kundschafter der Gesellschaft, für die er arbeitet, sehen Beweise dafür, dass er freiwillig in London geblieben ist und dort mit einer anderen Frau zusammenlebt.
Magdalene glaubt das nicht. Sie gewinnt Willems Brüder Rik und Joost als Helfer, und schließlich kommen auch Johann und dessen Diener Alfred nach Rotterdam. Gemeinsam reisen sie nach London, wo Magdalene sich von ihren Gefühlen mitreißen lässt und bald in einem lebensgefährlichen Kampf wiederfindet.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum10. Feb. 2024
ISBN9783911115070
Gefangen in Englischen Eisen
Autor

Christina Auerswald

Christina Auerswald schreibt historische Romane. Dass es dabei kriminell zugeht, ist keine Frage! Ob historische Skandale, Pleiten oder Morde – alles steckt voller Geschichten. Christina Auerswald ist in einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt aufgewachsen. Von hier führten sie ihre Wege zum Studium der Volkswirtschaft an die Martin-Luther-Universität Halle. Hier bekam sie auch ihre beiden Kinder und lebte fast 20 Jahre in der Saalestadt. Später zog sie für einige Zeit ins Rheinland. Heute hat sie ihren Lebensmittelpunkt in Leipzig.

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    Buchvorschau

    Gefangen in Englischen Eisen - Christina Auerswald

    1. Kapitel

    »Ihr hofft vergebens, Mefrouw. Willem wird nicht zurückkehren.«

    »Unmöglich.« Magdalenes Stimme blieb ruhig, aber unter dem Tisch presste sie die Hände zusammen. »Ich bin seine Frau, er liebt mich, und er liebt seinen Sohn. Er würde uns nicht im Stich lassen. «

    Der Herr im schwarzen Rock wandte den Blick von ihr ab und sah durch das Fenster hinaus zum Hafen, wo die Masten der Schiffe sanft schaukelten. Gegen das Glas gerichtet sagte er: »Schon tausendfach ist so etwas geschehen, und Ihr seid nicht die Letzte, die es ertragen muss. Immer wieder kommt es vor, dass ein Mann seine Frau verlässt, um in das Bett einer anderen zu steigen.«

    In Magdalenes Stimme legte sich Schärfe. »Willem nicht. Niemals.«

    »Eure Zuversicht in allen Ehren, ich habe nicht das Recht, sie Euch auszureden. Das ist Eure Privatsache. Auch wir müssen Willems Verhalten bewerten, und für uns steht die Sache anders. Wir müssen rational herangehen. Die Handelsgesellschaft hat einen Mitarbeiter verloren.« Der alte Herr im schwarzen Rock schüttelte langsam den Kopf. »Niemand hier hätte Willem ein solches Verhalten zugetraut. Aber wir können es nicht schönreden.«

    Vor dem Fenster zum Hafen waberte Nebel und verschleierte den Blick auf die Schiffe. Der große Kamin im Zimmer des obersten Herrn der Gesellschaft war nicht geheizt. Magdalene fröstelte, sie öffnete die Hände und legte die kalten Finger übereinander. Sie saß aufrecht auf ihrem Stuhl. Vor ihr stand unberührt der Wein, den der Mann zu Anfang ihres Besuches angeboten hatte. »Ihr meint, Ihr wollt nicht in eine Suche investieren. Der Auftrag in England ist für Euch nur ein verlorenes Geschäft.«

    Der Mann kam näher, nahm die Hände vom Rücken und strich mit seiner Linken das schüttere Haar nach hinten. Er hatte die Perücke abgelegt, dass sie das kurzgeschnittene silberne Haar sehen konnte. Das sollte Vertrauen zeigen, aber Magdalene ließ sich nicht hinters Licht führen. Alle Kundschafter, auch dieser, waren gute Schauspieler.

    Zudem kannte sie den Ruf dieses Mannes. Willem selbst hatte ihr gesagt, dass der Anführer der Gesellschaft niemandem vertraute. Der Mann, der ihr erlaubt hatte, ihn Emiel zu nennen, stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch vor ihr ab und beugte sich näher. Der Schatten der Kerze ließ die Falten tief und die Augenringe dunkel scheinen.

