Ekstasen der Gegenwart: Über Entgrenzung, Subkulturen und Bewusstseinsindustrie
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Buchvorschau
Ekstasen der Gegenwart - Paul-Philipp Hanske
PAUL-PHILIPP HANSKE
BENEDIKT SARREITER
Ekstasen der Gegenwart
Über Entgrenzung, Subkulturen und Bewusstseinsindustrie
Inhalt
Die Nacht wird zum Tag gemacht – Die Rückkehr der Ekstasen
Neugier auf drüben
Saubere Räusche
Engel und Räucherholz
Ekstasen als Universaltool
Der Gott der Ekstase – Dionysos
Ein seltsamer Gott
Rasende Frauen in den Bergen
Lösende Ekstase
Technik, Gegenwart, Vereinigung – Eine neue Definition der Ekstase
Lauter Schwierigkeiten
Blutige Anthropologie
»Das Wagnis, an der Zeit zu rütteln«
Nach innen angesetzte Handlungsreihen
Das tote Ich
Der Weg aus dem Tabu
Denken in Netzwerken
Die Ekstase als primärer Zustand
Ausnüchterung – Die Verdrängung der Ekstasen aus der westlichen Kultur
Die alten Lieder …
Der Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit
Der melancholische Blick nach vorn
Wohin verschwanden die Ekstasen?
Weniger Notwendigkeiten
Was blieb?
Tanzen – Von Rhythmus, Handelsreisen und den Freuden der Leere
Die ursprünglichste Ekstase
Augenrollende Gottheiten
Die Angst der Missionare
Tanzen bis zum Morgengrauen
Drehtanz, Sexmagie und Kokain
Beat, Bass, Ecstasy
Mit den Sternen, gegen den Uhrzeigersinn – Neuer Sakraltanz
Beten – Von der Begegnung mit höheren Mächten und dem Graben zu Wurzeln
Erfahrungen am Rande
Leer ohne jeden Rest
Meditation und Mantra
Lehre für alle versus Geheimlehre
Verschmelzungen
In Flammen
Alte, neue und ganz alte Riten
Eine Heilsperson und ihre Vorgeschichte
Ein lauter Trend
Im Taufbecken – Immersion
Auf der Suche nach der großen Mutter
Weiblichkeit und Ekstase
Fundamente aus Quallen – (Neo-)Schamanistische Spiritualität
Das Brausen des Heiligen Geistes – Pfingstkirchen
Biegen – Von Affektkontrolle, dem Kult des Moments und der Suche nach dem Wunder-Selbst
Zwei mächtige Gegnerinnen
Ein bisschen Seelenheil – Yoga im Westen
Sehnsuchtsland der Ekstatiker – Indien
Vipassana und die Wurzeln der Achtsamkeit
Verdünnte Ekstase und das Ich als Festung
Lean-Ecstasy in der Tech-Welt – Selbstqual und Doom-Scrolling
Microdosing, Flow und die Kontrolle des Samens
Schlucken – Von der Liebe zum Rausch, heilsamer Entäußerung und neuen Geschäftsmodellen
High sein
Psychedelic Business – Das Versprechen der Transformation Frei von Depression
Heilen ohne Rausch
Hierarchien der Ekstase
Auf Watte gebettet – Die stete Liebe zum Opiat
Befreiung der Massen oder archaisches Gesetz – Die Politik der Ekstasen
Scheut die Obrigkeit den Tanz?
Eine molekulare Revolution
Stahlgewitter reloaded und röhrende Alphamänner
Elitäre Ekstasen
Ein Ort für das Andere
Ein Kessel Buntes
Die Ekstase als existenzialer Zustand
Gern gesehene Ekstasen
Die alte Angst
Die Ethik der Ekstatik
Anmerkungen
Literatur
Sachregister
Personenregister
Das ist ein Klingen und Dröhnen,
Ein Pauken und ein Schalmei’n;
Dazwischen schluchzen und stöhnen
Die lieblichen Engelein.
Heinrich Heine / Robert Schumann (Dichterliebe)
Sometimes I want to leave my body.
