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Spur der Scheine: Wie das Vermögen der SED verschwand
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eBook396 Seiten4 Stunden

Spur der Scheine: Wie das Vermögen der SED verschwand

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Über dieses E-Book

Als sich die SED 1989 in die PDS verwandelte, verfügte sie über ein geheimes Geldvermögen von rund 6,2 Milliarden DDR-Mark. Hinzu kamen Parteibetriebe, Immobilien und getarnte "Valuta"-Konten. Solange die Partei einen
unkontrollierten Zugriff auf das Vermögen hatte, verschwanden gewaltige Summen. Und auch danach wurde getrickst und getäuscht. Im vorliegenden Buch untersucht Bestsellerautor Klaus Behling die Hintergründe des Milliarden-Pokers. Er verfolgt die Wege der Firmen aus dem Schattenreich der SED in die Marktwirtschaft, erzählt, was aus dem Grundbesitz
der Partei wurde, und erinnert an verschiedene Betrugsmanöver in jeweils dreistelliger Millionenhöhe. Er zeigt, dass der Streit ums Geld immer auch ein Kampf um politischen Einfluss ist. Am Ende bleiben weit mehr als eine Milliarde
Euro unwiederbringlich verschwunden. Auf der Spur der Scheine entdeckt der Autor aber auch neue Geschäfte mit altem SED-Geld lange nach der
Jahrtausendwende. Hier geht es um Diamanten aus Afrika, Reis aus Asien und den Kauf einer Millionen-Villa in Spanien – alles ganz legal, denn seit dem
2. Oktober 2000 sind Wirtschaftsstraftaten verjährt. Klaus Behling legt einen brisanten Doku-Krimi vor, der ein immer noch heißes Eisen anpackt und
zeigt, welch lange Schatten das einstige SED-Vermögen wirft.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Berolina
Erscheinungsdatum5. Apr. 2019
ISBN9783958415591
Spur der Scheine: Wie das Vermögen der SED verschwand

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    Buchvorschau

    Spur der Scheine - Klaus Behling

    www.buchredaktion.de

    Vorwort

    Götterdämmerung im »Großen Haus«

    Das ab 1959 als Sitz des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) genutzte Gebäude am Werderschen Markt in Ostberlin wurde zu DDR-Zeiten ehrfürchtig das »Große Haus« genannt. Eine solche Bezeichnung ist sonst eigentlich nur für Theater mit mehreren Spielstätten üblich. So wie man dort aufmerksam verfolgt, was sich auf der Bühne hinter den Mauern tut, so war es im Gegensatz dazu im »Großen Haus«, der Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, streng geheim, obwohl von dort aus das ganze Land gesteuert wurde. Trotzdem verstand das DDR-Volk auch die verklausulierten Botschaften, die nach draußen drangen. Als das Zentralorgan der SED Neues Deutschland am 19. Oktober 1989 darüber »informierte«, dass SED-Generalsekretär Erich Honecker einen Tag zuvor wegen seines angegriffenen Gesundheitszustands »bat«, von allen seinen Funktionen entbunden zu werden, wusste jeder, was tatsächlich dahintersteckte.

    Ob die Krankheit des 77-jährigen Erich Honecker möglicherweise so ansteckend war, dass sein Wirtschaftslenker Günter Mittag (63) und der Propagandachef Joachim Herrmann (61) gleich mitgehen mussten, eruierte Neues Deutschland erst gar nicht. Ebenso wenig wie die kaum Hoffnung machende Tatsache, dass die »neue« Führung der SED auch nach dem 18. Oktober 1989 ein »Club alter Herren« blieb. Frauen waren im obersten Führungszirkel, dem Politbüro des ZK der SED, ohnehin nicht vertreten. Senior Erich Mielke war nunmehr 81, Junior Egon Krenz, als mit großem Abstand jüngster Spitzenfunktionär, 52 Jahre alt. Das Durchschnittsalter im Politbüro betrug damals 67,3 Jahre und lag damit kräftig über dem DDR-Renteneintrittsalter von 65 Jahren für Männer.