    »Nicht nur Ihr seid tief getroffen. Es ist für uns alle ein schwerer Vertrauensbruch. Willem ist für mich die größte Enttäuschung, seit ich die Gesellschaft gegründet habe. Vergesst nicht, Willem war unser bester Mann. Die Gesellschaft war sein Leben.«

    Magdalene schüttelte den Kopf. »Umso mehr müsste Euch klar sein, dass etwas an dieser Sache nicht stimmen kann.«

    Der Mann richtete sich auf.

    »Ihr verkennt, Mefrouw, dass Menschen sich verändern können. Sie erleben etwas, und alles erscheint ihnen in neuem Licht.«

    »Alles? Nicht nur die Arbeit, für die er mehrfach sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, auch die Frau, um die er lange gekämpft und die er endlich errungen hat?«

    »Dass er sowohl Euch als auch mich enttäuscht, bestätigt meine Schlussfolgerungen.«

    Magdalenes Mundwinkel bogen sich nach unten. »Enttäuschung ist ein Gefühl, und Gefühle sind gewiss nicht das, was Euer Handeln bestimmt. Ihr seid Geschäftsmann. Ihr rechnet, das entspricht Eurer Aufgabe als Kopf der Gesellschaft.«

    Der Mann fuhr von Tisch zurück und ballte die Fäuste. »Nein, das ist nicht alles. Willem war für einige Zeit unser bester Mann. Er war mir«, er räusperte sich, »ans Herz gewachsen. Er hat sich so prächtig entwickelt, dass ich gedacht habe, er würde eines Tages mein Nachfolger. Glaubt mir, wenn ich eine einzige Möglichkeit sähe, würde ich sie nutzen.«

    »Ans Herz gewachsen?« Magdalene akzentuierte ihre Worte scharf. »Das glaube ich nicht.«

    »Das müsst Ihr auch nicht.«

    Sie beugte sich vor. »Es würde bedeuten, dass Ihr ihn als Mensch seht, nicht bloß als den Kundschafter, der er für Euch ist. Und dafür seid Ihr, verzeiht die Offenheit, nicht gerade bekannt.«

    »Ich bin überhaupt nicht bekannt. Eine Gesellschaft wie die unsere ist nicht dazu da, ihre Verhältnisse gegen jedermann offenzulegen.«

    »Ich bin nicht jedermann. Ich bin seine Frau.«

    »Eben deswegen offenbare ich Euch ausnahmsweise mehr als anderen. Ich habe an ihm gehangen.«

    »Wenn es wahr wäre, warum macht Ihr Euch dann nicht wenigstens die Mühe, ihm ins Gewissen zu reden?«

    Der Mann schwieg eine Weile. Er wandte sich dem Fenster zu. Von hier aus, durch das kleinteilige Glas, sah man einen Ausschnitt des Hafens von Rotterdam. Es herrschte noch auflaufendes Wasser, die Schauerleute beeilten sich, die Schiffe fertig zu beladen, die mit der Flut den Hafen verlassen sollten. Es waren drei große Pinassen, hundert Fuß lang oder mehr, mit hohen schlanken Aufbauten, drei Masten und bauchigen Segeln. Der Handel in Rotterdam blieb trotz der schlechten Zeiten lebendig. Die Stimme des Alten wurde leiser, sie verwischte, die Worte verschwammen ineinander. »Er hat Euch nicht viel aus seinem früheren Leben erzählt, nicht wahr?«

    Magdalene wurde noch kälter als ihr ohnehin schon war. »Doch, einiges schon. Vergesst nicht, dass ich mit ihm gemeinsam in Dresden war.«

    »Hat er auch erzählt, was er vorher getan hat? Bevor er zu uns in die Gesellschaft gekommen ist?«