Green Velvet
Die Nacht wird zum Tag gemacht – Die Rückkehr der Ekstasen
Neugier auf drüben
Wir interessieren uns für die andere Seite, und das schon immer. Das fing mit Frau Holle an, die einen von uns als Kind besonders in ihren Bann zog. Das lag an einer ganz bestimmten Szene: Die Protagonistin Goldmarie wird von ihrer bösen Stiefmutter dazu gezwungen, in den Brunnen zu springen, um die Spindel wieder heraufzuholen, die ihr zuvor hineingefallen war. Voller Angst gehorcht das Mädchen. Es fällt, landet aber nicht im dunklen Wasser, sondern verliert vorher die Besinnung. Im Märchen, wie es die Gebrüder Grimm niedergeschrieben haben, heißt es: »Als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, da schien die Sonne und waren viel tausend Blumen.«¹ Das schien beim Zuhören ganz und gar nicht unmöglich: nach unten zu fallen, um oben wieder aufzuwachen – denn dass der Ort oben ist, wissen wir, Goldmarie muss die Betten von Frau Holle ausschütteln und sorgt so für den Schneefall auf der Erde. Dieser Ort schien nicht von dieser Welt, man war dort nicht bei »sich selber«.
Und auch der andere von uns versuchte schon als Kind, der spröden Realität zu entkommen. Er hatte entdeckt, dass bei langem, direktem Blick in die Sonne diese irgendwann zu vibrieren beginnt. Der Feuerball bewegt und dreht sich immer schneller, verdunkelt sich, nimmt andere Farben an – und wenn er die Augen dann abwendete, lag über der Wirklichkeit ein bunter Schleier, der in vielen Farben glühte.
Später dann, in dieser nebligen Phase zwischen zwölf und vierzehn, wenn man nicht mehr Kind ist, einem aber auch die Abenteuer der Jugend noch versperrt sind, gaben wir uns beide unabhängig voneinander, denn wir kannten uns noch nicht, einem gefährlichen Spiel hin: dem Wegdrücken oder Bewusstlosmachen, im Englischen Good Kid’s High oder Space Monkey genannt. Die Technik zirkulierte als Geheimwissen unter jenen Schülerinnen und Schülern, die im Klassenzimmer gern in der letzten Bank sitzen. Sie kam vor allem in den Toilettenräumen zum Einsatz. Erst musste man hyperventilieren, dann drückte einem jemand den Brustkorb gegen die Wand. Innerhalb weniger Sekunden verlor man das Bewusstsein, was oft zum Aufprall auf den Fliesen führte. Aber die Lust am Kontrollverlust und dem langsamen Emportreiben an die Oberfläche des Bewusstseins überwog dieses Risiko.
Als wir Musik für uns entdeckten, faszinierten uns vor allem jene Stile, die unmittelbar somatisch wirken: erst die Härte von Punk und Metal, dann – als große Leidenschaft, die uns bis heute begleitet – die Monotonie von Techno und House. Bei alldem konnten die Drogen nicht ausbleiben. Auf dem Dancefloor war das vor allem MDMA, besser bekannt unter dem treffenden Namen Ecstasy. Und mit LSD fanden wir jene Substanz, die uns auf radikale Weise aus dem Alltag und seiner Zeit riss und in diese andere Welt führte, die uns schon immer lockte, vor der wir aber auch immer Respekt hatten.
Zu diesen Bewusstseinszuständen, die man durch Musik, Tanz, Verausgabung oder Substanzen erreicht oder sich ihnen damit zumindest annähern kann, hatten wir immer ein inniges Verhältnis – und haben es bis heute. So schrieben wir im Jahr 2015, da waren wir schon lange befreundet, ein Buch über die Wiederkehr der Psychedelik.² Dieses Verhältnis war aber auch lange Zeit ein zum Teil unbewusstes. Wir bildeten uns auf diese Leidenschaft weder etwas ein, schämten uns dafür aber auch nicht. Das lag schlicht daran, dass wir uns in Szenen bewegten, in denen alle neugierig auf die »andere Seite« waren und Lust an der willentlichen und vorübergehenden Ausschaltung der Ratio hatten. Diese Szenen werden gelegentlich als »Subkultur« beschrieben, ein Begriff, mit dem wir uns nie wohl fühlten, weshalb wir lieber Teile des Kanons nennen, der für diese Bewegungen identitätsstiftend war: Krautrock von Can, aber auch der harte Industrial-Sound von Throbbing Gristle. Balearic Disco, Acid House und Minimal Techno, DJs wie Carl Craig aus Detroit, Ricardo Villalobos aus Berlin oder Harvey aus L. A. Autoren wie Thomas Pynchon und Autorinnen wie Ursula K. Le Guin. Filme wie Ridley Scotts Blade Runner oder Godfrey Reggios Koyaanisqatsi. Drogengelehrte wie Timothy Leary oder Claudia Müller-Ebeling. Wir könnten ewig weiter aufzählen, aber es dürfte schon klar geworden sein, worum es sich handelt: um so etwas wie die Nachtseite der Kultur. Diese Obskurität hing durchaus zusammen mit den Umständen des Konsums der meist illegalen Substanzen. Man musste sich um einen Zugang bemühen, musste sich einarbeiten – auch wenn Arbeit in diesem Zusammenhang der falsche Begriff ist. Denn es machte vor allem Spaß.