    Dementsprechend ruhig ging es bei den Sitzungen im »Großen Haus« zu. In der DDR trug das frühere Reichsbankgebäude die Adresse »Haus des Zentralkomitees am Marx-Engels-Platz, 1020 Berlin« und war das größte Bürohaus Ostberlins. Günter Schabowski, damals 60, erinnerte sich an die Sitzungen des Politbüros: »Es war die Atmosphäre eines Klassenzimmers. Wer etwas sagen wollte, meldete sich, und manchmal nickte der eine oder andere auch schon mal ein.«

    Das änderte sich nun im Herbst 1989 schlagartig. Noch am Tag des Sturzes von Erich Honecker waren im Zentralkomitee, dem erweiterten Führungszirkel der Partei, ganz neue Töne zu hören. Sie zeigten die Götterdämmerung als Angst um den Verlust der Macht. »Wir haben keine Minute mehr Zeit«, mahnte Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann (60): »Uns steht das Wasser bis hierher. Wir stehen vor neuen gewaltigen Demonstrationen, die der Feind organisiert. (…) Wenn wir jetzt, wenn auch verspätet, uns nicht zu Wort melden, dann sind wir in der Gefahr, dass wir das Wort nicht mehr bekommen.«

    Bauminister Wolfgang Junker (60) kam gerade aufgeregt aus Leipzig zurück. Dort hatte er sich anhören müssen, wie die Stadt verrottete. Bitter beklagte er: »… ja, die Stadt zerfällt, was ja nicht wahr ist, es sind Teile der Stadt. Da werde ich als Idiot hingestellt. Was soll das alles? Wenn ich ein Idiot bin, muss die Partei darüber befinden.«

    Das tat sie nicht, denn andere Probleme drängten. Der geschmähte Minister eilte einige Tage später zu seinem Vertrauten Alexander Schalck-Golodkowski (57) und versuchte, ihn zur gemeinsamen Flucht nach Moskau zu überreden: »Alex, es ist alles aus. Krenz hat keine Macht mehr. Die werden uns alle aufhängen!« Auch der immer noch mächtige Staatssekretär im Außenhandelsministerium geriet mehr und mehr in Panik: »Irgendwann sagte ich zu meiner Frau: ›Es ist alles aus. Ich kann mich nur noch erschießen.‹« Sie reagierte sofort und schloss die persönliche Pistole ihres Mannes ein.

    Sich um derartige Befindlichkeiten Einzelner zu kümmern, stand auf keiner Tagesordnung. Es ging um den Versuch, politisch zu überleben. Sorgen ums Geld gab es dabei nicht, denn die Kassen der Partei waren prall gefüllt.

    Deshalb diskutierte im Zentralkomitee auch niemand darüber, als wenige Tage nach dem Sturz Erich Honeckers das Gerücht kursierte, er sei in Wirklichkeit ein schwerreicher Mann mit geheimen Konten in der Schweiz gewesen. In seinem Fall basierte es auf einem Telegramm aus Genf. Am 24. Oktober 1989 ging es bei der Ostberliner Staatsanwaltschaft ein. Die Botschaft lautete:

    teletex message ttx d

    24.10.89

    betr.: ihr nummernkonto 738654 saldenbestaetigung

    sehr geehrter herr honecker.

    bestaetigen hiermit den saldo ihres kontos zum 18.10.89, 24 uhr:

    schweizer franken 367.534.192,12 in worten

    dreihundertsiebenundsechzigmillionen, fünfhundertvierunddreißigtausend 192 franken und 12 rappen.

    soll der betrag weiterhin als tagesgeld angelegt bleiben oder planen sie den transfer zu einer anderen bank???

    wir bitten um diesbezuegliche nachricht.

    hochachtungsvoll

    s. suessli verwaltungsrat

    chredit suisse et rhône

    genf schweiz

    Offenbar wurde das Telegramm auch anderswo lanciert. Oberstaatsanwalt Bernhard Brocher: »Diese Unterlagen sind an den verschiedenen Stellen aufgetaucht, unter anderem erinnere ich mich, dass wir ein Exemplar unter den Unterlagen von Herrn Mittag hatten und noch bei mindestens zwei weiteren Politbüromitgliedern in der Wohnung gefunden haben.«

    Wie gesagt: In den hektischen Diskussionen im Zentralkomitee der SED spielte das Gerücht um das viele Geld keine Rolle.

    Am 8. November stand die nächste große Tagung an. Eine neue »Reiseregelung« sollte den Druck aus dem Kessel nehmen. Günter Schabowski verkündete sie am Abend des 9. November eher nebenbei. Er hatte die Sperrfrist für die Nachricht übersehen.

    Verteidigungsminister Heinz Keßler (69) versuchte, zu retten, was nicht mehr zu retten war. Während Zehntausende einen ersten Blick hinter die Mauer warfen, verkündete er: »Es wird vorgeschlagen etwa, das Grenzgebiet an der Staatsgrenze zur BRD von gegenwärtig fünf Kilometer auf 500 Meter bis maximal 1.000 Meter zu verringern. Dadurch würden circa 450 Ortschaften mit 170.000 Einwohnern aus dem Grenzgebiet herausgelöst werden.« Im »Sperrgebiet« stauten sich derweil die Trabis.