    Magdalene schluckte. »Ein wenig.«

    Der alte Mann drehte sich wieder zu ihr um. »Ihr glaubt, Ihr müsst den Nachrichten aus London misstrauen. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, dass er dort tatsächlich mit einer anderen Frau zusammenlebt, dass er Euch verraten, vergessen und verstoßen hat. Ich dagegen habe eine sehr einleuchtende Erklärung, und aus diesem Grund werde ich keinen Finger mehr für ihn krumm machen. Wir glauben meist, die Dinge wären furchtbar kompliziert. In Wirklichkeit sind sie einfach: Willem ist nur in seine alten Gewohnheiten zurückgefallen. Weiter nichts. Er tut in London wieder das, was er früher schon getan hat. Mein alter Freund Van Berge hat gemeint, mir Willems Sündenregister verschweigen zu müssen, aber ich bin nicht umsonst Herr einer Gesellschaft, die mit Wissen handelt. Willem van Ruysdael hat sich in Brandenburg und Sachsen lange Zeit durch die Betten von einer Menge Frauen geschlafen und sein Leben in Müßiggang verbracht, hat vom Geld anderer Leute gelebt und sich den Anstrengungen ehrlicher Arbeit entzogen. Das ist sein wahrer Charakter, zu dem ist er zurückgekehrt. Das Leben in unseren Diensten ist ihm zu mühselig geworden. Das ist, so leid es mir tut, die ganze Wahrheit.«

    Magdalene hob das Kinn, um ihm eine heftige Antwort entgegenzuwerfen, aber er zeigte ihr die Handfläche und fuhr fort: »Müht Euch nicht, mir etwas anderes zu erzählen. Ich kenne den Charakter der Menschen durch mein Geschäft viel zu gut. Die meisten von ihnen sind böse und weit entfernt vom wahren Glauben an Gott. Stimmt Ihr mir nicht zu, dass sich daran die Geister scheiden? Gut oder schlecht, gottgefällig oder nicht? Willem ist vor zehn Jahren in Dresden zum Protestanten konvertiert und hat zugegeben, dass es ihm gleich ist, welchem Glauben er angehört. Wie kann solch ein Mensch der Gnade Gottes nahe sein? Wie kann so jemand sich der Pflichten bewusst sein, die die Verantwortung mit sich bringt? Wahren Glauben kann er nicht haben. Und das ist, mit Verlaub, Mevrouw, das Einzige, was ihn noch retten könnte.«

    Magdalene senkte den Kopf. Willem in den Betten vieler Frauen? Müßiggang? Sie durchkämmte die Erinnerung an alles, was sie mit ihm erlebt hatte. Sie war noch nicht lange seine Frau. Sie war es nicht einmal richtig, nicht vor dem Gesetz. Alles, was sie mit Willem bisher gehabt hatte, waren einige Wochen, unterbrochen von langen Trennungen und zusammengeschweißt von einer unerschütterlichen Hoffnung. Von ihrer eigenen jedenfalls.

    Die gemeinsamen Monate in Dresden hatten durchaus Erlebnisse mit sich gebracht, in denen Magdalene die Zweischneidigkeit seines Charakters kennenlernen musste. Immer sei es sein Beruf gewesen, der ihn zu diesen Taten getrieben habe, erklärte er damals. Um Neuigkeiten zu erfahren, muss man sich verstellen, lügen, sich verkleiden, eine Rolle spielen können.

    Sie hatte ihn auf dem Schiff nach Dresden fahren sehen, da war er ein schwarz gekleideter holländischer Calvinist gewesen, und kaum ein paar Stunden später kam er an Deck desselben Schiffes zurück und stieg am Hafen der Stadt als eitler Pfau in Seidenkleidern aus, lächelnd und Handküsse verteilend. Wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde sie glauben, kein Mensch könne sich so verstellen.

    Willem war dazu in der Lage. Er konnte von einem Augenblick auf den anderen eine andere Stimme bekommen, sich anders bewegen, vollkommen glaubwürdig ein anderer Mensch sein. Hier, in der Kammer mit dem alten Mann, stellte sich ihr die Frage, welches der echte Willem war. Schon bei früheren Gelegenheiten hatte sie sich diese Frage gestellt, aber sie hatte sie schnell beantwortet. Da war dieses beinahe mit den Händen zu greifende Vertrauen zwischen Willem und ihr, das als Antwort völlig genügte. War Magdalene angesichts des guten Ausgangs all ihrer Unternehmungen blind geworden?

    War sie ausgerechnet jetzt, wo sie für ihn ihre Heimat aufgegeben hatte, sitzengelassen worden?

