Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Bausoldaten-Blues: Erinnerungen eines Waffenverweigerers in der DDR
Bausoldaten-Blues: Erinnerungen eines Waffenverweigerers in der DDR
Bausoldaten-Blues: Erinnerungen eines Waffenverweigerers in der DDR
eBook344 Seiten4 Stunden

Bausoldaten-Blues: Erinnerungen eines Waffenverweigerers in der DDR

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Bausoldaten waren 25 Jahre lang ein vor der Öffentlichkeit totgeschwiegenes Thema in der DDR. Ab 1964, kurz nach Einführung der Wehrpflicht, hatten junge Männer die Möglichkeit, aus pazifistischen oder religiösen Motiven den Wehrdienst mit der Waffe zu verweigern – und dafür 18 Monate lang als Bausoldat zumeist in industriellen Großbetrieben der DDR zu arbeiten. Eine legalisierte Form des Widerstandes, die die Kirche als Kompromiss mit der Staatsmacht erreichte und die ca. 7000 Männer in Anspruch nahmen. Der Autor schildert in diesem Buch seine persönlichen Erfahrungen als Bausoldat 1987–88 in der DDR. Mal humorvoll, mal schockierend beschreibt er den Alltag in der Kaserne und die oftmals diskriminierende Arbeit in einem Chemie-Werk, aber auch private Erlebnisse wie die Gründung einer Soldaten-Blues-Band, einen längeren Krankenhausaufenthalt und eine tragische Liebesbeziehung. Spannend und unterhaltsam geschrieben, lässt der Autor ein noch immer wenig bekanntes und aufgearbeitetes Kapitel der DDR-Geschichte lebendig werden.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Ludwig
Erscheinungsdatum8. Feb. 2012
ISBN9783869351704
Bausoldaten-Blues: Erinnerungen eines Waffenverweigerers in der DDR

Ähnlich wie Bausoldaten-Blues

Ähnliche E-Books

Biografien – Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Bausoldaten-Blues

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Bausoldaten-Blues - Jennifer Lorenzen-Peth

    Lucas Ackermann

    Bausoldatenblues

    Erinnerungen eines Waffenverweigerers in der DDR

    Herausgegeben von Jennifer Lorenzen-Peth

    Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

    © 2012 by Verlag Ludwig

    Holtenauer Straße 141

    24118 Kiel

    Tel.: +49-(0)431-85464

    Fax: +49-(0)431-8058305

    info@verlag-ludwig.de

    www.verlag-ludwig.de

    ISBN 978-3-86935-170-4

    Für Pauline

    Erstes Kapitel: Es geht los

    1

    Ich würde behaupten, die folgende Geschichte begann, als ich vierzehn Jahre alt war – 1975 am Stadtrand von Berlin in der Deutschen ›Demokratischen‹ Republik.

    Zufällig hörte ich eines Abends Radio, als der RIAS-Berlin in einer Themensendung schwarzen Blues vorstellte. Den Namen Blues kannte ich, aber von derartiger Musik wusste ich so gut wie nichts. Schon nach kurzer Zeit rutschte ich vom Sofa und aktivierte mein Tonband­gerät. Ich konnte es nicht erklären, aber diese Musik hatte etwas, das mich aufwühlte.

    Wie gerne hätte ich zu dieser Zeit im richtigen Land gelebt und nicht im farblosen russischen Sektor. Ein Segen für uns war, dass wir auch in Ostberlin Westradio empfangen konnten, in dem damals noch sehr viel alte Rockmusik gespielt wurde, ja, sogar im Jugendradio der DDR, DT 64, war einiges davon zu hören.

    Die Kleinstadt, aus der ich stamme, heißt Hennigsdorf und liegt direkt an der Nord-West-Grenze Berlins. Damals zog sich die Berliner Mauer zwischen Hennigsdorf und dem Westberliner Stadtteil Heiligensee hindurch. Wenn man mit der S-Bahn nach Ostberlin hinein fuhr, konnte man vom Zug aus an manchen Stellen sogar die Sol­daten in den Wachtürmen erkennen, wie sie die Gegend mit Ferngläsern absuchten.

