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Stiefelschritt und süßes Leben: Ein Intermezzo
Stiefelschritt und süßes Leben: Ein Intermezzo
Stiefelschritt und süßes Leben: Ein Intermezzo
eBook322 Seiten3 Stunden

Stiefelschritt und süßes Leben: Ein Intermezzo

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Über dieses E-Book

Müllers zweiter Band seiner in Atem haltenden Autobiografie erzählt von den Mannesjahren des Autors in der DDR, von seiner Liebe zu Penelope und den Amouren zwischen Rostock und Dresden, aber auch von den Zumutungen in der NVA, der »Friedensarmee« des kleinen Lands, sowie den vielen Unternehmungen, sich das Leben so lebenswert wie nur möglich zu gestalten. So hält sich Ernstes und Skurriles die Waage, wird gezeigt, wie es bisweilen möglich war, die Verdikte der »alten Männer« in Berlin zu unterwandern …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum23. Jan. 2017
ISBN9783954628414
Stiefelschritt und süßes Leben: Ein Intermezzo

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    Buchvorschau

    Stiefelschritt und süßes Leben - Klaus Müller

    Klaus Müller

    Stiefelschritt

    und süßes Leben

    Ein Intermezzo

    mitteldeutscher verlag

    INHALT

    Cover

    Titel

    Erstes Kapitel „Tiefpunkt NVA"

    (Mai 1964 bis Oktober 1965)

    „Zwangsrekrutiert"

    Herbstmanöver

    Ernteeinsatz

    Regimentsbibliothekar

    Frühjahrsmanöver

    Im Verteidigungsministerium

    Letzter Sommer bei der NVA

    Im Knast mit Lenin

    Fazit meiner NVA-Zeit

    Zweites Kapitel „Bei Künstlers"

    (November 1965 bis Januar 1968)

    „Secundogenitur"

    Fast eine Familie

    Irrtum Fiat Topolino

    Stadtführer

    „Wahlsonntag"

    Bulgarien

    Drittes Kapitel „Die Basis"

    (Februar 1968 bis Februar 1971)

    Kulturschock

    Das „Trocadero"

    Die Künstler

    Weitere Höhepunkte

    Meine Goldgrube

    Politicals

    Lebenspläne

    Viertes Kapitel „Der Bruch"

    (Februar 1971 bis Mai 1972)

    Wohnraumfrage

    Intermezzo Russlandreise

    Endlich eine eigene Wohnung

    Priebsch, der Restaurator

    Fünftes Kapitel „Der sanfte Weg"

    (Juni 1972 bis September 1977)

    „Bambusbar" (Sommer 1972)

    Intermezzo: Erste Pragreise (Herbst 1972)

    „Dolce far niente" (Winter 1972/73)

    Intermezzo: Erste Polenreise (Herbst 1973)

    Das „Dolce far niente" währt weiter (Winterhalbjahr 1973/74)

    Die Fischerklause

    Noch ein Intermezzo: Große Reise durch die ČSSR (Herbst 1974)

    Rosenthal

    Gefahren und Chancen (Winterhalbjahr 1974 /1975)

    „Seeblick" (Sommer 1975)

    Ein aufschlussreiches Winterhalbjahr (1975/76)

    „Ostseetanzbar" (Sommer 1976)

    Der Beton zeigt erste Risse (Herbst 1976 bis September 1977)

    Sechstes Kapitel „Das Leben zeigt wieder die ernste Seite"

    (Oktober 1977 bis Dezember 1979)

    Parkhotel „Dresden Weißer Hirsch"

    Ein verregneter Sommer (1978)

    Wichtige Entscheidungen stehen an

    Siebentes Kapitel „Die Burg"

    (Dezember 1978 bis Januar 1981)

    Die Eroberung der „Burg"

    Ausbau der „Burg"

    Wie nun weiter?