    Um sie kämpfen musste Willem schon lange nicht mehr. Er hatte Magdalene zu seiner Frau gemacht, indem er wie so oft in seinem Beruf seine Fähigkeit als Fälscher genutzt hatte. Sie besaßen Heiratspapiere, die den Anschein einer Hochzeit erweckten und die Magdalenes Sohn Matthijs zu einem ehelichen Kind machten. Für Willem war es keine große Anstrengung gewesen, für Magdalene ein Schritt, mit dem sie in ein neues Leben ging. Nachdem sie in sein Haus in Rotterdam gezogen war, schienen alle Anstrengungen vorüber, sie hatten sich endlich gefunden.

    Hatte der alte Mann recht?

    Hatte Willem nie vorgehabt, die Mühsal eines gemeinsamen Lebens länger auf sich zu nehmen? War es ihm nur um den Jagderfolg gegangen, und war sie seine Beute, die ihn, einmal erlegt, nicht mehr interessierte? War der echte Willem ein leichtlebiger, verantwortungsloser Mensch? Warum war er mit ihr noch nie nach Ruysmaar geritten, wo seine Eltern lebten? Warum hatte er ihr noch nie seine Geschwister vorgestellt?

    Dieser Emiel tat ihr nicht gut. Noch länger hier zu bleiben, den Mann weiter mit Fragen in Anspruch zu nehmen bedeutete, ihre Zweifel würden wachsen. Magdalene stand auf. Es hatte keinen Zweck, auf die Unterstützung der Gesellschaft zu hoffen. Sie hatten tatsächlich Willem, ihren besten Mann, aufgegeben. Sie würden nicht versuchen, mit ihm zu reden. Die Männer hier waren von harten Erfahrungen gezeichnet, sie ließen sich nicht leicht hinters Licht führen. Wenn sie Willem aufgaben, glaubten sie gute Gründe zu besitzen.

    Magdalene grüßte stumm und verließ die Kammer, durchquerte die Vorhalle und trat vor die Tür des unscheinbaren Hauses am Hafen, an dessen Eingang eine Tafel den Anschein eines gewöhnlichen Handelshauses erweckte. Es war eines der kleinen Kontore, von denen es in Rotterdam eine Menge gab. Magdalene schritt die flachen Stufen hinab und zog fröstelnd den Mantel über den Schultern zusammen. Der Nebel lag dünn in den Straßen und verschleierte den Ausblick, wo man sonst über die glitzernde Wasserfläche hinweg das andere Ufer der Neuen Maas erkennen konnte. Der Oktober brachte immer wieder eisige Schauer mit sich, die den Himmel und das Wasser ineinander verschmelzen ließen. Die flachen Wellen der Neuen Maas schwappten grau, das Kreischen der Möwen klang heiser.

    Sie kannte Willem seit vier Jahren. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie daran dachte, dass er ihr vor vier Jahren und zwei Tagen zum ersten Mal gegenübergestanden hatte. Das war in Halle, in ihrem Haus in der Nähe des Klaustors, wo die Straße zum Markt vorbeiführte. Sie erinnerte sich an die Wärme seiner braunen Augen, an sein braungebranntes Gesicht und die Locken, die ihm über den Kragen wogten. Mit ihm flutete der Geruch nach Salzwasser in den kleinen Raum, als würde ihm das Meer in den Kleidern hängen. Er stand in ihrem Laden wie selbstverständlich, als wäre er schon oft dagewesen. Es war leicht, sich mit ihm zu unterhalten. Von allein verging die Zeit, sie plauderten wie alte Bekannte, die nur ihre Freundschaft auffrischten. Auch später hatte sie erlebt, wie gut er sich in eine neue Umgebung einfügen konnte, wie schnell er erkannte, was die Gepflogenheiten waren und in welcher Weise er mit seinem Gegenüber reden musste.