    Irgendwann hatte ich nur noch ein Ziel: Bloß weg aus der Provinz und nach Berlin übersiedeln, denn einzig dort – so glaubte ich – konnte man den richtigen Platz zum Leben finden. Aber das sollte nicht so einfach sein, denn ohne Wohnung gab es kaum eine Chance. Auf eine Wohnung brauchten Junggesellen in der DDR unter drei­ßig jedoch gar nicht zu hoffen. Und bis dahin hatte ich damals noch viel Zeit.

    Bald nach meinem geistigen Eintritt in die Blueswelt kaufte ich mir eine Mundharmonika, und nach ungefähr zwei Jahren beharrlichen Übens ähnelte mein Mundharmonikaspiel schon beinahe dem, was man »Musizieren« nennt. Mit siebzehn überredete ich zum ersten Mal eine Live-Band, dass sie mich bei einer Bluesimprovisation mitspielen ließ. Da dies ganz gut klappte, war ab diesem Moment keine Band mehr vor mir sicher. Später vertrat ich dann sogar den Sänger und Harpspieler (Harp nennt man die Mundharmonika im Blues) einer bekannten Berliner Bluesband, während er seinen Dienst bei der NVA leistete.

    In dieser Zeit sollte ich in all den Berliner Clubs spielen, zu denen ich früher selbst immer aus der Provinz angereist kam, um die guten Berliner Bluesbands zu sehen. Wir traten unter anderem im ›Heinersdorfer Krug‹ auf, im ›Thule Club‹ in Pankow, im ›Club der Berliner Bauarbeiterjugend‹ oder im ›Krausnick-Club‹. Und natürlich über die Grenzen Berlins hinaus, wobei die Lausitz mit ihren versteckten, aber sehr gut besuchten Dorfkneipensälen ein besonders beliebtes Ziel aller damaligen Bluesbands war.

    Noch immer versuchte ich, nach Berlin überzusiedeln. Keine Chance. Einige Freunde besetzten alte verlassene Häuser im Prenzlauer Berg. Weil diese Wohnungen sanitär und wohnraumtechnisch nicht mehr als vermietbar galten, ließen die kommunalen Wohnungsgesellschaften sie leer stehen. Geld für Baustoffe war nicht knapp, jedoch fehlte es an diesen. Aber ein Eimer Farbe, Gips und etwas handwerkliches Geschick reichten manchmal schon aus, um aus den heruntergekommenen Buden recht gemütliche Domizile zu machen. Anders als im Westen Deutschlands, dachte niemand daran, die Besetzer aus den Häusern zu werfen. Das Ganze wurde unter vorgehaltener Hand geduldet, denn für die heimlichen Besetzer im Osten brauchten vom Staat ja nun keine intakten Wohnungen mehr bereitgestellt zu werden. Die Sache hatte also nur wenig mit der Hausbesetzerszene im Westen gemeinsam.

    Bevor ich ebenfalls eine dieser Wohnungen für mich ausfindig machen konnte, lernte ich Vera kennen und wir kamen uns näher. Sie hatte eine große Wohnung in Berlin und sie fragte mich, ob ich nicht bei ihr einziehen wollte, zunächst als WG.

    Ich kündigte also meinen Job als Maschinenschlosser und meldete mich in Berlin Friedrichshain polizeilich an. Genug Geld zum Leben verdiente ich durch die Musik und ein ruhiger Nebenjob würde sich schon finden lassen.

    Aus unserer WG wurde eine Liebesbeziehung und daraus eine Ehe. Wir heirateten nicht unbedingt, weil wir ineinander verliebt waren, sondern aus folgendem Grund: Ich wollte in den Westen gehen und hatte schon mit einundzwanzig einen Ausreiseantrag gestellt. Vera verfolgte das gleiche Ziel, hatte aber noch keinen Antrag eingereicht. Als wir erfuhren, dass die Wartezeit der Ausreisewilligen auf den Ehepartner übertragen werden konnte, heirateten wir ganz einfach.