    Weitere Bücher

    Impressum

    ERSTES KAPITEL: „TIEFPUNKT NVA"

    (Mai 1964 bis Oktober 1965)

    „Zwangsrekrutiert"

    An jenem 4. Mai war der Mittelpavillon des Postplatzes, der als Treffpunkt der Einberufenen ausersehen war, von jungen Männern mit verschieden großen Gepäckstücken umringt. Es waren auch bekannte Gesichter darunter. Wir nickten uns nur missgestimmt zu, wenn wir mal Blickkontakt hatten. Meine Stimmung sank und sank, bereitete fast körperliche Übelkeit. Ich überlegte, ob ich vielleicht doch wieder nach Hause gehen sollte und lieber den, in meinen Augen, ehrenvolleren Knast wählen, als die Demütigung der Zwangsrekrutierung zu ertragen. Doch dazu war es nun wohl zu spät, das Dreieck, auf dem der besagte Pavillon steht, war unbemerkt von einer Postenkette umstellt worden.

    Dann dröhnte aus dem Lautsprecher, der ursprünglich für die Durchsagen der Dresdner Verkehrsbetriebe diente, martialischer Lärm. Eine schnarrende Stimme gebot: Bereitmachen, Gepäck aufnehmen und in Kolonnenformation zum Hauptbahnhof marschieren. Auch erschien ein Litzenträger, der kommandierte: „Im Gleichschritt Marsch!"

    Noch wurde das mit lachendem Gejohle quittiert.

    Auf dem Weg zum Bahnhof fand sich viel Publikum ein. Familienangehörige mit meist traurigen Gesichtern, aber auch höhnische Typen, wie der alte Friedrich, der wohl seine Vorhersage mit dem nächsten Krieg („Wenn die dann soweit sind …") in Erfüllung gehen sah. Ich hatte den alten Friedrich nie für eine Geistesleuchte gehalten; dass ordinäre Dummheit aber zu solch gehässiger Niedertracht führen kann, erstaunte mich anfangs doch.

    Am Hauptbahnhof stand für uns ein Sonderzug bereit, mit dem wir um Berlin herum über Angermünde, durch die Uckermark in 14 Stunden nach Torgelow fuhren.

    Die Fahrt endete an einer Rampe in der Nähe eines Kasernenkomplexes, fern aller Zivilisation. Mit Gebrüll und unter Beschimpfungen wurden wir, ich schätze 1.000 Mann, wie Feinde, derer man endlich habhaft geworden ist, in eine riesige Halle getrieben. Dort hielt ein mit glitzernden Raupen auf den Schulterstücken versehener Psychopath eine brüllende Ansprache, die von Drohungen und Beschimpfungen nur so strotzte.

    Dieser Mensch litt gewiss noch aus der Zeit vor dem Mauerbau unter seinen erfolglosen Werbeversuchen. Erfolglosigkeit bei Werbungen, sei’s Liebe oder Militär, kann zu bösen Missstimmungen führen, wie man weiß. Soweit ist diese Haltung zu den Zwangsrekrutierten verständlich, doch militärisch ist sie unlogisch. Jeder selbstbewusste junge Mann, der noch kein Feind des

    DDR-Systems

    war, musste es hier werden.

    *

    In dieser Gegend war eine ganze Division stationiert, und wir wurden nun durch Namensaufruf auf die einzelnen Regimenter verteilt. Ich kam zum Artillerieregiment 9 in Eggesin-Karpin, kurz AR 9. Auf der mit Seitensitzen versehenen Ladefläche eines H5 (

    LKW-Horch

    , der fünfte Versuch) brachte man mich und die anderen Artilleristen in spe in die Kaserne, die nach dem Willen von Partei und Staatsführung für 18 Monate mein Zuhause sein sollte.

    Was die Klamotten betraf: Die Einberufenen hatten alle Kleidungsstücke abzulegen, wurden dann mit Armeeklamotten eingekleidet. Alle Zivilsachen mussten sofort an die Heimatadresse geschickt werden, wir hatten nun Anstaltskleidung, um jeden Gedanken an das Zivilleben auszulöschen. Die Langhaarigen, aber auch die Rundschnittträger, mussten zum Kasernenfriseur, der ihnen einen „militärischen Haarschnitt" verpasste. Die Demütigungen sollten kein Ende nehmen.

    Die Innendienst-Vorschrift der NVA: DV 08 - 15, die seit Kaisers Zeiten die gleiche Ordnungszahl hatte, wurde verlesen, regelte solche einfachen Tätigkeiten wie Grüßen, Exerzieren, Marschieren, Diensträume betreten, sich überhaupt auf dem Kasernenhof bewegen.