Saubere Räusche
Doch vor einiger Zeit änderte sich etwas. Nicht plötzlich, sondern schleichend, und in Wirklichkeit ist dieser Prozess auch schon viel älter, beschleunigt sich aber seit etwa fünf Jahren zunehmend, sodass man ihm – hat man ihn einmal bemerkt – nicht mehr auskommt. Es fand so etwas wie ein Mainstreaming vormals peripherer Praktiken statt. Das Dunkel des Undergrounds wurde ans Licht gezerrt.
Zuerst fiel uns auf, dass anspruchsvolle psychedelische Substanzen wie LSD, Psilocybin oder DMT plötzlich sehr sichtbar wurden. Den florierenden Ayahuasca-Tourismus nach Südamerika (samt dessen medialer Aufbereitung in Lifestyle-Magazinen) und die boomende Festival-Kultur hätte man noch als Ausweitung von Nischen sehen können, wie es sie gerade in vielen Bereichen der Popkultur gibt. Aber wenn Celebritys wie Gwyneth Paltrow, die für eine überirdische Perfektion der Normalität steht, plötzlich glühende Bekenntnisse zu Magic Mushrooms von sich geben und von »life-changing experiences« berichten, ist das etwas anderes. Und wenn Managerinnen und Manager der Tech-Branche von den positiven Auswirkungen psychedelischer Substanzen auf ihre Kreativität schwärmen, wenn es zahlreiche Start-ups gibt, die diese Stoffe oder Therapien mit ihnen vermarkten und am liebsten auch noch patentieren wollen, ist das eine neue Qualität. Relativ neu ist auch das sogenannte Microdosing, mit dem versucht wird, die angeblich positiven Effekte der genannten Mittel – Kreativität, Fokus und je nach Marketingversprechen entweder Entspannung oder Wachheit – ohne den für viele beängstigenden Rausch zu erhalten (Spoiler: Das aber wohl nicht mehr Effekte als ein Placebo bewirkt). Dass medizinische Therapien und hirnphysiologische Forschung in den letzten fünfzehn Jahren eine enorme Konjunktur haben, ist ein zentraler Bestandteil dieser Phänomene, denn diese Entwicklung wirkte nach Jahrzehnten der Kriminalisierung gewissermaßen als Rammbock der Enttabuisierung – und wird auch Einfluss auf die weitere Diskussion um eine Legalisierung jenseits der von Cannabis haben.
Psychedelik ist heute nicht mehr nur das Ding einer eingeschworenen, informierten Gemeinschaft, sondern auf mysteriöse Weise prominent geworden. Der Use findet nicht mehr nur heimlich auf Raves, in Wohngemeinschaften oder im Wald statt, sondern selbstbewusst bis marktschreierisch im taghellen Licht der (Medien-)Öffentlichkeit. Das ist ein Bruch, der radikaler nicht sein könnte: Der Rausch, der über Jahrhunderte hinweg als schädlich, im besten Fall als unnütz gedacht wurde, ist plötzlich ein Tool geworden. Damit kann sehr effektiv geheilt werden, viel häufiger wird dieses Tool jedoch zur Selbstoptimierung verwendet. Oder die Rauscherfahrung dient als interessantes Feature, mit dem das eigene Selbst im Sinn der Gesellschaft der Singularitäten kuratiert wird. Das weggetretene Subjekt steht nicht mehr am Rand, sondern wandert in die Mitte der Gesellschaft, es ist leistungswillig, gesundheitsbewusst, wellnessaffin – und hat eine interessante Geschichte vorzuweisen.
