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Inside Intelligence - Der BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste
Inside Intelligence - Der BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste
Inside Intelligence - Der BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste
eBook363 Seiten5 Stunden

Inside Intelligence - Der BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste

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Über dieses E-Book

Der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) wird in diesem Buch durch eine hervorragende Recherche und persönliche Gespräche des Autors gehörig auseinandergenommen.

Vor allem die zentrale Person von Reinhard Gehlen, dem Weichensteller und ersten Leiter des BND, dessen Vergangenheit im II. Weltkrieg als Leiter der Feindaufklärung "Fremde Heere Ost" die ersten Jahre des BND prägte. Diese Zeit wird beißend ironisch erzählt, die spätere Zeit und die heutige Gegenwart journalistisch gerafft. Die beiden Linien wechseln miteinander ab und geben dem spannenden Buch Dynamik und Farbe.

Es ist brandaktuell, leistet es doch einen wichtigen Beitrag, um hinter die Fassaden des BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste zu blicken.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Neuer Weg
Erscheinungsdatum25. Feb. 2016
ISBN9783880214170
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    Buchvorschau

    Inside Intelligence - Der BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste - Harald Gröhler

    Personenverzeichnis

    Zum vorliegenden Buch

    Das Buch »Inside Intelligence – Der BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste« geht von den Anfängen des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND) aus. Daraus leiten sich bis heute das Image, die Präsenz des BNDs sowie die jetzigen Beziehungen des BNDs zu anderen dominierenden westlichen Geheimdiensten ab.

    Entscheidend ist, dass das Buch auf Tatsachen basiert: Es baut auf den Dutzenden Gesprächen auf, die der Autor Harald Gröhler mit Uschi Mauve führen konnte, die 15 Jahre lang zu Reinhard Gehlen persönlich Zugang hatte und die Tochter einer Freundin Gehlens aus den Zwanzigerjahren ist. Die Daten und der Text weisen somit eine konkret-persönliche, authentische Seite auf, wie sie sonst inzwischen gar nicht mehr zu haben ist. Andere Bücher über den BND – und die Autoren dieser Bücher – sind nie so nah an die zentrale Person Gehlen herangekommen.

    Dass der BND nach wie vor etwas Geheimnisvolles, ja manchmal Unheimliches hat und nicht einfach als ein Netzwerk wie andere begriffen wird, liegt vor allem an der Herkunft des BNDs. Die Strukturen wurden schon durch die Vorgängerorganisation festgeschrieben. Das war die als ›Organisation Gehlen‹ in den Sprachgebrauch eingegangene, in Wahrheit lange unbenannt gewesene Spionagegruppierung, die Gehlen von 1946 an aufzog.

    Gehlen wird in diesem Buch nicht gehätschelt. Er wird vor allem spöttisch behandelt. Wo kam Gehlen her? Er war Generalmajor der Wehrmacht und in der zweiten Hälfte des zweiten Weltkriegs Leiter der militärischen Feindaufklärung Fremde Heere Ost.

    Am 4. 4. 1945 entwickelten die drei ›Feindaufklärer‹ Gehlen, Baun und Wessel (der später, ab 1968, BND-Präsident war) ein Aktionskonzept für einen neuen deutschen Geheimdienst in der zu erwartenden Nachkriegszeit. Gehlen wurde zwei Wochen nach Kriegsende in den bayerischen Alpen vom CIC, der Abwehrpolizei der US-Army, gefangen genommen; aber Gehlen verstand es dann, sich ganz an die Amerikaner und ab 1946 an den soeben gegründeten CIA anzulehnen. Mit dem Gründer des CIA, Allen W. Dulles, verband ihn allmählich Freundschaft. Der CIA finanzierte vollständig die Organisation Gehlen, und Gehlen ließ den CIA teilhaben an sämtlichem Material, das die Org (Organisation Gehlen) erstellte. Am 1. 4. 1956 wandelte Gehlen sein Spionagenetz mit Adenauers Zutun in den BND um.