    Ich fühlte mit der Zeit, dass Vera nicht unbedingt mich liebte, sondern mehr das, was ich machte. Zu oft prahlte sie mit mir als Musiker vor anderen und jedes Mal ärgerte ich mich sehr darüber. Außerdem kam es auch mehrmals vor, dass Vera mich einfach im Raum stehen ließ, wenn andere Szenemusiker eine Veranstaltung besuchten, die sie wiederum nur durch mich kennen gelernt hatte. Sie war mir manchmal peinlich und ich spürte schon damals, dass dies der Anfang vom Ende war.

    Zum Glück brauchten kleine Leute wie wir nicht mit Repressalien wegen des Ausreiseantrages zu rechnen. Jedenfalls nicht, solange sie politisch unauffällig blieben und nicht gegen das Regime hetzten. Wir behielten unsere Jobs und damit, dass die Stasi überall ihre Augen und Ohren hatte, musste sowieso jeder Bürger der DDR rechnen. Ich hatte jedenfalls keine Angst und fühlte mich auch nicht bespitzelt.

    2

    Ich wusste aber, dass mein Leben irgendwann eine Zwangspause erfahren würde, denn ich hatte noch nicht gedient. Jedes halbe Jahr im Frühjahr und im Herbst öffnete ich mit gemischten Gefühlen unseren Briefkasten, denn immer zu diesen Jahreszeiten kamen die Stellungsbefehle.

    Im März ’87 wurde ich 26 Jahre alt und Ende März begann wieder die Zeit des Bibberns. In diesem Jahr musste es passieren, das wusste ich, denn die Höchstaltersgrenze für Rekruten lag in der DDR bei 26 Jahren. Ich hatte selbst dafür gesorgt, dass sie mich nicht schon eher einzogen. Ich hielt mich an ein Gesetz aus dem Jahre 1964, das besagte, dass es in der DDR möglich sei, seinen Wehrdienst auch ohne Waffe in der Hand abzuleisten. Man hieß dann Bausoldat. Ein guter Bekannter hatte mir davon erzählt, der die Info darüber wiederum von seinem Kirchengang bekam, und die Jungs von der Kirche waren meistens wasserdicht, wenn es um so etwas ging. Der Staat nämlich, wie ich von meinem Bekannten erfuhr, ging mit dem Vorhandensein dieses Gesetzes nicht gerade hausieren, weshalb auch nur wenige DDR-Bürger davon wussten. Ich verließ mich jedenfalls darauf und die Sache klappte.

    Als ich den Waffendienst mit 19 Jahren verweigerte, geschah dies aus rein pazifistischen Gründen, ohne Christ zu sein, denn mit der Kirche hatte ich, außer Bluesmessen, bei denen oft tolle Leute musi­zierten, nichts am Hut. Ein anderer Grund, warum junge Männer die Waffe verweigerten war, dass man nach seiner Entlassung als Bausoldat keiner zweijährigen Schweigepflicht unterstand, wie die Truppe, die unter Waffen standen. Das war für Leute mit einem laufenden Ausreiseantrag wichtig, denn wer unter Schweigepflicht stand, durfte während dieser Zeit das Land in Richtung Westen nicht verlassen. So manchen Bausoldaten mit einem Ausreiseantrag in der Tasche schob man schon kurze Zeit nach der Entlassung in den Westen ab, damit er den Frieden im Lande mit seinem Geschwätz über Freiheit nicht mehr störte. Das mit der Schweigepflicht wusste ich vorher nicht und freute mich natürlich, als ich davon erfuhr.

    Mitte April ’87: Da war sie nun endlich. Meine Einberufung zur Nationalen Volksarmee. Ich sollte nach Merseburg, das südlich von Halle liegt – also in Sachsen-Anhalt. Das mussten von Berlin aus ungefähr zweihundert Kilometer sein.

    Nachdem ich der Band – nach der Rückkehr des alten Sängers arbeiteten wir mit zwei Sängern – bei der Vormittagsprobe erzählt hatte, was los war, fuhr ich zu Veras Arbeitsstelle, einem Kurzwarenladen (für alle, die diesen typisch ›ostdeutschen‹ Ausdruck nicht kennen: ein Nähbedarfsladen).