    Andere, wie der ZK-Abteilungsleiter für Planung und Finanzen, Günter Ehrensperger (58), träumten nicht mehr von den alten Zeiten, sondern redeten Klartext: »Wenn man mit einem Satz die Sache charakterisieren will, warum wir heute in dieser Situation sind, dann muss man ganz sachlich sagen, dass wir mindestens seit 1973 Jahr für Jahr über unsere Verhältnisse gelebt haben und uns etwas vorgemacht haben. Es wurden Schulden mit neuen Schulden bezahlt … Wenn wir aus dieser Situation herauskommen wollen, müssen wir 15 Jahre mindestens hart arbeiten und weniger verbrauchen, als wir produzieren.«

    Von einer selbstverschuldeten Misere wollte Chef­ideologe Kurt Hager (77) nichts wissen. Er machte am 10. November den Feind in Bonn als Schuldigen aus: »Wem das noch nicht klar ist, der hätte das vielleicht heute Nacht erkennen können, als der Bundestag geschlossen das Deutschlandlied sang und damit offenkundig wurde, welche Pläne realisiert worden sind und was noch beabsichtigt ist. Es ist beabsichtigt, mit unserer Partei Schluss zu machen, und es ist beabsichtigt, die DDR zumindest in eine große Abhängigkeit zu bringen.«

    Seinen Anteil an dieser Entwicklung sah er eher milde: »Ich muss auch sagen, dass ich ganz offensichtlich immer weiter mich entfernt habe vom tatsächlichen, realen täglichen Leben, von dem, was in den Betrieben oder in den Kaufhallen oder sonst wo vor sich ging.«

    Für den neuen SED-Chef Egon Krenz blieb hingegen keine Zeit zur Rückbesinnung. Am Morgen des 10. November hatte er die Sitzung mit einer Warnung eröffnet: »Ich weiß nicht, ob wir alle noch nicht den Ernst der Lage erkannt haben. Der Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, ist seit heute Nacht auf unsere Grenzen gerichtet.«

    Von »Panik und Chaos« war nun die Rede, und Egon Krenz konstatierte: »Die Lage hat sich in der Hauptstadt, in Suhl und in anderen Städten äußerst zugespitzt. Arbeiter verlassen Betriebe …«

    Drei Tage später, am 13. November, kündigten sämtliche DDR-Parteien in der Volkskammer der SED die Gefolgschaft auf. Erich Mielke sprach seine berühmten Worte von der Liebe zu allen Menschen, die er stets gepflegt habe, und wurde öffentlich ausgelacht. Ab 13 Uhr ging es im Zentralkomitee weiter.

    ZK-Kandidat Siegfried Funke, bislang nur einer der mehr als 200 Statisten im Zentralkomitee, berichtete Erschreckendes: »Zurzeit werden draußen in den Betrieben Parteisekretäre reihenweise abgeschlachtet. Sie müssen sich gerade bekennen für das, was das Politbüro getan hat.« Das stimmte zwar nicht, aber dem einen oder anderen jagte es schon einen gehörigen Schrecken ein.

    Hans Modrow, damals 61 Jahre alt, SED-Chef im Bezirk Dresden und gerade zum neuen Ministerpräsidenten gekürt, machte sich Gedanken über die nächsten Wahlen. Sie sollten möglichst verzögert werden: »Wenn wir gegenwärtig Wahlen machen, können wir uns alle ausrechnen, wie hoch der Prozentsatz für die SED sein wird. Das können sich auch die anderen Parteien ausrechnen, wie sie aussehen …«

    Es war allerhand in Bewegung geraten, und es waren nicht nur die Zehntausende, die täglich die DDR verließen. Am 16. November versprach Neues Deutschland auf Seite eins: Wir »haben die Ursachen der ernsten Mängel zu analysieren versucht und einen Standpunkt erarbeitet, wie wir als Journalisten, als Mitarbeiter im Organ des Zentralkomitees der SED zur Erneuerung des Sozialismus in der DDR, zur Erneuerung unserer Partei beitragen können …« Andere Blätter begannen an diesem Tag mit dem Abdruck der Programme des Westfernsehens.