    Die Org und der frühe BND haben in der westlichen Welt eine komplette Generation beeinflusst und von daher auch viele von uns heute Lebenden. Org und BND gaben an bundesdeutsche Regierungsmitglieder und an den CIA die Spionage- Auswertungen weiter: Diese Informationen waren immer tendenziell ausgesucht und oft mit kalter Hand überzeichnet. Vor allem auf ihnen fußten lange Zeit die US-Außenpolitik – der Sowjetunion gegenüber – und Adenauers Politik. Der BND wusste darüber hinaus immer die überregionale Presse und die großen Medien zu instrumentalisieren, meist über verdeckt honorierte Journalisten. Org und BND prägten auf die Weise die Wertesysteme des Westens im Kalten Krieg mit, bis in die Mitte der Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts (BND-Präsident Gehlen wurde 1968 pensioniert).

    Die Weichenstellungen aus der entscheidenden Anfangszeit werden bis heute weiter verfolgt. Mit eingegangen wird dabei auf Parallelentwicklungen oder konträre Entwicklungen von anderen großen westlichen Diensten, auf die Verzahnung des BNDs mit anderen fremdstaatlichen Geheimdiensten, auf die Überflügelung des BNDs durch die US-Geheimdienste NSA und NRO, die über gigantische finanzielle Ressourcen verfügen. Die neuen Entwicklungen erscheinen in dem Buch in größerem Zusammenhang. Neue Arbeitsfelder des BNDs und die älteren, teilweise schlicht illegalen – wie der BND-Waffenhandel in Spannungsgebiete hinein – werden deutlich gemacht.

    Die Reaktion einer breiten Öffentlichkeit auf die geheimdienstlichen Mega-Ausspähungen ist von den Geheimdiensten so nicht erwartet worden. Vor allem seit Edward Snowden (Juni 2013) ist die Allgemeinheit aufgeschreckt, sie fängt ernsthafter an sich zu wehren. Der BND geriet ein weiteres Mal in den Fokus der Medien. Ausgespäht zu werden, das lässt die Bürger nicht mehr gleichgültig.

    Der Autor Harald Gröhler hat den dubiosen, schillernden Mann Gehlen mehrere Male auf dessen Privatgrundstück und in dessen Haus in der Waldstraße in Berg treffen können (unter geheimsten Vorkehrungen Gehlens). Mehrmals sprach er mit einem der entscheidenden Gegner Gehlens, mit Markus (›Mischa‹) Wolf vom Staatssicherheitsdienst der DDR. Insgesamt 5 400 Stunden Recherche stellte der Autor an für dieses Buch – und doch nicht zu viel über die mehr denn je uns alle tangierende Geheimdienstwelt.

    Einleitung Herrn Gehlens Tempo

    »Kemmeriboden-Bad!« ruft der Postbusfahrer nach hinten, ohne seinen Kopf zu wenden.

    Kemmeriboden-Bad, das ist ein kleiner, ja winziger Badeort in der deutschsprachigen Schweiz. Südöstlich von Bern, nördlich von Interlaken. Die Badeabteilungen alle in Stein aufzuführen, dazu hat es in Kemmeriboden nicht gereicht. Das Bad ist von der »Krankenversicherung«, den schweizerischen Krankenkassen, vergessen. Und wenn ein Heilbad so sehr vergessen ist, dann vermutet in den holzgebauten Bade-Anlagen auch kein Mensch geheimdienstliche Aktivitäten. Nicht einmal der einheimische schweizerische Armeenachrichtendienst AND wird sich hier betätigen, nicht einmal der schweizerische Strategische Nachrichtendienst SND; der Dienst für Analyse und Prävention DAP argwöhnt hier nichts und nicht das Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces, das mit Unterstützung der Schweizer Regierung arbeitet. Und sonst? Die Herren etwa des Referats Schweiz / Liechtenstein des Amts VI B 3 vom Reichssicherheitshauptamt sind seit 1945 ausgeräuchert. Durch die hatte Herr Gehlen aber noch von Kemmeriboden-Bad Kenntnis erlangt. War deshalb die Vermutung, Kemmeriboden-Bad sei geheimdienstlich belanglos, doch etwas vorschnell? Ein Dutzend Badegäste tummeln sich schon allemal hier.

    Bezahlt und gesponsert von Reinhard Gehlen spannen in Kemmeriboden-Bad Helene und deren knapp erwachsene Tochter aus, ein paar Tage lang.