    Mehrmals hatten sie sich getroffen. Wie ein Schatten war er gekommen und gegangen, sie hatte sich nie gewundert, woher er jedes Mal wusste, zu welcher Zeit er am besten auftauchte. Er war, wann immer er kam, richtig. Er hatte ihr vorgeschlagen, dass er für Hans sorgen könne, ihren ältesten Sohn, der in seiner Heimat und mit den geringen Mitteln seiner Eltern nicht seinen Neigungen folgen konnte, Baumeister zu werden. Magdalene brachte Hans nach Rotterdam, und dort geschah es. Das war zwei und ein viertel Jahr her. Dort hatte sie begriffen, welcher Art ihre Gefühle für Willem waren. Noch hatte sie nicht gewusst, welches sein Beruf war und auch sein Charakter, sie hatte es erst im folgenden Jahr und nach einer langen Reise verstanden. Das Jahr 1707, in dem Matthijs geboren war, entschied das gemeinsame Schicksal von Willem und Magdalene, es entschied, dass sie zusammengehörten. Sie kehrten im Frühjahr 1708, vor gerade sechs Monaten, nach Rotterdam zurück. Seitdem wohnten sie in Willems Haus zusammen als ein Ehepaar. Sie zeigten auf Befragen die Eheurkunde vor, die gefälscht war wie alle Dokumente, die Willem benutzte. Die braven Calvinisten in Rotterdam zweifelten nicht an Willems Ehrbarkeit. Niemand hatte je seine Herkunft und seinen Stand in Frage gestellt, und als er verheiratet von seiner Reise heimkehrte, Magdalene am Arm, genügte das, um als Rotterdamer Bürger ehrbar zu leben.

    Magdalene stand am Pier und schaute über das Wasser, wo sich im dichter werdenden Nebel die Aussicht nach einigen Ellen verlor. Wie gut kannte sie Willem? Sie besaß grenzenloses Vertrauen in ihn, das bis zu diesem Tag noch nie enttäuscht worden war. Alles, was der grauhaarige Herr im Haus der Gesellschaft zu ihr gesagt hatte, konnte auch eine andere Erklärung haben. Aber welche? Gab es einen Grund, warum Willem, ohne die kleinste Nachricht nach Rotterdam zu senden, in London blieb und mit einer anderen Frau zusammenlebte? Oder würde eines Tages jemand zu ihr sagen: Magdalene, du Dummchen, wie konntest du nur glauben, ein Mann wie Willem sei treu?

    Wie gut kannte sie ihn also? Ihr Leben als Ehepaar in Rotterdam dauerte gerade vier Wochen, dann musste er schon wieder fort. Sie besaß nichts als die gefälschte Eheurkunde und einen goldenen Ring, den er ihr zusammen mit einem geflüsterten Schwur an Bord des Schiffes auf der Fahrt von Hamburg nach Rotterdam gegeben hatte. Das war, bei Lichte betrachtet, ein äußerst zerbrechliches Konstrukt.

    2. Kapitel

    Magdalene betrat ihr Haus und hängte ihren Mantel zum Trocknen über den Haken im Treppenhaus. »Saskia, Laurentien, ich bin wieder da!« Sie hörte das Klappern der Kelle in der Küche. Dort werkelte ihre gute Saskia.

    »Das Essen ist gleich fertig«, antwortete die alte Frau. Von oben kam Laurentien, Magdalenes Freundin. Sie hielt Matthijs an der Hand, der sich mit den kurzen Fingern der anderen Hand an die gedrechselten Geländerstäbe klammerte und langsam die Stufen hinabstieg.

    »Hast du etwas Neues erfahren?«, fragte Laurentien, aber sie hätte diese Frage nicht stellen müssen. Magdalenes gesenkter Kopf war Antwort genug.

    Saskia füllte die Schüsseln und rief nach Claas, ihrem Mann. Zu fünft saßen sie um den Tisch, aßen die Bohnensuppe und schwiegen. Was sollte man in einem Haus reden, dem seit Monaten der Herr fehlte? Das Licht sank. Die dunkle Jahreszeit machte die Tage unerträglich kurz; bis zum strahlenden Licht des Frühlings waren Monate der Dunkelheit zu überstehen.

    Saskia kümmerte sich um die leeren Schüsseln. Die knochige Alte brummelte vor sich hin, während sie die Treppe hinabstieg, aber es klang zufrieden. Saskia trug hier schönere Kleider und lebte besser als je zuvor in ihrem Leben, das wusste sie. Vor allem war sie glücklich, Matthijs wie einen Enkel lieben und bei der Familie Van Ruysdael wohnen zu können. Claas war zu alt, um noch als Mühlknecht zu arbeiten. Er kümmerte sich um die Pferde und reparierte im Haus, was anfiel. Saskia blieb in der Küche und polterte mit den Schüsseln.