    Die höheren Chargen des Unteroffizierscorps und einige Feldoffiziere waren fast alle übriggebliebene Wehrmachtsoldaten, die außer Krieg und Kasernenhof in ihrem Leben nichts kannten. Viele waren um die und über 40 Jahre alt. So wie ihr trauriges Leben war auch ihre Geisteshaltung.

    Dann begann die militärische Grundausbildung, über deren Stupidität schon viel geschrieben worden ist; ich erspare es dem Leser. Es ist ja auch relativ leicht, einem stupiden, brüllenden Unteroffizier, der einen „schleifen" will, stehen und brüllen zu lassen, wenn man selbst liegt. Es ist wiederum nur eine Demütigung.

    Bei Subordination wurde aber immer mit dem Militärstaatsanwalt und dessen höllischer Militärstrafanstalt in Torgelow gedroht, hauptsächlich nach der Vereidigung. Zu dieser wurden wir Rekruten nach circa zwei Wochen zusammengetrieben, mussten in unserer Ausgehuniform ein Karree bilden, dann plärrte ein in der Mitte aufgestellter Lautsprecher die Eidesformel, mit der wir jederzeit unter Einsatz unseres Lebens und an der Seite der Sowjetarmee dieses System verteidigen sollten. Dann wurden wir aufgefordert, die Formel zu wiederholen. Da das kaum einer tat, manche nur stumm die Lippen bewegten, plärrte der Lautsprecher mit. Vor mir kreuzte einer Zeige- und Mittelfinger.

    Die Gefechtsausbildung an einer russischen Haubitze war noch öder, dazu auch gefährlich, denn das Monstrum, Jahrgang 1938, konnte einen Menschen schon zerquetschen, wenn er einen ungeschickten Schritt tat. Der Felddienst an veralteten Kriegsgerät brachte Napoleons Wort vom „Kanonenfutter" in Erinnerung.

    Einer besonderen militärischen Niedertracht bin ich aber nicht zum Opfer gefallen, da mich schon als Halbstarken Arbeitskollegen meines Vaters davor gewarnt hatten.

    NVA-Soldaten

    wurden wöchentlich in einen Duschraum geführt. Aus zirka 30 – 40 Duschköpfen kam dann heißes Wasser, ohne dass der Einzelne Stärke, Temperatur und Dauer der Dusche bestimmen konnte. Ich stellte mich unter diesen Duschstrahl, wusch, mit der Seife in der Hand, schnell Hals, Achseln und Genitalien und legte die Seife weg. Dann blieb ich noch unter der Dusche und entspannte mich im heißen Wasser. Und tatsächlich, die Niedertracht nahm ihren Lauf.

    Urplötzlich wurde das Wasser abgedreht und der Hauptfeldwebel (Spieß) stand in der Tür, brüllte „Alaaaarm! Die noch Eingeseiften, viele mit Waschschaum in Haaren und Augen, mussten, so wie sie waren, in die Klamotten springen. Ich hatte mir noch einige Sekunden Zeit genommen, mit dem Handtuch, das auf einem Hocker zwischen den Duschreihen lag, kurz über den Körper zu wischen und in den Schritt zu fahren, der in der Landsersprache „Kimme heißt.

    Dann ging’s im Laufschritt in die Unterkunft; hier wurde das Käppi mit dem Stahlhelm vertauscht und die Gasmaske aufgesetzt. Für die Eingeseiften war das eine Tortur, da sich der Schweiß mit den Seifenresten mischte und in die Augen und Nasenlöcher drang. In diesem Zustand trieb man uns über die Sturmbahn.

    Ich legte mich prinzipiell nach wenigen Schritten hin, wenn ich die Gasmaske überstülpen musste; hier nutzten weder Gebrüll noch Drohungen. Jetzt merkte ich, dass auch andere diese Schikane an sich nicht duldeten, stattdessen die Schutzmaske, so der offizielle Begriff, hochstreiften und liegenblieben. Andere hingegen erlebten qualvolle Stunden.

    Militärisch gesehen hat die beschriebene Duschtechnik natürlich Sinn; der Soldat soll sich unter der Dusche nicht entspannen wie ein Badegast, er soll immer gefechtsbereit sein. Man könnte zügiges Duschen ja ganz einfach bei der Instruktion anweisen.