    Von Reinhard sprechen sie. Reinhard, dem Geheimdienst-As, dem berühmten und gleichzeitig unbekannten Mann, den Helene Mauve eben doch noch besser kennt als Tochter Uschi. »Das Tempo« – sagt Helene zu ihrer Tochter – »das gibt Reinhard an, das bestimmt der.«

    Helene gesteht ihrer Tochter noch anderes; Uschi nimmt sie ins Kreuzverhör, und Uschi wird von Frage zu Frage klüger. Niemals etwa hatte sich Helene Koketterie geleistet. Dabei war, kokett zu sein, flott zu sein, nach dem ersten Weltkrieg schwer in Mode gekommen, besonders bei Großstädterinnen. Überall um Helene herum flirteten Gleichaltrige damals; neben Helene beispielsweise deren eigene Schwester. Ob Helene nicht gewusst hatte, wie das anstellen – zu flirten –, oder ob sie das nur verabscheut hatte, darüber schweigt sich Helene aus, auch vor Uschi. Oder gar dass Helene einen Flirt bis zu der Gegend ihrer Oberschenkel hin verlängert hätte, auf keinen Fall.

    Aber irgend etwas, wenn schon nicht süßes verheißungsvolles Petting, musste Helene doch treiben. Sie kletterte; dies anfänglich als kleines Mädchen und versuchsweise, an der Scheibe der Wohnzimmertür, später nicht ganz so steil mehr in den Hirschberger schlesischen Falkenbergen und am Eiger (Nordwand). Hier im Berner Oberland hatte sie sich auch für das Gehen einige Male einen Bergführer genommen, sie war nicht hundertprozentig schwindelfrei, und weil sie immer schnell an das Wohl ihrer Mitmenschen dachte, missbilligte sie Schludrigkeit sogar in der Schweizer Bergwelt, sie hatte an einem Abgrund zu dem Bergführer neben sich gesagt: »So ein gefährlicher Abschnitt hier? Da gehört doch wirklich ein Geländer her!«

    »Halten zugute, das gnädige Fräulein: Hatten wir ja früher auch. Aber auf die Dauer ist das einfach dem Kanton zu teuer geworden …«

    »Zu teuer. Zu teuer!«

    »… die Touristen haben die Geländer immer mit sich in die Tiefe gerissen.«

    Uschi will eigentlich nur von den Flirts noch mehr wissen; Helene zögert schon wieder mit Antworten. Helene zögert nicht nur wegen Uschis indiskret werdenden Fragen, sondern sie kommt sich in dieser gottverlassenen Holzwändebadeanstalt unbehaglich vor. Sie denkt auch daran, was für ein Kopfgeld auf ihren Jugendfreund Reinhard ausgesetzt ist. Eine Million. Und ihr dämmert es, dass sie unter dem Schutz dieses so gefährdeten Mannes ungeschützt ist; sie und ihre Tochter. Die Tochter ist vielleicht noch mehr gefährdet, denn die arbeitet jetzt bei Reinhard mit. Helene stellt sich mehrfach vor, eine dieser quietschenden Holztüren geht auf. Öffne sich, von allein. Oder eben nicht von allein, und jemand Unerwartetes erscheint auf der Bildfläche. Sie deutet nun auch vor Uschi an, im zweiten Weltkrieg habe es seltsame Verbindungen gegeben vom deutschen Oberkommando der Wehrmacht (OKW) zu schweizerischen höchsten Dienststellen, und über die immer schon dunkel gewesene so genannte Wiking-Linie des deutschen OKWs zum Schweizer Generalstab sei bis heute noch nicht das letzte Wort gesprochen. Helene merkt dabei, dass ihrer Uschi die Wiking-Linie überhaupt unbekannt ist. Das beunruhigt Helene erneut. Genauso die Beziehungen führender SS-Chargen zu Mr. Dulles, sagt Helene nach einer Stunde nervösen Wasserplätscherns und Badens, lägen noch verflixt im Dunkeln. Dulles war im Herbst 1942 als Sonderbeauftragter des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt in Bern eingetroffen, hier nahebei. Allen W. Dulles war, genauer gesagt, der Büroleiter des amerikanischen Geheimdiensts OSS in Europa und Dulles hatte von Bern aus mit seinen Spionen telefoniert. Die Kontakte von Dulles zu leitenden SS-Angehörigen waren auch noch sehr ungeklärt. Kontakte seit 1944. Walter Schellenberg, saarländischer Fabrikantensohn, sehr gewandter Chef des politischen Auslands-Nachrichtendiensts im Reichssicherheitshauptamt, musste da eine Rolle gespielt haben. Diesem noch jungen Schellenberg ging es zurzeit miserabel schlecht; der SS-Mann war krank.