    Auf den DDR-Bildschirmen war am 19. November Egon Krenz ganz privat in seinem neuen Haus in Berlin-Pankow zu bewundern, und Hans Modrow musste am 21. November seinen Ausweis vorzeigen, bevor er unangemeldet das Elektro-Apparate-Werk (EAW) Berlin-Treptow besuchen durfte. Als junger Mann hatte er dort einmal ein Betriebspraktikum gemacht.

    All das war ebenso neu wie die nun einander jagenden Diskussionen und Tagungen der SED-Führung.

    Bereits am 13. November 1989 hatte die in ungewohnte Bewegung geratene Volkskammer die Einrichtung eines zeitweiligen Untersuchungsausschusses »zur Überprüfung von Fällen des Amtsmissbrauchs, der Korruption, der persönlichen Bereicherung und anderen Verdachts der Gesetzesverletzung« beschlossen. Er konstituierte sich am 22. November und bestand aus je zwei Vertretern aus jeder der zehn im Parlament vertretenen Fraktionen. Vorsitzender wurde der von 1960 bis 1986 als Präsident des Obersten Gerichts der DDR tätig gewesene CDU-Abgeordnete Heinrich Toeplitz (75), der der Volkskammer seit 1951 angehörte.

    Am 30. November 1989 gab es dann endlich auch grünes Licht für die Aufklärung der Vergangenheit aus dem Zentralkomitee der SED. Egon Krenz verkündete: »Ich muss sagen, dass Amtsmissbrauch und Korruption eines Mitglieds der SED unwürdig ist. So werden wir auch alle diese Fälle aufdecken.«

    Als das der Rentner Erich Honecker in seinem Haus hinter den Mauern der Funktionärssiedlung in Wandlitz in der Zeitung las, fühlte er sich zu Unrecht beschuldigt. Gleich am 1. Dezember stellte er deshalb seinerseits »Strafanzeige wegen öffentlicher Verleumdung und der Beschuldigung der Korruption«. Sie wurde zwar nicht verfolgt, aber später in seiner Akte unter dem Aktenzeichen 111-1-90 abgelegt.

    Am 2. Dezember informierten die Zeitungen über erste Ergebnisse der Untersuchungskommission der Volkskammer. Nun tauchte auch das Gerücht über die Honecker-Millionen wieder auf. Die Berliner Zeitung berichtete an diesem Tag von einem Vorstoß des Abgeordneten der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD), Gerd Staegemann, Zahnmediziner und Professor an der Medizinischen Akademie »Carl Gustav Carus« in Dresden, seit 1966 Abgeordneter der Volkskammer: »Große Zustimmung im Plenarsaal fand Prof. Dr. Gerd Staegemann von der NDPD-Fraktion, der eine Stellungnahme zu den Gerüchten von geheimen Konten in der Schweiz mit Einlagen von etwa 100 Milliarden Mark forderte. Derartige Machenschaften seien entschieden zu verurteilen und rückhaltlos aufzudecken. Außenhandelsminister Beil teilte mit, von derartigen Konten nichts zu wissen.« Dass sich das Gerücht also inzwischen potenziert hatte – im Genfer Telegramm war von rund 370 Millionen Franken die Rede –, schien niemandem aufzufallen.

    Am 3. Dezember 1989 um 8.30 Uhr kam das Politbüro zu seiner letzten Sitzung zusammen. Am Morgen jenes Tages wurden Harry Tisch (62) und Günter Mittag in Wandlitz verhaftet. Auf der folgenden ZK-Sitzung ab 13 Uhr gab Hans Modrow bekannt, dass sich Alexander Schalck-Golodkowski in den Westen abgesetzt hatte.

    Zu diesem Zeitpunkt waren die SED-Chefs in den fünfzehn DDR-Bezirken bereits weitgehend abgelöst. Egon Krenz kämpfte mit den verschiedenen Vorschlägen, wie es künftig mit der Partei weitergehen solle: »Das ist doch eine unerträgliche Situation. Drei-, viermal am Tage kriege ich von verschiedenen Genossen, die erst mal das vorgeschlagen haben, dann das vorgeschlagen haben, eine andere Meinung … Also, das ist doch unerträglich. Wir brauchen doch eine Disziplin in dieser Partei. Wir sind doch kein zusammengelaufener Haufen. Entschuldigt bitte, bitte um Verzeihung, Genossen! Aber irgendwo sind ja die Nerven auch …«