    Viele kamen aber auch mit den Barras-Weisheiten ihrer Väter aus der alten Wehrmachtzeit. Die meisten in der „Arbeiter- und Bauern-Armee" kamen tatsächlich aus der Landwirtschaft oder der Industrie. In meiner Batterie (46 Mann an 6 Haubitzen) hatten nur zwei Soldaten einen Hochschulabschluss, ein Apothekersohn war diplomierter Meteorologe, und ein Fischwirt nannte sich zu Recht Diplom-Ichthyologe.

    Es wurde natürlich auch regelmäßig von meist unqualifizierten Leuten Politunterricht abgehalten; diese „brillierten" durch außerordentliche Blödheit, manchmal aber auch durch reine Mordhetze gegen die Bundeswehrsoldaten, die für mich damals achtenswerte deutsche Landsleute waren.

    Eine dieser Veranstaltungen im Kultursaal einer Ueckermünder Gießerei ist mir noch deutlich in Erinnerung geblieben. Nach einer langweiligen Ansprache des Regimentskommandeurs wurde der Parteisekretär der Gießerei ans Rednerpult geführt. Er war ein völlig ungebildeter Arbeiter, dem man, um ihm seine Sprachhemmungen vor diesem großen Auditorium zu nehmen, reichlich Schnaps eingeflößt hatte. Dann setzte dieser Mensch zu einer Tirade an, die von „

    NATO-Schweinen

    , „diesen Hunden, „Kapitalistenschweinen, „umlegen und „abknallen" nur so strotzte.

    Der Regimentskommandeur, der dem Grundtenor der Rede gewiss zustimmte, erkannte aber, dass es ein Fehler war, dem Mann so viel Schnaps gegeben zu haben. Er schritt persönlich an das Rednerpult heran, an dem der Mensch ungebremst weiter geiferte, und führte ihn nach hinten in die letzte Reihe des Präsidiums, nachdem er sein Regiment durch demonstratives Händeklatschen zum allgemeinen Applaus animiert hatte.

    Wie sollte ich diesen hasstriefenden Stumpfsinn anderthalb Jahre lang überstehen, ohne psychischen Schaden zu nehmen?

    Ich legte für mich fest, dass diese Zeit die Strafe für alle meine Torheiten sei, die ich bisher begangen hatte, nahm mir vor, im Rahmen der Möglichkeiten eine Waffenkenntnis und

    -beherrschung

    zu erlangen, die mich in einer späteren Auseinandersetzung mit dem System nicht hilf- und nutzlos herumstehen lassen sollte, etwa wie die ungarischen Aufständischen angesichts der Russenpanzer in den Straßen von Budapest. Pazifismus war für mich schon früher eher eine ästhetische als politische Haltung gewesen. Jetzt hatten sie’s geschafft; aus ästhetischer Distanz war, über furchtsame Abneigung, Feindschaft geworden. Dieses System musste bekämpft werden.

    Mich verwunderte es nicht, dass diese Haltung zum

    SED-System

    auch bei anderen, Vertrauteren, anklang. Besonders deutlich wurde das, als nach dem Tonking-Zwischenfall echte Kriegsgefahr drohte und Leute, die sich nun besser kannten, mehr von ihrem wahren Denken preisgaben.

    Der Abscheu vor diesem Kasernenhofdasein und die völlige Unmöglichkeit, davon wegzukommen, ließen bei mir große Sehnsucht nach Bruni aufkommen, die ja nun schon einige Monate mit unserem gemeinsamen Kind schwanger ging. Ich schrieb ihr auch fast täglich einen Brief.

    Die Gefahr, potenzielle Gegner in den eigenen Reihen auch noch gut auszubilden, hatte die Militärführung der DDR erkannt. Besondere Kenntnisse und Eigenschaften, die über die Kasperei mit unserer Haubitze hinausgingen, wurden im AR 9 nicht vermittelt. Dennoch sollte jeder Artillerist einmal in seiner Dienstzeit eine scharfe Handgranate geworfen und sechs Schuss mit der Pistole Makarow abgegeben haben. Eines Tages stand gerade dieses an. Der Spieß ließ die Batterie antreten, verkündete die bevorstehende Ausbildung und ließ sofort die Kanoniere Müller und Spröter heraustreten, die sich umgehend zum Kartoffelschälen in der Regimentsküche melden sollten. Die restliche Batterie rückte ab, zum Handgranatenwerfen und Pistolenschießen.