    Den Mr. Dulles hatte Uschi von Reinhard Gehlen schon einmal nennen hören. »Indem du mich dauernd hier beruhigst …«, fing Helene vor Uschi wieder an.

    Die Antwort, die jugendliche, die ihr zuteil wurde: »SS, Krieg, das ist doch schon Jahre her!«

    »… indem du mich egal beschwichtigst, machst du mir erst recht Angst. Um so mehr. Tu mich doch nicht so beruhigen.«

    »Ach, aber Mama.«

    Um 1943 hatte Reinhard Gehlen vor Helene durchblicken lassen, dass er bei den langmanteligen, eng ledergegürteten Wehrmachtsoffizieren in einer Abteilung »Fremde Heere Ost« sein Wesen treibe. Mehr sagte er ihr nicht und mehr wusste sie damals von dieser Abteilung nicht. Es war schon viel – und knapp am Rande des Erlaubten –, dass Gehlen der Zivilistin die bloße Bezeichnung nannte.

    Reinhard Gehlen war in kurzer Zeit hoch aufgestiegen in der Militärhierarchie. Und zielstrebig arbeitete Gehlen weiter an seinem Ruf, er könne besser als jede andere Person westlich der sowjetisch-deutschen Hauptkampflinie voraussagen, was die Sowjets jeweils vorhatten. Der Ruf war auch Hitler zu Ohren gekommen, vor allem hatte Gehlen aber den Ruf bei Heinz Guderian, dem charismatisch trotzigen, dem von Hitler schließlich wieder eingesetzten Panzertruppenorganisator, der so kleinwüchsig war wie Gehlen, nur noch dazu gedrungen.

    Als die Rotarmisten stetig westlich vordrangen, monatelang, wusste Reinhard Gehlen in den letzten Januartagen 1945: am zehnten Zweiten etwa würden sie in Breslau sein. Bei dem langen Weg, den die Roten bereits zurückgelegt hatten, konnte einer dieses Datum zum Schluss gut ausrechnen. Sogar Breslauer Muttchen konnten das.

    Reinhard Gehlen trug schwer an seinem Wissen. Deshalb telefonierte er der verheirateten Helene durch, der Freundin: »Flieh jetzt schon mal! Ich hätte hier einen Lazarettzug für dich«, und die in Hirschberg lebende Strohwitwe Helene wollte nicht. Gehlen nervte sie mit mehreren fast gleich lautenden Kurzgesprächen, jeweils einen Tag Abstand schaltete er dazwischen ein, und schließlich wandelte er etwas ab: »Das ist jetzt der letzte Lazarettzug, der durch euer Gebiet ins Westreich weiterfährt. Danach geht keiner mehr.«

    Er sagte das Helene alles telefonisch, ließ sich selber nicht anrufen und machte auf die Weise Helene ziemlich Angst. Letzter Lazarettzug? Sie packte ein, ihr Mann war weg und stand beim Volkssturm – einer für sie völlig abstrakten Formation, einer Ansammlung von Menschen –, und sie wurde von ihren Schwiegereltern zum Hirschberger Güterbahnhof gebracht. Dort und nicht auf dem Personenbahnhof wartete, im Dunkeln, in der Schwärze, der absonderliche Zug voller Verwundeter. Die Verbundenen würden gleich noch etwas mehr zusammenzurücken haben; die wenigstens, die saßen und nicht lagen. Der Lazarettzug zog sich unwahrscheinlich lang hin. Die Lampen an den Lichtmasten über den Gleisen brannten nicht.

    Helene wollte nach Oberfranken hingelangen, dort war Uschi. Ihre große Tochter war nach Tschirn, Oberfranken, als Pflichtjahrmädchen gekommen und in Tschirn in dieser Endphase des Krieges hängen geblieben; die Laune der quertreiberischen, eigensinnigen Erstgeborenen erwies sich nun als zukunftsträchtig.