Engel und Räucherholz
Längst kann das Phänomen nicht mehr nur auf die Tatsache reduziert werden, dass immer mehr Menschen ihre Liebe zu psychedelischen Drogen entdecken. Seit einigen Jahren boomen alle denkbaren Formen von Spiritualität. Sie verbindet, dass über verschiedene Methoden – manchmal sind es Drogen, oft aber auch meditative Techniken oder andere Rituale – ebenfalls Kontakt mit einer anderen Seite aufgenommen wird, mit einer Sphäre der Transzendenz. Dort wird dann je nach Spielart ein nicht klerikal definierter »Gott« verortet, Engel, alte Muttergottheiten, die Natur, das Universum, buddhistische Konzepte, manchmal jedoch auch völlig private und nicht zu vergleichende Ideen des persönlichen Glaubens. Diese florierende Spiritualität wird heute in allen Potenzen praktiziert: etwa von Menschen, die sich ganz und gar Techniken wie Yoga oder Meditation verschrieben haben, von neoheidnischen Priesterinnen, die zu Sonnenwenden ihre Rituale feiern, oder Gläubigen, die die kontemplative Tradition der katholischen Mystik wiederentdecken. Sehr viel häufiger sind es jedoch verdünnte Phänomene wie Achtsamkeit, persönliche Rituale wie der Miracle Morning oder das Räuchern mit Salbei oder Palo Santo. Aber auch das spirituell informierte Ausmisten, wie es die enorm erfolgreiche Ordnungs-Influencerin Marie Kondo vorschlägt – sie verwendet Elemente aus der animistischen Tradition des Shintō, in der jedes Ding beseelt ist –, gehört zu diesem Formenkreis, ebenso wie das unglaubliche Boom-Segment der spirituellen Lebenshilfe- und Wohlfühlbücher, wie sie etwa Laura Malina Seiler verfasst. Es ist ein riesiger Markt entstanden, der auf dem Versprechen der geistigen Transformation fußt. In Ländern, wo etwa der Konsum von psychedelischen Magic Mushrooms (Costa Rica, Kanada oder Niederlande) erlaubt ist, laden Ressorts für meist enorme Summen zum inner healing via Jenseitsreise ein, aus dem dann ein neues Ich zutage treten soll. Achtsamkeits-Workshops sind heute Teil der Firmenkultur vieler Unternehmen, ein beliebtes Werkzeug zur Verbesserung der Performance und ein gutes Geschäft für Anti-Stress-Gurus gleichermaßen. Und der Dernier Cri im Kosmos der Superreichen ist der private Tempel (früher war es mal die Kapelle) im Garten, wo man sich im holotropen Atmen übt, um Unbewusstes zutage zu fördern, meditiert oder sich schamanistischen Zeremonien hingibt.
Der Rückzug in spirituelle und abgeschlossene Gegenwelten ist heute in allen westlichen Industrienationen zu beobachten. Es ist darin unschwer ein Symptom zu erkennen, und zwar einer Krise, die auch in einer veränderten Zeitwahrnehmung begründet ist. Ein Kontinuum scheint gestört zu sein: Die Zukunft ist nicht mehr auf gewohnte Weise gestaltbar, zu unsicher erscheint sie, verdüstert sich – ökologisch, politisch und sozial. Alte, zumindest gefühlte Gewissheiten lösen sich auf. Oder aber, als ein scheinbar gegenläufiger Prozess, der sich jedoch gut zu den schwindenden Gestaltungsmöglichkeiten fügt – die Zukunft rast der Gegenwart entgegen. Etwas Neues kommt, aber nicht so, wie man es sich gewünscht hat – man denke an Elon Musks elitäre Weltraumvisionen. Die Flucht nach innen mag nicht hilfreich sein, aber sie ist naheliegend.