    Veras Chef begrüßte mich wie immer freundlich und lud mich nach hinten zum Kaffee ein.

    »Nun erzählen Sie schon, Herr Ackermann. Zu welcher Truppe hat man Sie befohlen?«, fragte der Alte nun neugierig.

    »Ich bin kein richtiger Soldat, müssen Sie wissen.«

    Er sah mich entgeistert an. »Wie kann ich das denn verstehen?«

    »Kennen sie die Bausoldaten oder Spatensoldaten, im Volksmund ›Spaties‹ genannt?«

    Der Chef blickte mit großen Augen zu Vera. »Nein, damit kann ich nichts anfangen.«

    Nun begann ich die ganze Geschichte zu erzählen. Vera sagte während meiner Ausführungen kein Wort.

    Der Chef aber schien so sehr begeistert, dass er sogar eine Flasche Sekt spendierte. »Ach, Herr Ackermann, Sie sind ja ein mutiges Kerlchen.«

    »Dazu gehört gar nicht so viel Mut«, sagte ich. »Das Ganze ist schließlich gesetzlich verankert. Die einzige Gefahr dabei ist wohl, dass man weich wird.«

    »Wieso weich?« fragte der Chef dazwischen.

    »Ich habe die Waffe mit 19 verweigert und die Musterungskommission hat mir schon damals gesagt, dass sie mich deshalb erst mit 26 einziehen werden. Wenn ich jedoch meine Meinung ändere, könnten sie mich sofort einziehen. Einige halten das nicht durch und ziehen die Verweigerung letztendlich zurück. Manchen hat man auch gedroht, dass sie nicht studieren dürfen, wenn sie es nicht zurückziehen, aber ich weiß von Leuten, die trotzdem studiert hatten, bevor sie mit 26 als Bausoldaten eingezogen worden sind.«

    Endlich war der Chef zufrieden. Vera bekam sogar den restlichen Nachmittag frei, damit sie mich trösten konnte. Es war unklar, wie wir die räumliche Trennung die nächsten 18 Monate aushalten würden – unsere Beziehungsprobleme hatten sich schon sehr zugespitzt.

    Natürlich hielt ich mich damals noch für mutig, immerhin hatte ich in meinem Land den Dienst mit der Waffe in der Hand verweigert. Einige Zeit später jedoch wuchs in mir die Meinung, dass nur diejenigen wirklichen Mut bewiesen, die den Wehrdienst in der DDR total verweigert hatten. Diese Jungs mussten nämlich für zwei Jahre ins Gefängnis. Nach der Entlassung gab es dann drei Varianten, die man sich allerdings nicht aussuchen konnte. Im schlimmsten Falle folgte die erneute Einberufung, mit etwas Glück wurde man von den Staatsorganen nie wieder behelligt und mit noch mehr Glück warf man den unbequemen Staatsbürger aus dem Land – in den Westen. Das konnte allerdings auch Pech bedeuten, denn es gab Pazifisten, die zwar den Wehrdienst verweigerten, aber durchaus in ihrer Heimat bleiben wollten.

    Zweites Kapitel: Die ersten Schritte der Entmündigten

    1

    Da der Zug nach Merseburg am Vormittag abfuhr und meine Freunde von ihrer Arbeit nicht frei bekamen, konnte von ihnen keiner zum Bahnhof kommen. Selbst Vera wollte mich nicht verab­schieden, weil sie angeblich ›Soldaten-Abschiedsszenen‹ hasste – ein schlechtes Zeichen für mich. Ich war richtig wütend auf sie.

    Auch von meinen Eltern verabschiedete ich mich im Vorfeld, denn mein Vater war im Januar desselben Jahres an Krebs erkrankt und hatte durch die Bestrahlungstherapie nicht die Kraft, das Haus zu verlassen. Außerdem war mein Vater im Laufe der letzten Jahre fast vollständig erblindet.