    Wie blank die Nerven lagen, zeigte Bernhard Quandt, 86 Jahre alt, nach dem Krieg Ministerpräsident Mecklenburgs und danach bis 1974 SED-Chef im Bezirk Schwerin. Mit brüchiger Stimme, weinend und zitternd, hielt der alte Mann seine letzte Rede: »Liebe Genossen, mir fällt es sehr schwer, hier und heute vor dem Zentralkomitee aufzutreten, wo gesagt worden ist, dass unsere Partei, unsere ruhmreiche Partei, in Gefahr ist, sich aufzulösen. Das fällt mir sehr schwer zu begreifen. (…) Und jetzt soll es mit der Partei zu Ende sein? Das darf nicht sein, Genossen, das darf nicht sein! (…) Wir haben im Staatsrat die Todesstrafe aufgehoben, ich bin dafür, dass wir sie wieder einführen und dass wir alle standrechtlich erschießen, die unsere Partei in eine solche Schmach gebracht haben … Wir stehen als Zentralkomitee einer solchen Verbrecherbande als Gefolgschaft hintereinander, das will mir nicht in den Kopf …«

    Für derart radikale Lösungen war es längst zu spät. Um 14.50 Uhr schloss Egon Krenz die letzte Tagung des ZK. Es war vorbei. Die bisherige SED-Führung hatte sich aufgelöst.

    Zwei Tage später leitete der Generalstaatsanwalt Ermittlungsverfahren gegen die vormaligen SED-Spitzenfunktionäre Erich Honecker, Erich Mielke, Günther Kleiber (58), Werner Krolikowski (61), Willi Stoph (75) und Hermann Axen (73) sowie den Stellvertreter Ale­x­ander Schalck-Golodkowskis, Manfred Seidel (61), ein. Nach den geltenden DDR-Gesetzen erforderte in allen Fällen die Schwere des Tatverdachts eine Untersuchungshaft.

    Erich Honecker wartete derweil in Wandlitz auf eine Reaktion auf seine Strafanzeige wegen der aus seiner Sicht unberechtigten Verleumdung und der Beschuldigung der Korruption. Weil nichts passierte, schrieb er am 5. Dezember einen empörten Brief an Generalstaatsanwalt Günter Wendland: »Erstens ersuche ich um Ermittlung der Verursacher dieser öffentlichen Verleumdung, zweitens ersuche ich den Generalstaatsanwalt um die restlose Aufklärung des Sachverhaltes ohne Ansehen von Personen …« Wieder gab es keine Antwort. Stattdessen plante die Generalstaatsanwaltschaft für den 7. Dezember weitere Verhaftungen der abgesetzten SED-Spitzenfunktionäre.

    Bei Erich Honecker gestaltete sich das schwierig, denn der angegriffene Gesundheitszustand des 77-Jährigen erlaubte keine Haft. Deshalb blieb den Staatsanwälten zunächst nichts anderes übrig, als dem gestürzten Staatschef lediglich mitzuteilen, dass gegen ihn ermittelt würde. Erich Honecker glaubte erst einmal, es ginge nun endlich um seine Anzeige vom 1. Dezember und seinen Brief dazu vom 5. des Monats. Als sich dies als Irrtum herausstellte, schoss ihm der Blutdruck hoch und der Atem wurde schwer. Die immer noch für seine Betreuung zuständigen MfS-Mitarbeiter hatten das Telefon im Haus bereits abgeklemmt, so dass es schwierig wurde, einen Arzt zu alarmieren. Doch schließlich klappte es. Dann folgte eine fast vierstündige Hausdurchsuchung.

    Sie erbrachte keine relevanten Beweise, aber immerhin erste Aufschlüsse über das Vermögen von Margot und Erich Honecker. Ihre Sparbücher der Berliner Sparkasse wiesen per 28. November 1989 für Erich Honecker 211.994 Mark und für seine Frau Margot 77.502 Mark aus. Sie wurden konfisziert.

    Die Hintergründe des ominösen Telegramms aus Genf erklärte das alles nicht. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass es in dieser Form – also als »Privatvermögen« Erich Honeckers – weder Konto noch Kohle gab.

    Marc Dosch, Sprecher der Credit Suisse, bestätigte bei späteren Recherchen: »Dieses Telex kann nicht aus unserem Hause stammen. Unsere Bank trat nicht unter diesem Namen auf, und es gab nie einen Verwaltungsrat mit dem Namen Süssli.«