    Hier im Lazarettzug war die Welt anders. Um Helene und ihre zwei Söhnchen waren ausschließlich weiß bandagierte Soldaten; der gesamte Zug war mit denen voll. Sie wurde von den Bandagierten angesprochen und war freundlich von ihnen umgeben, ihre Söhne wurden hochgehoben und herumgereicht. Nur wollte Helene gern einmal einen einzigen nicht irgendwo weiß verbundenen Soldaten sehen.

    Gehlen überblickte wohl besser russische Offiziersabsichten als deutsche. Er wusste nicht, dass dieser surreale Mullsoldatenzug in Prag neue Order empfing und seine Route ändern musste: der Zug rangierte auf ein Gleis in den Balkan, damit weitere Verwundete dann dort aufgenommen würden, und rollte auf diesem Gleis immerhin noch bis Ungarn, wo ihn, vom Lokführer bis zum letzten Bandagierten, sein Schicksal ereilte. Der Zug flog in die Luft. In Prag-Hauptbahnhof zuvor stiegen die zwei Kinder mit Helene aus, und Helene schlug sich in überfüllten Flüchtlingszügen, die derzeit voller Slowakinnen waren und in denen sie ihr zweieinhalbjähriges Kind verlor, bis an die Saale durch. Mit dem Kinderwagen kam sie an einer Abteiltür nicht vorbei; so büßte sie außerdem den Kinderwagen ein. Nichts hatte Reinhard vorausgesehen. Wahrscheinlich deshalb gestand Helene noch nach zwölf Jahren: »Ich bereu’ nicht – nein, nein –, den Kurt geheiratet zu haben.« Sie sagte das immer, wenn die Rede auf Reinhard kam.

    Reinhard Gehlen war überzeugt davon, sie würde ihm wegen des Lazarettzugs unendlich dankbar sein. Im Vorfeld zu der Kemmeriboden-Erholungsreise, als Gehlen und Helene sich endlich einmal wieder sahen, erschien ihm Helene aber als einigermaßen kühl. Das fuchste den eitlen Mann. Der Geheimdienstboss kannte sich mit dieser Frau nicht richtig aus. Helenes Uschi, die mit dabei war, schüttelte selber über ihre Mutter kurz den Kopf. Reinhard redete dann auch Klartext. »Helene: Also dass ich dich da zu den Lazarettzügen im Januar, im Februar 45 gedrängt hatte und dass ich dich deshalb angeläutet hatte …«

    »Ja?«

    »Schon dass ich dich nur in Kenntnis gesetzt hatte – weißt du, was das bedeutet hätte, wenn es ’rausgekommen wäre? Ich wäre einen Kopf kürzer gemacht worden. So ist das!«

    1. Die effektive Schlagkraft der Sowjets

    Gehlen war ein Mann, der gern den geheimen Tätigkeiten anderer nachforschte; wobei er unbedingt geheim bleiben wollte. Sein Wunsch ging in Erfüllung: Reinhard Gehlen ist heute weidlich unbekannt. In den Fünfziger und Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts kannte den Gehlen fast jeder in der westlichen Bundesrepublik. Allerdings kannte man ihn nicht von Angesicht. Von nahem kannte ihn kaum einer. Er trug eine pechschwarze Sonnenbrille, und im Freien trug er, tief ins Gesicht hinein gezogen, manchmal einen Hut.

    Mit seiner Ausforscherei brachte er es zu etwas. Zum Generalmajor befördert worden war er am dritten Dezember 1944. Und was mehr wog – denn General wurde ja so mancher –, er diente als Chef der Stabsabteilung Fremde Heere Ost. Das heißt, er überzog die sowjetischen Armeen mit umfassender Spionage. Mit derartiger Spionage beschäftigte er sich schon seit dem 1. April 1942. Da war er noch Oberst gewesen und – empfohlen von General Adolf Heusinger – damit betraut worden, aus der unzulänglich funktionierenden Abteilung Fremde Heere Ost (FHO) eine effiziente Arbeitsgruppe zu formen. Gehlen kam dem nach mit Kriegsgefangenenvernehmungen, Funk- und Luftaufklärung, geheimem Meldedienst. Frontaufklärung, Gegenspionage, Feindlagenanalyse ermöglichten Herrn Gehlen allmählich, die jeweiligen Absichten der sowjetischen Armeeführer oft zutreffend einzuschätzen und damit vorauszusagen. Über all dem vernachlässigte Gehlen fast völlig die Skandinavien- und die Balkangruppe der FHO, die ihm auch noch unterstanden. Dieser weitere Auftrag Gehlens wird heute ständig vergessen.