    *

    Die Verpflegung der

    NVA-Soldaten

    war in den 60er Jahren entsprechend karg; draußen auf dem flachen Land herrschte ebenfalls noch Mangel an Lebensmitteln. Deshalb will ich nicht weiter darauf eingehen, will nur noch erwähnen, dass an drei oder vier Tagen der Woche das Mittagessen aus einem Eintopf bestand. Dieser enthielt Dörrgemüse und Kartoffeln, die pro Regimentskessel mit zwei Dutzend Dosen Schmalzfleisch à 500 Gramm abgeschmeckt waren. So betrug der Anteil von hochkalorischem Fett an einer Mahlzeit tatsächlich 15 Gramm.

    Das Schälen – von immerhin zweieinhalb Zentnern Kartoffeln pro Tag – bestand darin, nur die „Augen" aus den Kartoffeln zu polken, da sie von einer Raspelmaschine vorbehandelt waren. Bei diesem Dienst wurde ich einmal Zeuge einer kaum glaubhaften Unappetitlichkeit: Der Küchenchef, ein Oberfeldwebel (bei der Artillerie Oberwachtmeister) hatte ja täglich Ausgang, wohnte vielleicht sogar im Ort, kam eines Vormittags völlig betrunken in die Küche. Er rührte in dem zum Verzehr fast fertiggestellten Kessel mit Dörrgemüseeintopf herum. Dabei verlor er die Kontrolle über seinen Magen, übergab sich und spie seinen gesamten Mageninhalt in den Kessel und rührte weiter. Das nahm mir nicht nur den Appetit; diese Schweinerei betäubte sogar den Hunger. Die Soldaten, die bald darauf zum Mittagessen erschienen, haben aber klaglos den Kesselinhalt vertilgt.

    Durfte ich an der Ausbildung an der Straßenkampf-Waffe auch nicht teilnehmen, so war ich doch bei Schießübungen mit der MP Kalaschnikow dabei. Da ich eine sichere Hand und ein gutes Auge besaß, hatte ich auch hervorragende Schießergebnisse, die mir die Schützenschnur einbrachten. Das Peinliche war allerdings, dass ich dieses Gebammel nun stets an der Ausgehuniform tragen und für 16,50 Mark von meinem Wehrsold, der 58 Mark im Monat betrug, selbst kaufen musste. Verweigern ging nicht, da diese „Auszeichnung" im Wehrpass oder Soldbuch eingetragen wurde.

    *

    Wochen später führte das Misstrauen gegen mich sogar zu Unruhe in der Batterieleitung. Ich wurde nämlich kurzerhand einem Kommando zugeteilt, das, mit 30 Schuss scharfer Munition in der Kalaschnikow, nahe am Todesstreifen aus einem Depot bei Potsdam alte sowjetische Trommel-MPs einsammeln sollte. Es ging wirklich weniger als zehn Meter an den äußeren Sperranlagen entlang – und ich trug eine scharfe Waffe. Ich erfuhr von dem „Anschiss, den der Sicherheitsoffizier des Regiments unserem Batteriechef verpasste, von Spröter, der gerade GUvD (Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst) war. Das Depot befand sich auf dem Gelände einer Grenztruppeneinheit bei Potsdam. Die alten sowjetischen Trommel-MPs, die beim unvorsichtigen Aufsetzen schon manchem Soldaten das Gehirn durch die Schädeldecke geblasen haben, aber als unverwüstlich galten, waren noch fabrikneu und in Ölpapier eingewickelt. Angeblich sollten sie nach Ghana gehen. In dieser Grenzeinheit war natürlich auch die Verpflegung der Soldaten weit besser als in unserem „Kanonenfutter-Regiment AR 9 in Eggesin. In der Kantine der Grenztruppe servierte man an einem ganz gewöhnlichen Wochentag zum Mittagessen Eisbein mit Erbsenpüree und Weinsauerkraut dazu, als Dessert Vanillepudding mit Heidelbeersauce, aus einer modernen Küche, in einem sauberen Speiseraum, an gedeckten Tischen. Das Besondere dieses Menüs versteht nur der, welcher die Versorgungslage der

    DDR-Bevölkerung

    , draußen im Lande, in der Mitte der 60er Jahre noch kennt.