    Laurentien, Matthijs und Magdalene standen auf, um den Kleinen zu seinem Mittagschlaf hinzulegen. »Luuk kommt gleich«, sagte die junge Frau, während sie dem Kleinen den Daumen aus dem Mund zog. »Er möchte mir dir sprechen, Leentje.«

    Lucas Bosman, Luuk genannt, war Magdalenes Milchbruder, der Sohn ihrer Amme. Er wohnte auf der anderen Straßenseite in einer kleinen Wohnung. Er und Laurentien wollten eigentlich heiraten. In einer Stadt wie Rotterdam herrschten strenge Regeln, die einem jungen Paar, solange es nicht verheiratet war, das Zusammensein nur unter Aufsicht gestatteten. Nicht einmal die Verlobung war offiziell, denn dazu hätte Laurentiens Vater sie anerkennen müssen. Und der weigerte sich. So blieben nur die Besuche unter Magdalenes Aufsicht.

    Er klopfte, kaum, dass Matthijs in seinem Bett eingeschlafen war. Luuks Stimme klang aus dem Erdgeschoss durch das ganze Haus. »Guten Abend, Saskia!«

    Saskia strahlte, und Luuk küsste die alte Magd auf die Wange.

    »Geh nur hinauf, Junge. Sie sind oben.«

    Die Stufen der schmalen dunklen Treppe knarrten, und einen Augenblick später trat Luuk ins Wohnzimmer. »Guten Abend, Leentje, guten Abend, mein Engel.« Er umarmte Magdalene und küsste seine Verlobte auf den Mund. Magdalene verzichtete auf die Ermahnung, obwohl Luuk die Grenzen der Schicklichkeit wieder einmal überschritten hatte.

    Magdalene und Laurentien saßen an ihre Plätze vor dem ovalen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand und vom Kaminfeuer schwach beleuchtet wurde. »Du willst mit mir reden, Luuk?« Magdalene legte die Arme auf dem Tisch übereinander.

    Luuk setzte sich zwischen die beiden Frauen und strich das schwarze Haar zurück. Er senkte seine blauen Augen in Magdalenes graue und begann ohne Umschweife. »Leentje, wir warten schon zwei Monate mit dir. Du hast gesagt, du willst mit uns zusammen nach Halle reisen, sobald dein Mann wieder hier ist. Wir sitzen hier und harren aus, aber er kommt nicht. Du weißt, dass ich es nicht erwarten kann, meine Schwester in Halle zu sehen, und du selbst hast gesagt, dass du deine Heimatstadt sehr vermisst. Ich denke, du solltest dich jetzt entscheiden. Wir werden in Kürze abreisen, komme was wolle. Entweder gibst du das Warten auf und kommst mit uns, oder du bleibst hier und wir reisen allein.«

    Magdalene schloss kurz die Augen. Sie sah Halle vor sich; sie konnte genau sehen, wie die fünf Türme bei der Anreise mit dem Saaleschiff immer näher rückten. Es wäre wunderbar, ihr Haus zu betreten, die dreifach klingelnde Türglocke im Ohr, Jakob hinterm Verkaufstisch zu sehen und Grete aus dem Labor rufen zu hören. Es wäre wunderbar, den unverwechselbaren Klang der Glocken von der Marktkirche herüber zu erleben, der Sprachmelodie der Hallenser zu lauschen und die Sole zu riechen, die die Halloren unweit ihres Hauses förderten.

    Sie vermisste ihre Heimat. Das würde niemals aufhören, solange sie lebte. Aber sie war auch nicht in der Lage, jetzt dorthin zu fahren. Nie im Leben hatte Willem sein Glück in Rotterdam gegen den Müßiggang im Bett einer Londoner Frau aufgegeben. Vielleicht war Willem nicht freiwillig dort. Vielleicht war er in Gefahr. Sie durfte Rotterdam nicht verlassen und in die entgegengesetzte Richtung fahren, ohne Willem in Sicherheit zu wissen.