    Ende März 1945 war die Front, die Ostfront, schon arg nach Westen zurückgenommen worden. Bad Elster liegt freilich nicht im Osten, sondern in Südsachsen, und am vierten Vierten fünfundvierzig traf sich Gehlen in Bad Elster mit noch einem großartigen Frontaufklärer: mit Hermann Baun. Der war Oberstleutnant und sprach Deutsch nach Art eines östlichen Auslandsdeutschen, weich und rollend; dunkler als sie im »Reiche« sprachen, und Baun, aus Odessa, sah sich deshalb oft von grinsenden Offizieren umgeben: Baun erheiterte oft genug die hochnäsigen mitteleuropäischen, kerndeutschen Nachrichtenoffiziere. Unfreiwillig bewirkte er das … was anderen weder beabsichtigt noch unabsichtlich gelang. »Köstlich, köstlich«, bekam er völlig sachfremd von früh bis spät immer wieder zu hören.

    Zu dem Bad Elsterschen Treffen schleppte Gehlen außerdem den Oberstleutnant Gerhard Wessel mit an, seinen Stellvertreter – der ein, zwei Jahre vorher noch wie ein Schuljunge so zart ausgesehen hatte (anhand der Fotos ist das auch siebzig Jahre später zu erkennen). Wessel war elf Jahre jünger als Gehlen, Baun damals fünf Jahre älter als Gehlen, und so blieb’s auch fürderhin. Geraume Zeit später sollte Gehlen öffentlich über Baun vermerken, er verfüge über eine diffizile Zweinaturenmentalität, jetzt in Elster war Baun aber eher gewillt, eine Schraube schlicht mit dem Hammer ins Holz zu treiben, und nicht, sie hineinzudrehen; für Differenzierungen war jetzt nicht mehr die Zeit.

    Auch Baun hätte sich gerne, Gehlen gegenüber, selbstherrliche Urteile oder Charakterisierungen erlaubt; er verkniff sie sich meistens. Zumindest durch die Achselstücke an Gehlens Uniform wurden die beiden Oberstleutnants Wessel und Baun laufend daran erinnert, dass der schmächtige, man vergebe, der spirrlige, verzeihe, der zierliche Gehlen ihnen über war.

    Vor einem Dreivierteljahr hatte der Schmächtige sich sogar schon einmal in Bad Elster aufgehalten, damals nur nicht mit den roten Biesen der Hosen eines Generalstabsoffiziers, sondern, unter den Schlafanzugshosen, mit einem übel roten Strich die Vene entlang, und hatte eine schwere, schmerzhafte Blutvergiftung auskuriert; seinerzeit befand er sich rechts vor dem Elstersäuerling im Hotel Sachsenhof, das als Lazarett diente, jetzt war er hundert Schritte weiter links im Kurhotel Wettiner Hof, und im Moment quälte er sich mit dem Fensterflügel des Besprechungszimmers ab, der nicht aufgehen wollte. Der war wohl gequollen. Der riesige Wettiner-Hof-Kurhotelkasten hatte Feuchtigkeit.

    Die drei Herren verplauderten allerhand Zeit; dann, an einem Fenster des Kastens beisammenstehend, schmiedeten die drei langmanteligen Leute einen Plan.

    »Jawollja.« Sagte Gehlen. »Eine neue Karriere müssen wir uns also sichern.«

    »Jawollja. Wir müssen«, wiederholte Baun, er allerdings nicht flüsternd, sondern schon ein paar Phon kräftiger als Gehlen, »uns eine andre Karriere aufbauen.« Und Wessel widersprach Baun und pflichtete seinem Gehlen bei.