    Krieg stand nicht bevor –

    NVA-Soldaten

    waren für die Existenz der DDR nicht nötig, anders die Grenztruppen, viele

    DDR-Bürger

    schauten noch immer lauernden Blicks auf die Grenzanlagen. So erklärt sich dem Betrachter die unterschiedliche Verpflegung dieser beiden militärischen Einheiten.

    In dieser Grenzeinheit wurde ich aber auch Zeuge, wie ein Zivilist mit einem hohen Grenzoffizier über die Effektivität einer gerade angelieferten sperrigen Grenzschutzanlage debattierte, seine Arbeit lobte und in ihrer Wirkung pries. Der Mann war ein ansässiger Handwerker oder ein zivil angestellter Techniker, der seine handwerklich-technische Innovationskraft in den Dienst der Unfreiheit stellte, den eigenen Vorteil im Auge. Er stellte seinem Auftraggeber Grenztruppe beredt die schweren Verletzungen dar, die seine Anlage einem aus dem Gebiet der DDR kommenden Grenzverletzer zufügen würde. Und das nicht im Tone bedauernder Notwendigkeit, sondern freudiger Täterschaft.

    *

    Im Hochsommer 1964 rückten wir zu einer „Russenjagd" aus, jeder mit zwei Magazinen, ergo 60 Schuss. Ein sowjetischer Soldat hatte die viehische Behandlung und die Sehnsucht nach der Heimat nicht mehr ausgehalten, war voll aufmunitioniert ausgerückt und in den uckermärkischen Wäldern untergetaucht.

    Der Spieß warnte vor der Aggressivität des Russen, der hätte nichts mehr zu verlieren und würde sich den Weg gnadenlos freischießen. Wir sollten also keine Schießerei anfangen, nur wenn wir angegriffen würden, mit Dauerfeuer antworten. Noch besser wäre es, falls wir den Schlupfwinkel des Russen gefunden hätten, Meldung zu machen. Die Sowjetarmee habe dazu eigene Einheiten, weil es dort oft zu derartigen „Vorkommnissen" käme.

    Da ist also einer in der gleichen Lage wie ich, nur noch verzweifelter, aber auch couragierter, weil naiver. Den sollte ich nun helfen, ums Leben zu bringen. Noch immer die Unbesiegbarkeit der Sowjetarmee im Hinterkopf, fragte ich mich nun, wie dieses System funktionierte. Denn die einzigen realen Feinde, die ein Sowjetsoldat (oder einer der NVA) in seinem bisherigen Leben kennengelernt hatte, waren die eigenen Vorgesetzten. Imperialisten, Kapitalisten, Faschisten oder gar

    NATO-Soldaten

    waren hingegen leere Worte.

    Der Mensch entwickelte im Lauf der Zeit bedeutende Neuerungen; Nutzung des Feuers, das Rad, die Polis und die Gesetze, bis hin zur Relativitätstheorie und der Kernspaltung. In dem Vierteljahrtausend zwischen der Aufklärungsepoche, in der Friedrich II. „der Große forderte, daß der „Kerl (der Soldat) seinen Offizier mehr fürchten solle als den Feind, und dem Ende des „Kalten Krieges" legte die Evolution des menschlichen Gehirns eine Pause ein, die dann zu jenem Irrsinn, wie man ihn bei den Massenheeren des 20. Jahrhunderts erlebte, führte.

    Zwei Tage später kam Entwarnung; die sowjetischen Menschenjäger hatten den Deserteur liquidiert.

    Herbstmanöver

    Im September fand das alljährliche Herbstmanöver statt. Das AR 9 war jetzt mit seinem veralteten Kriegsgerät mehrere Wochen lang im Militärbezirk 5 der Warschauer Vertragsstaaten auf allen dortigen Truppenübungsplätzen unterwegs. Dieser Militärbezirk 5 umfasste die heutigen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin und den Norden des Bezirkes Magdeburg mit der Altmark und der Letzlinger Heide.