    »Wenn du willst, Luuk, dann fahre. Fahre diese Woche noch. Ich verstehe, dass du vor Verlangen brennst. Ich kann dir nur aus Erfahrung sagen, dass die Fahrt übers Meer im Winter unruhig ist. Ihr werdet seekrank. Besser wartet ihr auf das Frühjahr.«

    Luuk winkte ab. Sie sah seinen Blick über Laurentien huschen, die an seinen Lippen hing. Laurentien war gerade erst neunzehn Jahre. Sie würde alles tun, was Luuk ihr vorschlug. Gerade deswegen musste er als Älterer seine Verantwortung ernst nehmen.

    Er atmete tief. Die Flammen des Kaminfeuers beleuchteten den Raum unruhig. Luuks Hand wanderte auf die von Laurentien. Sie fragte: »Was meinst du, Luuk, wollen wir am Sonntag noch einmal zu meinem Vater nach Ridderkerk reiten?«

    Luuks Stirn runzelte sich. »Du meinst also, dass es besser wäre, noch hierzubleiben? Hat Leentje dich umgarnt?«

    »Ich meine«, erklärte Laurentien ruhig, »du könntest deiner Schwester in Halle auch einen Brief schreiben, statt sie zu überraschen. Schreibe ihr, dass du im Frühjahr kommst. Dann kann sie sich an den Gedanken gewöhnen und fällt nicht vor Schreck tot um, wenn du plötzlich dastehst.«

    Luuk antwortete nicht.

    Magdalene holte tief Luft. »Ich war heute noch einmal dort, bei der Batavia-Handelsgesellschaft.«

    Laurentien nickte, und Luuk fragte: »Und was sagen sie?«

    »Sie sagen, dass Willem mich verlassen hat. Dass er wieder so lebt wie früher.«

    »Wie früher?«

    »Angeblich war er früher ein fauler Müßiggänger. Er soll es mit vielen reichen Frauen getan haben, so wie jetzt mit dieser Frau in London.«

    »Das glaubst du doch nicht, oder?« Luuk beugte sich vor, und die Erschütterung stand auf seinem Gesicht. »Das kannst du entkräften, du musst ihn besser kennen als alle anderen«

    Magdalenes Gesicht blieb starr. »Genau das weiß ich nicht. Ich habe begonnen zu zweifeln.«

    Die beiden antworteten nicht. Das Knistern der Scheite im Kamin wurde von einem kurzen Schrei des kleinen Matthijs nebenan in seinem Bettchen unterbrochen. Magdalene stand auf und ging zur Tür, schob sie ein Stück auf und betrachtete das Kind. »Er hat nur schlecht geträumt«, murmelte sie.

    Luuk hob den Kopf. »Wenn ich Laurentien heirate, muss alles richtig sein. Ich möchte die Dinge in meinem Leben geklärt haben, die noch offen sind. Ich möchte, dass meine Schwester bei meiner Hochzeit dabei ist.«

    »Das verstehe ich.« Magdalene schluckte.

    »Außerdem läuft die Klage wegen meines Vermögens. Wir werden das Geld brauchen. Es geht nicht nur um die Familie, die ich gründen will, es geht auch um die Familie, die ich schon habe, nämlich dich und Matthijs. Wenn dein Mann nicht wiederkommt, Leentje, wovon willst du leben? Das Haus allein macht nicht satt. Vielleicht wird er es eines Tages sogar von London aus verkaufen, weil er Geld braucht da drüben in dem fremden Land, und dann stehst du ohne Dach überm Kopf da.«

    Magdalene riss die Augen auf. »Das würde er mir nie antun.« Gleichzeitig kroch der Gedanke ihre Kehle hinauf, dass er es sehr wohl tun könnte. So erlogen ihre Heirats-urkunde war, so schlecht waren auch ihre Aussichten, einen Prozess um eheliches Eigentum gegen einen Mann zu gewinnen, mit dem sie gar nicht verheiratet war.

    »Ich muss versuchen, mein Erbe zu bekommen, Leentje«, wiederholte Luuk. »Dann ist nicht nur Laurentien abgesichert und die Familie, die wir gründen wollen. Es ist mir wichtig, auch um deiner Existenz willen.«

    Laurentien sah ihren Verlobten mit ihren großen grünen Augen lange an. »Ich dachte, dass

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