Und auch in der Sphäre der kulturellen Produktion treten die Themen Spiritualität, Ritualität und veränderte Bewusstseinszustände offen zutage. Schon der Blockbuster Avatar aus dem Jahr 2009 konnte als Ayahuasca-Trip samt kolonialistischen Implikationen gelesen werden. Das alte Narrativ expansive Zivilisation vs. Naturvolk – Letzteres hat über »heilige Substanzen« Zugang zu tieferen Seinsschichten – und die Kolonisierung fremder Welten liegen auch dem Remake des Films Dune (2021) zugrunde oder der vierten Staffel der Science-Fiction-Serie The Expanse (2019). Im Pop ist nicht nur der Rausch ein Ding wie seit den 1970er-Jahren nicht mehr – auch die Thematisierung der spirituellen Dimension der anderen Seite ist plötzlich mainstreamtauglich, was sich etwa daran zeigt, dass ein stadionfüllender Sänger wie The Weeknd Rainer Maria Rilkes erste Duineser Elegie vertont, in der von der Begegnung mit einem übermächtigen »schrecklichen Engel« die Rede ist – ein klassischer Text in Sachen Alteritätserfahrung. Vor allem aber in der Gegenwartskunst haben Zustände jenseits der rationalen Selbstkontrolle eine enorme Sogwirkung. Das zeigt sich in verschiedenen Ausprägungen: etwa wenn Marina Abramović sich über schmerzhafte Rituale in Trance versetzt und ihre eigene Spiritualität zum Thema macht, wenn schamanistische Kultpraktiken in Museen ausgestellt werden oder Performances informieren. Oder aber, wenn über das enorm erfolgreiche Konzept der Immersion die Kunstrezipientinnen und -rezipienten selbst in einen dissoziierten Bewusstseinszustand versetzt werden.
Neben diesen kulturelle Großtrends gibt es zahlreiche andere Phänomene der Gegenwart, die damit mehr oder weniger lose assoziiert sind. Das Zurückfahren der Sozialkontakte in der Pandemie ließ den Wunsch nach dem Dionysischen wuchern, nach dem Aufgehen in der Masse und dem Vergessen von Zeit und Ich. Es bleibt abzuwarten, wie sich dieses Begehren nach dem Verebben der Corona-Wellen Bahn brechen wird. Viele hoffen auf eine Neuauflage des Summer of Love. Und schließlich zeigt sich die neue, alte Macht von Enthemmung und archaischer Unvernunft auch in einem Phänomen, das die meisten bisher damit nicht in Verbindung gebracht haben: in politisch rechter Mobilisierung. Nicht nur beim Kapitol-Sturm von Trump-Anhängern, sondern auch bei zahlreichen Aufmärschen gegen die Corona-Maßnahmen liefen Personen mit, die sich offensichtlich in einer Art Rausch befanden.
Ekstasen als Universaltool
Es zeigt sich also ein Muster aus Psychedelik, Spiritualität und Ritualität, das in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat und immer noch gewinnt. Darin geht es um Selbstoptimierung, den Wunsch nach Heilung, um Flucht und Rückzug ins Archaische. Aber auch die alte, uns gut bekannte Lust am Rausch spielt noch immer eine Rolle darin. Man hat es mit einem wabernden und wachsenden Trend zu tun, der sich durch enorme Heterogenität auszeichnet. Trotz aller Unterschiede haben diese Praktiken jedoch eine Gemeinsamkeit: in allen geht es um Ekstasen. Dieser aufflammenden Ekstatik wollen wir auf den Grund gehen. Denn die Gegenwart ist geprägt von Ekstasen, genauso richtig ist aber, dass auch die Ekstasen geprägt sind von Gegenwart. Im ekstatischen Erleben und Handeln schmilzt das Zeitkontinuum auf einen absoluten Augenblick zusammen, auf das Gefühl reiner Präsenz und höchster Intensität. Während also das Zeitgefühl in den Ekstasen reduziert wird und damit das Ich, wie es sich im Alltag bewähren muss, schwindet, eröffnet sich dem Subjekt eine neue Möglichkeit. Es kann sich verbinden: mit spirituellen Konzepten, mit Rauschgebilden, mit Einsichten, die ihm bisher verschlossen waren, mit der Masse der Gleichgesinnten oder aber auch mit archaischen Ideen. Die Ekstase ist also auch ein Tool, eine Art Universalwerkzeug, das an ganz viele Probleme der Gegenwart angelegt wird, um diese individuell zu bearbeiten: den Zusammenbruch der großen Zukunftserzählungen, ökologische und soziale Angst, den so wahrgenommenen Verlust von Sinn und Perspektiven. Dieses Krisenphänomen ist aber nur die eine Seite und man würde es sich zu leicht machen, alle Ekstasen in diesem Sinn als faulen Zauber abzutun. Denn genauso wahr ist, dass das Bedürfnis nach Auflösung ein existenziales ist. Und dass das Verdrängte zwangsläufig zurückkehrt – was im Augenblick geschieht.