    Als der Zug nach Merseburg einfuhr, war ich der Einzige, der es eilig hatte, sich einen Platz zu suchen – kein Wunder, denn ich war ja auch der Einzige, der allein am Gleis stand. Ich fand ein leeres Abteil, und während ich das Treiben dort draußen noch eine Weile beobachtete, bereitete ich mich ruhig auf mein nächstes Ziel vor, denn ich hatte beschlossen, nicht nüchtern an die Front zu ziehen. Zwischen meiner Marschverpflegung zog ich die erste von drei Flaschen Wein aus der Tasche hervor und öffnete sie. Panierte Schnitzel und belegte Brote sowie gekochte Eier und frisches Gemüse gehörten außerdem zu der Wegzehrung, die ich mir am Vorabend zusammengestellt hatte.

    Ich versank in Gedanken und trank. Ich sehnte mich nach Hause.

    Erst nach vier Wagen fand ich ein unbesetztes Örtchen, dann fiel mir in einem der Abteile ein bekanntes Gesicht auf. Ich war mir erst nicht sicher, ob ich ihn ansprechen sollte, wagte es dann aber doch. »Entschuldige, bist du nicht Steini aus Falkensee?«

    »Jo, kennen wir uns etwa?« Seine raue Stimme verriet, dass er es war.

    »Vor ein paar Jahren spielten wir zusammen bei einer Party auf dem Hof der Gärtnerei. Du warst der Sänger von ›Fredys Bluesband‹. Ich spielte Harp und sang bei der zusammengewürfelten Band aus Hennigsdorf.«

    »Ich erinnere mich gut«, sagte Steini. »Die Hennigsdorfer Kumpels von Rainer, dem Gärtner.« Er reichte mir die Hand.

    Ich freute mich, einen wie ihn getroffen zu haben. »Was machst du hier? Musst du nach Merseburg?« Erwartungsvoll sah ich ihn an.

    Steini lachte laut drauf los. »Ich breche zusammen, Alter. Sage nicht, du willst auch nach Merseburg.«

    »Und wie ich will.«

    »Bist du etwa Bausoldat?« fragte er mich sehr laut. Alles im Umkreis blickte auf uns beide, weil wir anscheinend den ganzen Waggon unterhielten. Steini schien ebenfalls schon etwas getrunken zu haben.

    »Willkommen im Club. Willst du nicht deine Klamotten in mein Abteil holen? Dann können wir zusammen trinken«, schlug Steini vor.

    »Ich bin in fünf Minuten zurück.«

    Am Bahnhof Merseburg holten uns Soldaten und Offiziere mit LKWs ab. Bevor Steini und ich jedoch auf einen der LKWs stiegen, wollten wir noch schnell den Rest einer Wermutflasche vernichten.

    Ein kleiner Mann mit Sternen auf den Schulterstücken kam eilig auf uns zu. »Spinnen Sie!«, brüllte er und spuckte sich dabei auf sein Hemd.

    »Wer bist du denn?«, fragte Steini frech.

    »Ich bin Oberleutnant Bocker. Zugführer Ihrer Kompanie. Wir spre­chen uns, wenn Sie nüchtern sind.«

    Nach ungefähr fünfzehn Minuten Fahrt kamen wir in der Kaserne an. Ein paar Unteroffiziere führten uns von den LKWs auf den Haupt­flur der Unterkünfte und wiesen uns gemäß einer Liste den einzelnen Stuben zu. Es blieb kaum Zeit, sich die Umgebung anzu­schauen.

    Das Zimmer war außerordentlich klein. Der ganze Raum maß viel­leicht fünfzehn Quadratmeter. Darin standen fünf Schränke für die Soldaten, ein Besenspind, zwei Doppelstockbetten und ein Einzelbett sowie ein kleiner Tisch mit fünf Hockern. Es war so eng, dass zwei Leute kaum aneinander vorbeigehen konnten. An den Betten klebten unsere Namen, so dass jeder schon wusste, wo er zu schlafen hatte. Es hing sogar ein Radio über der Stubentür, mit dem aber nur Ostsender empfangen werden konnten, wie wir sehr schnell feststellen mussten.

    »Und in diesem U-Boot sollen wir anderthalb Jahre verbringen«, bemerkte ich.