    Die Spur zum »Klassenfeind« schien ebenfalls eiskalt zu sein. David von Kiedrowski, Sprecher des Bundesnachrichtendienstes: »Dem BND ist dieses Telex nicht bekannt.« Das ist kaum zu bezweifeln, denn den westlichen Nachrichtendienstlern war die Götterdämmerung am Werderschen Markt offenbar insgesamt kaum aufgefallen. Drei Tage vor dem Mauerfall hatte der Bundesnachrichtendienst sogar noch eine Sensation nach Bonn zu vermelden: Erich Honecker habe »am 6.11. seine Schwester in Wiebelskirchen/Saarland besucht« und sei »dann zur ärztlichen Behandlung in die Schweiz weitergereist«. Hätten die Geheimdienstler ihren eigenen Berichten getraut, wäre das kaum noch nötig gewesen. Im August 1989 soll Erich Honecker laut BND tödlichen Bauchspeicheldrüsenkrebs gehabt haben. Tatsächlich gab es am 13. September 1989 dann auch eine »Expressmeldung« nach Bonn – vorsichtshalber wurde auf »erhebliche Zweifel« hingewiesen –, nach der der DDR-Chef verstorben und das Begräbnis für den 24. September 1989 geplant sei.

    Dennoch zeigte das merkwürdige Telegramm damals seine Wirkung, denn nun war das Gerücht, Honecker habe privat Geld in der Schweiz gebunkert, erst einmal in der Welt.

    Ausweislich einer Paraphe Margot Honeckers mit Datum vom 25. Oktober 1989 auf einem Exemplar des fraglichen Telegramms erfuhr auch der angebliche Besitzer selbst von seinem vermeintlichen Reichtum. Die Fälschung war wohl zu offensichtlich, um ihm Sorgen zu bereiten. Aber offenbar hatte er einen Verdacht. Erich Honecker: »Die Schweizer Banken haben das dementiert, und auch die famose Erfindung eines NVA-Angehörigen über ein Konto von mir im Umfang von 370 Millionen Francs erwies sich als eine Fehlleistung.«

    Wer Interesse daran gehabt haben könnte, dem abgesetzten SED-Chef durch ein solches Gerücht zu schaden, blieb im Dunkeln. Oberstaatsanwalt Brocher: »Also wir haben das nicht ermittelt … Aber für mich deutet vieles darauf hin, dass entsprechende Truppen im MfS, die auch nicht unbeteiligt am Machtwechsel in der DDR im Oktober interessiert waren, die am besten Geeigneten für so etwas sind. Aber es könnte auch natürlich aus anderen Bereichen stammen. Möglicherweise auch aus konkurrierenden Gruppen in der Partei.«

    Am Ende wies die gezielte Desinformation nur auf ein Problem hin, das in der hektischen Auflösungsphase der alten SED-Führung aus gutem Grund unerwähnt blieb: Die Erbschaft aus mehr als vierzig Jahren uneingeschränkten Wirtschaftens ohne jegliche Begrenzung oder Rechenschaftspflicht. Es ging um viel Geld und noch mehr Vermögen im In- und Ausland, über das nur ganz wenige Bescheid wussten. Dieser »Schatz der Arbeiterklasse« sollte das »Auf zum letzten Gefecht« der nächsten Jahre bestimmen.

    1. Kapitel

    Die Verwandlung einer Partei

    Am 28. März 1988 beklagte sich Neues Deutschland heftig darüber, dass unter seinem Namen unverschämt gelogen würde. Das war aber beileibe kein selbstkritischer Blick auf die eigene Arbeit. Das Blatt druckte eine Meldung der DDR-Nachrichtenagentur ADN. Sie teilte mit, dass »im Verkehr zwischen der BRD, Berlin (West) und der DDR eine primitive, im Westen hergestellte Falschausgabe des ›Neuen Deutschlands‹ verbreitet« worden sei.

    Die Sache hatte derweil nicht nur hektische Aktivitäten bei der völlig überraschten Stasi ausgelöst, sondern machte auch die Zeitungen im Westen auf einen offenbar unerhörten Vorgang aufmerksam.

    Am 19. März war einigen Tausend DDR-Bürgern ein Neues Deutschland in die Hände geraten, das sie überraschte und staunen ließ. »Der neue ›Glasklar‹-Kurs der SED erobert die Herzen der Massen«, hieß der Aufmacherartikel. Die Vorzeilen erläuterten: »Öffnung der SED nach Glasnost-Vorbild. Umfassende Reformen gehen weiter. Erich Honecker als großer Erneuerer des Sozialismus gewürdigt«.