    In den ersten Tagen fuhr auf unserem LKW, der auch die Haubitze zog, ein Reserveoffizier mit; ich habe ihn sofort als Stasi-Spitzel erkannt, obwohl er sich als Oberschullehrer ausgab. Er versuchte ständig, mit banalsten Fragen die Soldaten über Lebensumstände und

    -haltungen

    auszuhorchen. Irgendwie kam die Rede auf hohe Lottogewinne und deren Verwendung. Ich saß bisher schweigend dabei, nun platzte ich aber heraus: „Ich würde die 300.000 Mark dem Staat schenken und mir die Freiheit erkaufen! – „Wie meinen Sie das, Genosse!? – „Mit Freiheit, meine ich nur, weg von der NVA!", sagte ich in festem Ton. Der Mann war völlig verdattert, sagte kein Wort mehr. Er wechselte beim nächsten Halt auf einen anderen LKW unserer Batterie.

    Es erschienen im Manövergelände in der Letzlinger Heide auch einige Zivilisten, offensichtlich

    SED-Bonzen

    von der Bezirksleitung Magdeburg, die sich martialisch angehost hatten. Sie trugen Schaftstiefel und Reithosen zu Ziviljackets, die allerdings mit Orden behängt waren. Diese Leute gaben in der Tat ein kurioses Bild ab … Bei dem Manöver wurde möglichst realistisch Krieg gespielt. Andernorts drohte der Kalte Krieg heiß zu werden. – Der Vietnam-Krieg eskalierte nach dem Tonking-Zwischenfall, was im Feldoffizierscourps des AR 9 zu freudiger Aufregung führte. Noch höre ich die aufgeregte Stimme von Unterleutnant Karpow, der es kaum noch erwarten konnte: „Genossen, jede Menge Karl-Heinze (damit waren die Sowjetsoldaten gemeint) haben sich freiwillig gemeldet. Vielleicht können wir uns auch bald in die Freiwilligenlisten eintragen lassen!"

    In der Letzlinger Heide, dem größten und westlichsten Truppenübungsplatz der DDR, lagen plötzlich Flugblätter herum: bunte Reklamebilder aus der Konsumwelt des Westens, primitive Elogen von Deserteuren der Grenztruppen über ihre Mallorca-Aufenthalte, Pin-up-Girls, aber auch seriöse Auflistungen vom Statistischen Bundesamt, den hohen Lebensstandard der Arbeiterklasse in der BRD betreffend.

    Sofort brüllten die Batterieoffiziere: „Feindliche Flugblätter, liegen lassen, nicht lesen! Jeder nahm sie natürlich in die Hand und überflog sie, mancher steckte sich auch eines ein. Nach einem eiligen Stellungswechsel trat der Batteriechef vor seine Truppe und sprach: „Wer trotz des Verbots ein Flugblatt eingesteckt hat, bekommt nun die Möglichkeit, es straflos abzugeben. Wer danach noch mit einem dieser Flugblätter erwischt wird, kommt wegen Wehrkraftzersetzung vor den Militärstaatsanwalt!

    Der Unterleutnant Mölschareck, genannt „Mölli, schmierte sich dann an mich heran und sagte: „Die Weiber in den Casinos waren toll, was? – „Habe ich übersehen, war meine Antwort. „Aber ich habe eine hochinteressante Publikation vom Statistischen Bundesamt gefunden, natürlich sofort wieder weggeschmissen. Die Zahlen sind aber nun leider in meinem Kellnergehirn gespeichert.

    Es gab aber auch hoffnungsvolle Erlebnisse bei diesem Herbstmanöver. Wir waren nicht nur per LKW unterwegs, es wurden auch die Verladung und der Transport per Schiene geübt. Beim Entladen in der märkischen Kleinstadt Rathenow machte ein Ehepaar mit seinen zwei Söhnen einen Abendspaziergang. Von den Knaben war der eine etwa fünf, der andere um die 14 Jahre alt. Der kleinere, am Straßenrand gehend, winkte den Soldaten fröhlich zu, wie er es im Kindergarten gelernt hatte, doch der größere Junge drückte die Hand seines kleinen Bruders nach unten und zog ihn zwischen sich und die Eltern. Eine harmlose Widerstandsgeste gegen den Militarismus, die mir aber durch die Geistesverbundenheit, die sie ausdrückte, ein Gefühl der Zuversicht und des Trostes

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