    In dem Moment sprang die Tür auf. »Ich bin Unteroffizier Golisch und zeige Ihnen jetzt, was Sie fürs Erste wissen müssen. In einer halben Stunde gehen wir in die Hauptausgabe und dort werden Sie ihre gesamte Ausrüstung in Empfang nehmen. Ach ja, wie ich sehe, befindet sich ein Gruppenführer in dieser Stube.« Wir anderen sahen uns gegenseitig an.

    »Und wer soll das sein?«, fragte einer.

    »Auf meiner Liste steht Bausoldat Ackermann als Gruppenführer im zweiten Zug. Wer ist das?« Der Unteroffizier sah sich in der Runde um.

    »Ich«, meldete ich mich grinsend und etwas torkelnd.

    Unteroffizier Golisch musterte mich von oben bis unten. »Gut, dann nehme ich Sie gleich mit. Wir gehen zum Zugführer. Der will die Gruppenführer einweisen. Moment mal. Sind Sie betrunken?«

    »Melde gehorsamst, dass ja«, antwortete ich in gespieltem böhmi­schen Dialekt. Diese Meldung kannte ich aus den Schwejkfilmen und ich kam mir witzig vor. Golisch ignorierte es aber.

    »Sind Sie wirklich Ackermann, Tobias?«, fragte er noch einmal.

    »Ne! Da haben sie den Falschen erwischt! Ich bin Ackermann, Lucas und ganz bestimmt nicht als Gruppenführer geeignet.«

    »Dann sind Sie in der falschen Stube. Dieses Bett ist für den Bausol­daten Ackermann, Tobias vorgesehen«, stellte Golisch fest und ermahnte mich anschließend noch. »Übrigens sollten Sie sich etwas zurückhalten, Bausoldat Ackermann. Es muss nicht gleich jeder merken, dass Sie getrunken haben, sonst sind Sie gleich Mode. Ich kenne übrigens den Schwejk, aber diese Art Witz versteht man hier nicht.«

    Nach fünf Minuten war die Sache mit den Namen geregelt und ich tauschte mit meinem Namensvetter die Stube. Das Versehen war nur entstanden, weil man versäumt hatte, auch die Vornamen der Soldaten an die Betten zu schreiben.

    Bei den normalen Waffenträgern setzte man immer Unteroffiziere als Gruppenführer ein. Bei uns hielt man das nicht für nötig, denn wir waren keine Kämpfer, sondern im weitesten Sinne ja nur Arbeiter. Daher reichte es aus, dass die Gruppenführer aus den Reihen der einfachen Bausoldaten bestimmt wurden. Ein Gruppenführer war immer für zehn Soldaten verantwortlich, also für die Belegschaft von zwei Stuben.

    Die Ausgabe der Ausrüstungen dauerte weit über zwei Stunden. Nur schleppend bewegte sich die Warteschlange vor der zentralen Wä­sche­kammer voran. Einige Teile der Ausrüstung, wie zum Beispiel Gasmaske, Kochgeschirr, Stahlhelm und Zeltplane, waren für alle Soldaten gleich. Der Empfang dieser Sachen verlief problemlos, aber die einzelnen Uniformkleidungsstücke musste jeder erst anprobieren. Und das dauerte. Wir bekamen drei Arten von Uniformen. Grau­grüne Ausgangsuniformen für Sommer und Winter, schwarze Arbeitskombi und eine dunkelgrüne Felddienstuniform, auf die kleine schwarze Striche gedruckt waren. Das sollte der Tarnung im Felde dienen.

    Ich wollte das Ganze nicht und hatte große Lust, den gesamten Haufen aus dem Fenster zu schmeißen. Bei diesen Gedanken schlief ich ein.