    Das Imitat sah täuschend echt aus. Das miese Zeitungspapier stimmte, das Layout entsprach der gewohnten Langeweile, und die Typographie saß. Nur das Format war ein wenig kleiner, und der Inhalt schien sensationell. Erich Honecker erläuterte die neue Politik, und ein »Großes ND-Quiz« stellte die Frage: »Was wird aus der Mauer?« Dazu wurden gleich »Sieben mutige Vorschläge« mitgeliefert, wie sie verschwinden könnte. In einer »Bekanntmachung der Musterung für den Wehrdienst« wurden die jungen Männer vom Geburtsjahrgang 1970 darauf aufmerksam gemacht, dass sie aus Gewissensgründen auch einen Ersatzdienst leisten könnten, und nicht einmal eine Kurznachricht fehlte, die vermeldete: »Der Fernsehkommentator Karl-Eduard von Schnitzler hat es vorgezogen, die DDR zu verlassen. Er wird seinen Alterswohnsitz in der Volksrepublik Albanien nehmen.«

    All das konnte nicht echt sein. Doch wer steckte dahinter? Die Stasi hatte die Westberliner taz im Verdacht, aber bereits nach wenigen Tagen stellte sie fest: »Inoffiziell konnten Informationen erarbeitet werden, wonach der o. g. Falschdruck mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Zeitschrift ›Tempo‹ in Hamburg herausgegeben wurde.«

    Damit lag sie richtig. Das 1985 von dem österrei­chischen Journalisten Markus Peichl gegründete und von ihm bis 1990 als Chefredakteur geführte Magazin hatte die rund 6.000 Exemplare der falschen Ausgabe des Neuen Deutschland hergestellt.

    In der DDR begann es damals – meist noch unter der Decke – langsam zu gären. Markus Peichl erinnert sich: »Wir wollten ein Zeichen setzen. Wir wollten zeigen, dass der Westen nicht pennt, wenn die kritischen Leute in der DDR aufwachen.«

    Via Westfernsehen gelangte die Information über die ND-Fälschung zurück in die DDR. Dort suchten nun viele nach dem sensationellen »Zentralorgan«. Die Tempo-Redaktion hatte es über den Limousinenservice der Ostberliner Devisenhotels über die Grenze geschmuggelt. Danach verteilten Teams von Freiwilligen das Blatt in Hausbriefkästen und legten es an öffentlichen Plätzen aus, um so Fotos von erstaunten Ostlesern machen zu können. Ein Teil gelangte auch über den Postweg oder Interzonenzüge ins Land. Die Stasi notierte am 22. März 1988, dass 178 »fiktive Zeitungen« im D 439 Köln–Rostock entdeckt wurden: »Die Zeitungen befanden sich abgelegt in Toiletten, Waschräumen und Abteilen.«

    Eigentlich war die Idee, unter dem echten Kopf einer Zeitung falsche Nachrichten zu verbreiten, durchaus nicht neu und von den Propagandamachern verschiedenster Couleur x-mal erprobt. Trotzdem dürfte das gefälschte ND etwas erreicht haben, was Satire üblicherweise kaum schafft: Weniger als tausend Tage später wurden fast alle der frei erfundenen »Nachrichten« wahr! Sechs Beispiele: ∙ »Revolutionärer Vorschlag – DDR schafft AKWs ab« ∙ »Volkskammer beschließt bürgernahe Justiz – Auch neue Gesetze zur Staatssicherheit beraten« ∙ »DDR-Mark jetzt Hartwährung … ›Genex‹ wird aufgelöst« ∙ »DDR wird zum Einkaufsparadies – Anschluss ans Weltniveau erreicht« ∙ »›Billy‹ ist endlich da« ∙ »Hinaus in die Welt – Neue Flüge und Pauschalreisen«.

    Nach dem Sturz Erich Honeckers am 18. Oktober 1989 und dem drei Wochen später erfolgten Mauerfall traf die Wucht der Ereignisse besonders die über vierzig Jahre lang die DDR beherrschende SED.

    Am 1. Dezember 1989 änderte die Volkskammer die Verfassung und strich den bis dahin gesetzlich festgelegten Führungsanspruch der Partei. Auch die Mehrheit der SED-Abgeordneten stimmte dafür. Nur fünf Abgeordnete enthielten sich des Votums.

    Am 4. Dezember 1989 informierte das Parteiblatt über den Rauswurf von Erich Honecker, Erich Mielke und weiteren früheren Spitzenfunktionären aus der SED. Nun musste alles sehr schnell gehen. Neues Deutschland kündigte an: »Das bisherige Zentralkomitee betrachtet es als seine Pflicht, vor dem einberufenen außerordentlichen Parteitag Rechenschaft über die Ursachen für die Krise in der SED und in der Gesellschaft abzulegen.« Diesen Parteitag in der Regie der derweil entmachteten DDR-Staatspartei gab es nicht mehr. Stattdessen versammelten sich die Genossinnen und Genossen zu einem ganz anderen Zweck.

