George Soros: Meine Philanthropie: Philosophie und Praxis eines Wohltäters
Von George Soros
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Buchvorschau
George Soros - George Soros
Philantrophie
Ich bin sowohl selbstsüchtig als auch egozentrisch und gebe das ohne Bedenken zu. Ich habe aber im Laufe der letzten 30 Jahre eine weitreichende philanthropische Unternehmung aufgebaut, die Open Society Foundations, die früher ein Jahresbudget von rund 500 Millionen Dollar hatte, das inzwischen jedoch in Richtung einer Milliarde klettert. (Insgesamt hat sie seit 1979 circa acht Milliarden Dollar ausgegeben.) Die Aktivitäten der Open Society Foundations erstrecken sich auf alle Teile des Erdballs und decken ein derart breites Spektrum an Themen ab, dass ich darüber selbst überrascht bin. Natürlich bin ich nicht der einzige, der selbstsüchtig und egozentrisch ist – das gilt für die meisten von uns, aber ich bin eben bereit, es zuzugeben. Es gibt auf der Welt zwar viele wirklich wohltätige Menschen, aber nur wenige von ihnen häufen ein so großes Vermögen an, wie man es braucht, um zum Philanthropen zu werden.
Ich habe mich vor der Philanthropie immer gehütet. Meiner Ansicht nach ist die Philanthropie widersprüchlich, sie führt zu viel Heuchelei und zahlreichen Paradoxa. Hier ein paar Beispiele: Die Philanthropie soll eigentlich dem Nutzen anderer gewidmet sein, aber den Philanthropen geht es in erster Linie um ihren eigenen Nutzen. Philanthropie hilft angeblich anderen Menschen, aber oft macht sie die Menschen abhängig und zu Objekten der Wohltätigkeit. Die Anwärter sagen den Stiftungen, was sie hören wollen, und diese machen dann, was der Anwärter möchte.
Aber wenn ich der Philanthropie so kritisch gegenüberstehe, warum widme ich ihr dann einen so großen Teil meines Vermögens und meiner Energie? Die Antwort liegt zum Teil in meinem persönlichen Hintergrund und in meiner Geschichte, zum Teil in dem konzeptuellen Rahmen, der mich mein Leben lang geleitet hat, und zum Teil ist es purer Zufall.
Die prägende Erfahrung meines Lebens war die Besetzung Ungarns durch die Deutschen 1944. Ich war Jude und noch keine 14 Jahre alt. Durch den Holocaust hätte ich leicht sterben oder bleibende seelische Schäden davontragen können, wäre da nicht mein Vater gewesen, der die Gefahren verstand und der mit ihnen besser zurechtkam als die meisten anderen. Er hatte im Ersten Weltkrieg gewissermaßen ähnliche Erlebnisse und das hatte ihn auf die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg vorbereitet.
Ich erzähle seine Geschichte gern: Er meldete sich freiwillig zur österreichisch-ungarischen Armee und wurde von den Russen gefangen genommen. Als Kriegsgefangener wurde er nach Sibirien gebracht. Im Lager gab er ein handgeschriebenes Literaturmagazin heraus, das an einem Brett ausgehängt wurde und darum Das Brett hieß. Die Verfasser der Artikel versammelten sich immer hinter dem Brett und hörten sich die Kommentare der Leser an. Mein Vater brachte diese handgeschriebenen Seiten mit nach Hause und ich erinnere mich noch, dass ich sie mir als Kind angeschaut habe. Das Brett machte ihn sehr beliebt und er wurde zum Gefangenenvertreter gewählt. Als aus einem benachbarten Lager einige Kriegsgefangene flüchteten, wurde als Vergeltungsmaßnahme der dortige Vertreter erschossen. Anstatt darauf zu warten, dass dies auch in seinem Lager passieren würde, scharte mein Vater eine Gruppe von Gefangenen um sich und organisierte einen Ausbruch. Sie bauten ein Floß, mit dem sie sich bis zum Meer treiben lassen wollten. Es mangelte ihnen allerdings an geografischen Kenntnissen und sie wussten nicht, dass alle sibirischen Flüsse ins Polarmeer münden. Als sie ihren Fehler bemerkten, verließen sie das Floß und machten sich durch die unbewohnte Taiga auf den Rückweg in die Zivilisation. Sie gerieten in die Gesetzlosigkeit der Russischen Revolution und erlebten einige grauenhafte Abenteuer. Das war sein prägendes Erlebnis.
Irgendwann schaffte es mein Vater, nach Ungarn zurückzukehren, aber als er heimkam, war er ein anderer Mensch geworden. Als er sich freiwillig zur Armee gemeldet hatte, war er ein ehrgeiziger junger Mann gewesen. Durch seine abenteuerlichen Erlebnisse in Russland hatte er jedoch seinen Ehrgeiz verloren und wollte vom Leben nichts anderes mehr, als es zu genießen. Zu seinen größten Freuden gehörte es, seine beiden Kinder großzuziehen. Dadurch wurde er zu einem sehr guten Vater. Auch half er gern anderen Menschen und leitete sie an und er hatte ein Händchen dafür, mit fremden Menschen Bekanntschaft zu schließen. Er legte seinen eigenen Erkenntnissen und seinem Urteilsvermögen zwar einen hohen Wert bei, aber in anderen Belangen war er grundsätzlich kein selbstsüchtiger oder egozentrischer Mensch.
Als die Deutschen am 9. März 1944 Ungarn besetzten, wusste mein Vater genau, was zu tun war. Ihm war klar, dass es unnormale Zeiten waren und dass Menschen, die sich an die normalen Regeln hielten, in Gefahr waren. Er beschaffte falsche Identitäten, und zwar nicht nur für seine engsten Familienangehörigen, sondern für einen größeren Kreis. Von denjenigen, die es sich leisten konnten, verlangte er dafür Geld – manchmal horrend viel –, anderen half er gratis. Ich hatte ihn vorher noch nie so hart arbeiten sehen. Es war seine große Stunde. Sowohl seinen engsten Familienangehörigen als auch den meisten, die er beraten oder denen er geholfen hatte, gelang es, zu überleben.
Das Jahr der deutschen Besetzung, 1944, war mein prägendes Erlebnis. Anstatt uns in unser Schicksal zu ergeben, wehrten wir uns gegen eine Macht, die viel stärker war als wir – und doch behielten wir die Oberhand. Wir überlebten nicht nur, sondern wir schafften es auch, anderen zu helfen. Dies hinterließ bei mir einen nachhaltigen Eindruck und verwandelte eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes in ein heiteres Abenteuer.* Es brachte mich auf den Geschmack, Risiken einzugehen, und unter der klugen Anleitung meines Vaters lernte ich, sie zu meistern – die Grenzen des Möglichen zu erkunden, aber nicht über diese Grenzen hinauszugehen.