    »Sehr richtig«, sagte Gehlen. »Dafür wird es bannig Zeit.« Gar zu viele Geheimnisse meinten sie im laufenden Krieg sowieso nicht mehr lüften zu können. Erst nach der totalen Niederlage – etwas, das auszusprechen sie mit dem Leben bezahlten, sofern es irgendeine Plaudertasche mit anhörte – wollten die drei durchaus im alten Stil weiterwursteln. Gehlen nahm an, dass sich Amerikaner und Russkis bald verzanken würden. Hunderttausende von Deutschen sahen das voraus, es war damals eine Allerweltsprognose, und die armseligen Fritzen wollten sich dann an die Amerikaner heranschmeißen. Er hingegen, Gehlen, gedachte darüber hinaus diesen Amerikanern eine ordentliche Morgengabe mitzubringen und sich dergestalt einzuschmeicheln: Er wollte ihnen das komplette Lagebild der sowjetischen Streitkräfte und eine Personalkartei der Sowjetarmee in die Hände spielen und ihnen einreden, wie gefährlich ihr eigener Verbündeter sei. Und Hermann Baun, was wollte er den Amerikanern andienen? Er, als Chef von Walli 1, der unter diesem Tarnnamen arbeitenden Frontaufklärungsleitstelle 1 Ost, Baun, der Ukrainedeutsche, der dreisprachig aufgewachsene, jetzt fünfsprachige Mann, er hatte ein Agentennetz mit im Gepäck. Es reichte bis nach Moskau hin und bestand vor allem aus russischen Freiwilligen.

    »Nicht schlecht, Herr Specht«, sagte Gehlen zu Baun und lobte ihn so.

    Ein wenig später beeinflusste dann Gehlens Organisation den Herrn Adenauer und über Herrn Staatssekretär Globke noch einmal Herrn Adenauer; der Planungsbeginn der drei Männlein im Elsteraner raffiniert jugendstiligen und mit eleganten cremefarbenen, porzellanenen Fließwasserwaschbecken ausstaffierten Wettinerhofhotel hat nachgerade Weichen gestellt – bis zum heutigen Tage. Gehlen mühte sich erfolglos mit dem linken Fensterflügel des Hotelkonferenzzimmers ab, aber hatte eine glückliche Hand, wo es künftige Freunde auszusuchen galt. Viermal insgesamt rappelte er an dem Fensterflügel, der nur eine einzige große Scheibe hatte und über dem und über dessen Pendantflügel sich – so lang wie beide Flügel – das feste, nicht bewegliche obere Fensterteil aus achtzehn kleinen Scheiben hochzog. Oberstleutnant Baun stand auf und tat nur einen kräftigen Ruck – und hatte die große Fensterscheibe quer durch mit einem Sprung versehen.

    »Danke«, sagte Gehlen.

    »Hm«, erwiderte Baun.

    Zuletzt vereinbarten die drei künftigen Freunde der Amerikaner, wie sie sich gegenseitig nicht aus den Augen verlieren möchten, und als lebenden Briefkasten wählten sie, darin diesmal nicht viel anders als ordinäre Spione, einen katholischen Domprediger aus; einen, der später Bischof von Regensburg wurde.

    Fünf kurze Tage, nachdem die drei aus den altmodisch raffiniert aufgeteilten Fenstern auf ihre und auch unsere Zukunft geblickt hatten, wurde Gehlen freilich schon in seiner Karriere geknickt. Herr A. Hitler verfügte das. Der Diktator setzte Gehlen, Reinhard, locker ab und stellte stattdessen Wessel, Gerhard, auf das öberste Treppchen der Fremden Heere Ost. Gehlen hatte dem Herrn Heil Hitler zu oft Niederlagen vorangekündigt und nun noch ein, zwei Wahrheiten zuviel; das ließ sich der Braunauer Diktator nicht mehr gefallen.

    Gehlen-Reinhard war nicht zu trösten. Noch Jahrzehnte später nagte es an ihm. Dass er als Chef der Fremden Heere Ost amtsenthoben wurde, verschwieg er in seinem bundesdeutschen Dasein gänzlich, und beispielsweise in dem tabellarischen Lebenslauf, den er, nachdem er pensioniert war, öffentlich machte, sparte er die Absetzung aus. Mochte die auch einer der relevantesten Augenblicke seines Lebens sein. Er retuschierte gern.

    Zugleich ist erwähnenswert, wie Gehlen auf den Umstand, abgesetzt zu sein, in den restlichen drei Hitlerwochen konkret reagierte. Er brachte es nämlich fertig, alles, was er zuvor schon geplant hatte, dennoch weiter durchzuführen. Die Leute der Abteilung Fremde Heere Ost nahmen von dem hitlerschen Akt faktisch keine Notiz. Sie taten weiter, was Gehlen anordnete.