    Das Märchen vom eisernen Besen

    An vorweihnachtliche Besinnlichkeit mochte im Dezember 1989 kaum jemand denken. Stattdessen saßen viele Leute nach ihren ersten Ausflügen in den Westen am Abend vor dem Ostkanal ihres Fernsehgeräts, was ungewöhnlich genug war. Sie lernten so einen bis dahin den meisten unbekannten, kleinen Mann mit einem riesengroßen Besen kennen. Er sollte die bislang allmächtige Sozialistische Einheitspartei Deutschlands auf Kurs zur Erneuerung der DDR bringen. Sein Name: Gregor Gysi. Um die vom Besen symbolisierte Aufgabe zu erledigen, war erst einmal ein gründliches Reinemachen angesagt. »Die Partei« stand derweil im Verdacht, in ihrer Führung von Amtsmissbrauch und Korruption durchsetzt zu sein.

    Dagegen versuchte sie sich nun zu wehren. Plötzlich wusste jeder, wer an allem schuld war. Neue Köpfe wurden gesucht.

    Dazu fanden sich am 8. und 9. Dezember Genossinnen und Genossen aus den Grundorganisationen der SED in der Dynamo-Sporthalle in Berlin-Hohenschönhausen zu einem Sonderparteitag zusammen. Die Hektik war offenbar so groß, dass im Nachhinein nicht einmal ihre genaue Zahl festzustellen ist. Die Linkspartei nennt in ihrer Chronik 2.878 Abgesandte, die erstmals wieder in geheimer Wahl bestimmt wurden. Der Mitteldeutsche Rundfunk sprach später von 2.750 Delegierten und 92 Gästen aus den Bezirken, der Nachrichtensender n-tv zählte 2.147 Parteitagsteilnehmer. Sie alle, wie viele es auch immer gewesen sein mögen, sollten die Weichen für die Zukunft stellen. Hans Modrow, seit knapp einem Monat der neue Ministerpräsident der DDR, bestimmte die Marschrichtung: »Lasst uns diese Partei, die sich auf Karl Marx und Friedrich Engels, Wilhelm Liebknecht und August Bebel, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Ernst Thälmann und Rudolf Breitscheid, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl beruft, lasst diese Partei nicht zerbrechen, nicht untergehen, sondern macht sie sauber und stark!«

    Das klang gut. Aufbruch und Neuanfang schienen vielen möglich. Dass die DDR ohne ihre Mauer keine Überlebenschance hatte, war für die meisten ihrer Bürger damals noch undenkbar. Eine »bessere DDR« war nicht nur das Ziel vieler der in der SED organisierten Frauen und Männer, sondern auch das der neu entstandenen Bürgerbewegungen. Sie hatten den Sturz der bisherigen Machthaber initiiert. Die immer noch mächtige Partei musste künftig mit Konzepten und Inhalten überzeugen, wenn sie den gesellschaftlichen Umbruch überhaupt mitgestalten wollte.

    Damit stellte sich eine ungewohnte Aufgabe, denn mehr als vierzig Jahre stützte sich die SED auf die Bajonette der sowjetischen Besatzer. Als Michail Gorbatschow am Tag seiner Amtsübernahme darauf verwies, dass künftig jedes Land seinen eigenen Weg »zum Sozialismus« finden müsse, nahm das in Ostberlin niemand so richtig ernst. Der Fall der Mauer am 9. November 1989 bewies dann, dass es Moskau tatsächlich so meinte, wie angekündigt.

    Das hatte nun auch die wankende Staatspartei begriffen. Für Hans Modrows Brandrede auf dem Sonderparteitag gab es brausenden Beifall. Die muffige, erstarrte Organisation schien aus einem jahrelangen Dornröschenschlaf erwacht zu sein. Rund ein Viertel der Delegierten wollten einen radikalen Neuanfang. Damit waren sie sich mit vielen DDR-Bürgern einig. Die Auflösung der alten und die Gründung einer neuen Partei stand dabei auf der Tagesordnung. Nicht weniger als »sauber und stark« sollte die neue Partei werden. Über den Weg dahin hatte die neue Führung, trotz des symbolisch übergebenen Besens zur Reinigung, ihre eigenen Vorstellungen.

    Schon in seiner Antrittsrede erklärte der gerade gewählte Vorsitzende Gregor Gysi, weshalb solch ein neuer Start auf keinen Fall mit dem Ende der alten SED verbunden sein

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