Von unseren eigenen Ekstase-Erlebnissen, die wir oben angedeutet haben, werden wir schweigen. Durchschnittliche Trip-Anekdoten, Storys anderer Einheitserlebnisse oder Berichte wilder Nächte sind für Außenstehende etwa so spannend wie nacherzählte Träume – und das nicht zufällig. Auf diesem Gebiet machen alle Menschen ihre persönlichen Erfahrungen. Mit unseren müssen wir nicht langweilen.
Ekstasen sind auch deshalb so schwer in Worte zu fassen, weil die Erfahrungen darin außerkognitiv oder zumindest am Rande des Denkbaren stattfinden. Gleichwohl ist eine Beschreibung möglich – aber eben nur einkreisend oder metaphorisch. Sehr viel leichter lassen sich der Kontext der Ekstase, die Techniken ihrer Herstellung und ihre Einbettung in gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge beschreiben.
Und schließlich geht es uns darum, diesen seltsamen, diversen und widersprüchlichen Komplex nicht nur zu erklären, sondern auch zu bewerten. Das ist notwendig, denn Ekstasen, die im Westen lange Zeit nur im Verborgenen oder in Entstellung gelebt wurden, werden sich nicht mehr zurückdrängen lassen. Sie sind Bestandteil der menschlichen Natur und brauchen als solche einen Platz in der Gesellschaft. Wo der sein könnte, wird sich zeigen. In diesem Sinn hat unser Buch auch ein ganz praktisches Anliegen – eines, über das wir uns in unserer Jugend, als wir den Rausch als spaßiges Wagnis außerhalb der Gesellschaft sahen, mit Sicherheit lustig gemacht hätten: eine Antwort auf die Frage, wie ein sinnvoller Umgang mit Ekstasen aussehen könnte.
Der Gott der Ekstase – Dionysos
Ein seltsamer Gott
Als im Sommer 2021 die Corona-Pandemie für einen Moment abebbte und die Lebenslust zurückkehrte – und zwar nicht allmählich und vernünftig, sondern impulsiv und rauschhaft, oft begleitet von Alkoholexzessen und nächtlichen Krawallen Jugendlicher –, wurden diese Ereignisse natürlich im Feuilleton reflektiert. In der Welt am Sonntag stand etwa ein sehr wohlwollender Text (die kritischen überwogen bei Weitem), der unter dem Titel »Hedonismus für Einsteiger« für eine Absolution der »kommenden Ekstase« plädierte. Den Text zierte ein Bild des französischen Akademie-Malers William-Adolphe Bouguereau: Die Jugend des Bacchus (1884). Darauf sieht man den jungen Gott Bacchus, der auf Griechisch Dionysos heißt (beide sind nicht völlig identisch, denn in den römischen Bacchus geht auch die Tradition eines italischen Fruchtbarkeitsgottes ein), wie er mit seiner Schar durch Bergwälder streift. Um ihn tanzen nackte Frauen und Männer, offensichtlich bahnt sich eine Orgie an.
Es ist interessant, dass auch heute noch das Bild eines antiken Gottes bemüht wird, wenn es darum geht, Ekstasen zu illustrieren. Während andere Götter des Olymps – mal abgesehen vom blitzeschleudernden Zeus und von Poseidon, dem Namensgeber üppiger Fischplatten in griechischen Restaurants – heute denkbar fremd sind, ist Dionysos bis in die Gegenwart greifbar. Seine Figur steht für all das, was etwa während der Corona-Krise prekär war: Ausschweifung, Sexualität, Auflösung in der Masse. Er ist nicht nur der Gott des Rausches (woraus dann etwas verniedlichend Bacchus, der Gott des Weines wurde), sondern auch der des Wahnsinns. Und er verkörpert auch eine archaische, ganz und gar vorzivilisatorische Welt. Kurz: Dionysos war ein durch und durch seltsamer Gott und trotz seiner fröhlichen, hedonistischen Erscheinung gefährlicher als alle anderen Götter. Aber, so die Überzeugung im antiken Griechenland, man musste eben mit ihm auskommen – und von diesem komplexen Verhältnis zeugen die Kulte und Mythen um Dionysos.