    Die Ruhepause auf meinem Bett dauerte leider nur ein paar Minuten, denn Unteroffizier Golisch trat schon wieder in die Stube. »Bausoldat Ackermann! Vielleicht machen Sie sich bald aus dem Bett! Das hier ist kein Sanatorium.« Er verschränkte seine Arme und schüttelte mit dem Kopf. Die anderen in der Stube grinsten, und nachdem ich aufgestanden war, zeigte uns Golisch, wie man seinen Spind einräumt. Die einzelnen Wäschestücke mussten in den Schrankfächern an exakt zugeordneten Plätzen liegen. Jede Socke und jedes Unterhemd faltete Golisch auf den Zentimeter genau. Nichts stand irgendwo über oder wurde dabei zerknautscht. Das nannte man ›Paket bauen‹. Paket packen oder zusammenstellen kannte ich ja schon, aber dass man ein Paket auch bauen konnte, war mir neu. Zum Ausrichten der Baupakete faltete er Zeitungen in die Klamotten ein, so dass er eine Maßbegrenzung hatte und jedes Teil gleichmäßig breit aussah. Das kam mir alles sehr mühselig vor, aber die Zeitungen schienen ihm eine große Hilfe dabei zu sein. Zum Schluss zeigte uns Golisch noch, wie man die Schulterstücke an die Uniformen anzubringen hatte. Übrigens tat er das am Beispiel meines Spindes, und er vergaß natürlich nicht, sein schönes Werk anschließend wieder einzureißen.

    Beim Betrachten der Schulterstücke wusste ich nun endlich, warum man uns Spaties nannte. Auf ihnen war ein kleiner, silberner Spaten gestickt. Ich könnte mir vorstellen, dass es der Versuch war, uns auf Grund dieses Symbols lächerlich zu machen. Aber das schlug ins Gegenteil um, denn wie ich später selbst erfahren durfte, waren die Träger solcher Schulterstücke bei vielen Zivilisten sehr geachtet.

    Ich fand dies alles für den ersten Tag ein wenig zu viel, und bis zum Abend hatte man nicht einmal Gelegenheit, sich die Leute, mit denen man zusammen auf einer Stube wohnte, richtig anzuschauen, geschweige denn, ein ruhiges Wort mit ihnen zu wechseln. Ich hatte nur mitbekommen, dass Steini drei Türen neben mir einquartiert wurde. Das Treiben auf der Kompanie erinnerte mich an Berlin. Ich spürte Hektik und Anonymität. Ständig ertönte eine Trillerpfeife und dann mussten wir alle sofort auf dem Gang erscheinen. Irgendein Vorgesetzter brüllte daraufhin laute Befehle in die Masse, die inhaltlich kaum einer verstand. Das Chaos war wirklich perfekt.

    Auf dem Flur befand sich ein Diensttisch, an dem der Wachhabende saß. Das sollte eigentlich der Unteroffizier vom Dienst sein, kurz UvD genannt. Aber für uns reichte es anscheinend aus, dass man ein­fache Soldaten aus dem dritten Diensthalbjahr anderer Kompanien dafür abstellte – Soldaten, die zu den Waffenträgern gehörten und schon ein ganzes Jahr dabei waren.

    Der UvD war für das Wecken der Kompanie, für die Durchsetzung der Nachtruhe und für die Weiterleitung von Befehlen an die einzelnen Stuben zuständig. Am Diensttisch einer fremden Kompanie saßen sie nur deshalb, weil unsere Gruppenführer erst ihre Grundausbildung beenden mussten. Nach der Ausbildung lösten sie die Brüllaffen sofort ab und der Ton auf dem Flur änderte sich schlagartig – auch die Trillerpfeifen verschwanden. Solche Zusammenhänge konnten wir allerdings in den ersten Stunden noch gar nicht begreifen.

    Bevor um 22.00 Uhr die Nachtruhe verkündet wurde, fanden wir fünf neuen Zimmergenossen noch Zeit, uns gegenseitig vorzustellen. Es gab mit mir drei Berliner und zwei Sachsen auf der Stube. Einer der Berliner hieß Mario und war Geiger am Metropoltheater in Berlin. Er machte einen netten Eindruck auf mich. Der andere hieß Heiland und arbeitete als Rohrleger. Auch er gefiel mir.

    Mit den beiden Sachsen, das waren Udo und Peter, konnte ich mir nur schwer vorstellen, warm zu werden. Udo plapperte unentwegt und Peter wirkte völlig in sich gekehrt.