    Seit Anfang des Massensterbejahres 1945, dieses Entscheidungsjahres, in dem mehr Menschen gestorben sind, als jemals sonst auf der Erde in einem Jahr in den Tod sanken, arbeitete Gehlens Abteilung FHO vor allem daran, sich selber zu erhalten: die Abteilung, der wahrlich andere Aufgaben oblagen, bediente sich selbst. Für Gehlen war das nur folgerichtig. Herrn Gehlen stiegen das Tempo der letzten paar Jahre und sein Sukzess zu Kopf. Zu Beginn des Krieges war Reinhard ein Niemand gewesen. Helene und Helenens Schwester hatten ihn immer noch etwas belächelt. Nach vier Jahren Krieg übernahm er die Abteilung Fremde Heere Ost, und er puschte sie in kürzester Zeit, in wenigen Monaten zu bemerkenswerten Erfolgen; die Abteilung FHO wurde endlich effizient. Reinhard, der schmächtige, um nicht zu sagen mickrige Mann, rückte in den Generalsrang auf. Er sah freilich auch voraus, leicht sah er das voraus, dass ihm dieser Rang in einem halben Jahr zu nichts mehr gut sein würde. Es war psychologisch naheliegend, dass Reinhard von dem Schatz, den er sich da zusammengetragen hatte – seinen Zetteln –, nicht lassen wollte. Auch die Strukturen, die er so erfolgreich entwickelt hatte, und die Verbindungen, die er geschaffen hatte, wollte er nicht aufgeben; ja, sogar von den wichtigen seiner Mitarbeiter wollte er nicht lassen; vielmehr beabsichtigte er, all das zur Basis seiner weiteren Zukunft zu machen.

    Seit Anfang 1945 stellte er schon eifrig das dicke Material der Fremden Heere Ost sicher, will sagen, er befahl es sicherzustellen; das gesamte Material. Wieder und wieder ließ er Eisenbahnwaggons dafür mit benützen, Leute seiner FHO-Abteilung nach Bad Reichenhall zu verlegen, und seit Anfang April waren wenigstens die Mitarbeiter in Reichenhall erneut voll arbeitsfähig beieinander: in Reichenhall, jenem interessanten Punkt, von dem aus sie bei Bedarf schnell in die salzige und höhlige, durchhöhlte Erde hinein verschwinden konnten, so wie wir das an diesem Punkt auch heute noch können.

    Mitte April befahl Gehlen, verschiedene weitere Schlupfwinkel in den unwegsamen Alpen vorzubereiten – auszustopfen, auszupolstern; dieser mutige Soldat hat sich, von einem Oberforstmeister namens Weck, die besten Schlupfwinkel ganz Deutschlands besorgen lassen, traumhafte Verstecke, von denen aus die Annäherungswege schön zu beobachten waren, von denen man sich auch gleichzeitig, wenn es gefährlich werden sollte, unbemerkt verdrücken konnte, und bei denen Wasser war. »Sehen Sie sich bitte das Wasser an.«

    »Sehn wir. Und so was trinken wir.« Jemand, der getrunken hatte, erwähnte Schmutzklümpchen. Aber Herrn Gehlen kümmerten die gar nicht so. Ihm – ihm war es nur darum zu tun, seine spärlichen Haupthaare mit Wasser anzuklatschen, morgens und abends, und davon wollte er auch im April 45 nicht abgehen.

    Er ließ außerdem die wichtigen Akten von seinen vierundvierzig Frauen, den meistens brav und platt und glatt gescheitelten und in rundum bestickter filzdicker Kostümjacke dasitzenden, steif meist dasitzenden und irgendwo in Busenhöhe mit ausgebreitetem Hakenkreuzadler verschönten Stabshelferinnen fotografieren. Sie fotografierten Truppenkarteien, Sonderkarteien, Akten, Berichte: interessanten Papierkram; Luftaufnahmen, Karten, Studien über Sollstärken der gerade siegenden Roten Armee, Angaben über feindliche Truppenführer vom Divisionskommandeur an aufwärts. Und weil er so pingelig und auch ein ziemlicher Philister war, ließ er sämtliche

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