Es war Friedrich Nietzsche, der in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) Dionysos zu allgemeiner Popularität in der Moderne verhalf. Er stilisierte ihn als Antipoden zu Apollon: Dieser stehe für die Ordnung, für das Maß, für die Begrifflichkeit und Vernunft. Dionysos hingegen für den Rausch, die Schaffenskraft und die Überwältigung, für die Zerreißung des »principium individuationis«, also des Daseins radikal voneinander getrennter Individuen und Wesenheiten. Nietzsche wollte damit sowohl zwei grundsätzlich verschiedene Eigenschaften des menschlichen Daseins beschreiben als auch die Mechanik des ästhetischen Schaffensprozesses und nicht zuletzt ein Kräfteverhältnis in Kunstwerken. Die von ihm dramatisierte Opposition ist jedoch mehr an den Opern Richard Wagners interessiert als am historischen Dionysos-Kult oder an dessen Mythos. Betrachtet man die griechische Götterwelt, fällt auf, dass Dionysos eine seltsame Randstellung hat. So gibt es einen alten Streit darüber, ob er zum engeren Kreis der zwölf olympischen Götter, also zu den »Hauptgöttern« zu zählen ist. Das hat vor allem einen Grund: Dionysos hat eine sterbliche Mutter, Semele. Die Berliner Religionswissenschaftlerin Susanne Gödde hat viel zu Dionysos geforscht, sie urteilt im Interview: »Einen göttlichen Vater und eine sterbliche Mutter zu haben, bedeutet ja eigentlich, dass man ein Heros ist, ein Halbgott, wie Achill. Dionysos jedoch wird als Gott verehrt, aber er ist dadurch natürlich ein ›angeknackster‹ Gott. Ihm fehlen fünfzig Prozent Unsterblichkeit. Und das ist wirklich sehr ungewöhnlich. Er ist der Einzige unter den griechischen Göttern, der die volle Göttlichkeit nicht erfüllt.« Diese Sonderstellung zeigt sich in einzelnen Mythen. Während sich andere Götter stets auf ihre übernatürliche Stärke verlassen und alles Irdische zerschmettern können, ist Dionysos manchmal schwach. Er zeigt dann typisch menschliche Eigenschaften wie Angst, er wird verfolgt und muss fliehen. In einem späten Mythos stirbt er sogar – eine absolute Ausnahme in der Götterwelt.
Aber Dionysos ist auch ein mächtiger Gott. Dargestellt wird er meist als zarter, fast femininer Jüngling, er ist kein muskelbepackter Alphamann wie Zeus oder Poseidon. Doch er besitzt eine ganz besondere Macht: Er kann Menschen in den Wahnsinn treiben. In dieser Eigenschaft wird er von den Griechen als »epidemisch« bezeichnet. Er fällt von außen ein, als das denkbar Fremde, verbreitet sich wie eine Krankheit – und »verrückt« die Menschen. Lange Zeit wurden diese seltsamen Eigenschaften so gedeutet, dass Dionysos ein »importierter Gott« sei, der aus dem Orient oder gar dem barbarischen Norden in die patriarchal geordnete Götterwelt Griechenlands »eingewandert« sei, woraus seine »Outlaw-Position« folge. Als Argument dafür galt immer, dass Dionysos bei Homer, der das frühe Griechentum repräsentiert wie kein Zweiter, so gut wie nicht vorkommt. Susanne Gödde widerspricht dieser Darstellung, indem sie darauf hinweist, dass Dionysos schon auf den Linear-B-Tafeln der Mykenischen Kultur, also im 15. bis 12. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, erwähnt wird. Gödde: »Ich glaube, diese Fremdheitszuschreibung – sei es in der Antike, sei es in der Moderne – hat etwas damit zu tun, dass er die Menschen in einen Zustand versetzt, der etwas fundamental Fremdes ist: nämlich in den Rausch oder die Ekstase. Dionysos ist ein fremder Gott, aber nicht geografisch fremd, sondern hinsichtlich der Wirklichkeit, die er bei den an seinem Kult Teilnehmenden erzeugt.«