    Die erste Nacht war wie ein unendlicher Albtraum. Mein Bett war so extrem durchgelegen, dass sich nur ein Buckelwal darin hätte wohl­fühlen können. Zwei meiner Mitbewohner schnarchten in Frequen­zen, die mir Angst machten. Ich fragte mich, wie man das 18 Monate lang durchhalten sollte.

    2 Ein greller Pfiff beendete die Albträume der ersten Nacht und läutete sogleich die nächsten ein. »Kompanie aufstehen!«, brüll­te jemand im Flur. »Alles raustreten zum Frühsport!« Obwohl die Stubentür geschlossen war, kam es mir vor, als wenn der Schreihals neben mir stehen würde.

    Die Vorgesetzten rannten nach dem Pfiff persönlich durch die Stuben und scheuchten jeden aus dem Bett, der noch etwas döste. Einige dachten, sie könnten sich auf der Toilette vor dem Frühsport drü­­cken, aber die Vorgesetzten kannten diesen Trick natürlich.

    Zu den Sportsachen, die wir bekamen, gehörten knallrote Turnhosen, gelbe Trägerunterhemden, schwarze Lederturnschuhe und ein brau­ner Trainingsanzug mit rotgelben Streifen an den Seiten. Die NVA nahm sich das Recht raus, zu bestimmen, wann der Sommer beginnt. Und weil dies schon ab dem ersten Mai galt, durften wir mit kurzem Sportzeug antreten – trotz der klirrend kalten Außentem­peraturen.

    Zuerst machten wir uns nach den Anweisungen des Vorturners mit Dehnübungen warm und dann sollten wir einen 3000 Meterlauf ab­solvieren. Die Überanstrengung stand einigen ins Gesicht geschrie­ben. Mir persönlich kamen die Auswirkungen des gestrigen Rausches in die Quere – und auch die letzten Jahre meines Musikerdaseins ohne Sport, aber mit viel Alkohol und Nikotin. Ich keuchte wie eine Dampflokomotive und nach 1000 Metern lief ich nicht mehr, sondern ging nur noch.

    Als der Letzte durchs Ziel lief, durften wir wieder ordentlich Aufstellung nehmen, und aus der Gruppe von Vorgesetzten, die auf uns wartete, trat ein korpulenter Offizier heraus, den wir bis dahin noch nicht kannten. Er hatte ein rundes Gesicht mit breitem, unsym­­pathischen Grinsen und mochte noch keine zwanzig Lenze zählen. »Genossen Bausoldaten, ich bin der Zugführer vom zweiten Zug, Unterleutnant Francke«, stellte er sich vor – seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, offensichtlich von uns allen angewidert. »Die Gruppenführer des zweiten Zuges werden jetzt ihre Gruppen übernehmen und mit ihnen in Linie antreten.« Es kam ein heilloses Durcheinander auf, denn die beiden anderen Zugführer verlangten dasselbe von ihren Gruppenführern, und außerdem wusste ja noch niemand von uns, was ›in Linie‹ bedeutete. Als unser Zug nach einigen Minuten endlich in der von Unterleutnant Francke gewünschten Position stand, begann er eine Rede zu halten. Dabei nahm der junge Mann eine Haltung an, als wäre er schon seit 30 Jahren General. Zuerst erklärte uns Francke, dass sich eine Kompanie aus drei Zügen und die Züge wiederum aus jeweils drei Gruppen zu 10 Mann zusammensetzten. Dann kam er auf den Frühsport zu sprechen: »Von Ihrer Teilnahme am Frühsport fühle ich mich verarscht, denn ich weiß, dass es auch anders geht. Wenn das in Zukunft nicht klappt, werden wir es so lange üben, bis Sie die Schnauze voll haben und von selbst vernünftig mitmachen. So einen Affentanz wie vorhin kann ich nicht akzeptieren. Aber keine Angst, ich werde Sie schon noch abhärten.«

    Viele von uns sahen in die Runde und schmunzelten verächtlich. Ich schätze, die meisten mochten dem Knaben an Erfahrung etliches voraus und schon einige Jahre mehr im Abenteuer Leben gesteckt haben.

    Total übermüdet und mies gelaunt konnte ich mir

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1