Die bedeutendste griechische Quelle, die wir über Dionysos haben, ist das Stück Die Bakchen des Dramatikers Euripides aus dem Jahr 406 vor unserer Zeitrechnung. Es ist eine der unheimlichsten griechischen Tragödien und eine, die bis heute bewegt, was die zahlreichen Adaptionen zeigen. Die Geschichte ist für griechische Verhältnisse vergleichsweise einfach: Der Gott Dionysos kommt aus Asien, das er seinem Kult unterworfen hat, nach Theben, wo seine Mutter begraben liegt. In der Stadt erscheint er als attraktiver Jüngling, was König Pentheus argwöhnisch bemerkt: »Dem Aussehen nach bist du, Fremdling, nicht übel, so nach Weibsgeschmack, wozu du ja nach Theben kamst. Denn deine Locke, lang, nicht wie’s zum Ringplatz passt, ergießt sich über deine Wange, schmachtend, süß. Weiß hältst du dir die Haut, sie sorgsam pflegend, fern den Sonnenstrahlen, ständig in des Schattens Schutz, um Liebe zu erjagen, durch der Schönheit Reiz.«¹ Der König, ein Vertreter der Ordnung, weiß nicht, wer vor ihm steht, vor allem aber erkennt er Dionysos nicht als Gott an. Dessen toter Mutter unterstellt er, Unzucht getrieben und die Liaison mit Zeus nur erfunden zu haben. Dionysos aber hat seine Macht längst geltend gemacht. Unter den Frauen Thebens verbreitet er den göttlichen Wahnsinn, er lässt sie in Ekstase verfallen: Sie werden zu »Bakchen«. Bakchos, auf den auch der römische Name des Gottes, Bacchus, zurückgeht, ist ein Beiname des Dionysos. Er bezieht sich auf das Verb bakcheuein, schwärmen (und zwar im räumlichen Sinne, also umherschweifen). Dionysos ist Bakchos, weil er seine Anhängerinnen (es sind nur Frauen) zum ekstatischen Schwärmen in den Wäldern anstiftet.
Dieses »Schwärmen« ist keine harmlose Landpartie, sondern vielmehr Urbild der Ausschweifung. Ein weiterer Beiname des Dionysos ist »Bromios«, der Lärmende. Seine Anhängerinnen machen eine Menge Lärm, vor allem mit dem Tympanon, der Handpauke. Dazu schwingen sie den Thyrsos, den Stängel des Riesenfenchels, an dessen Spitze ein Pinienzapfen befestigt ist. Schlagen sie mit diesem auffallend phallischen Kultstab gegen Felsen, sprudelt Wein hervor, berichten die Boten des Königs Pentheus. Aber sie erzählen noch Ärgeres: Die Bakchen werden in der Ekstase selbst zu wilden Bestien. Mit bloßen Händen erlegen und zerreißen sie im Wald Tiere. Damit ist das Ende des Königs vorweggenommen. Immer noch an der Macht des Gottes zweifelnd, will er das wilde Schwärmen der Frauen dann doch beobachten, die Neugier treibt ihn in den Wald. Doch die Frauen entdecken den Spanner, schütteln ihn vom Baum – und zerreißen ihn so, wie sie es mit den Wildtieren tun. Seine eigene Mutter, Agaue, steckt Pentheus’ Kopf auf den Thyrsos und marschiert so mit den übrigen Bakchen in Theben ein.
Auch heute noch befremdet die Drastik des Stücks. Was wollte Euripides den Athenern damit sagen? Dass die Macht des Gottes unbedingt anzuerkennen ist? Dass es keinen Sinn hat, sich dessen Aufforderung zur Ekstase zu widersetzen, dass diese sonst nur blutig wird? Interessant ist, wie diese Ekstase dargestellt ist. Vielleicht nicht ganz zufällig erscheint Dionysos hier mit Attributen, die auch in schamanistischen Kontexten auftauchen. Die Pauke, die Flöten, der Lärm, all das deutet darauf hin, dass die Ekstase durch eine Technik hergestellt wird. Dann Dionysos selbst: Er wird nicht nur als junger, femininer Mann dargestellt, sondern ist auch in ein Leopardenfell gehüllt – eine Besonderheit in der griechischen Götterwelt, in der sonst strikt Hüftschurz angesagt ist. Dazu passt auch, dass Dionysos oft von gefährlichen wilden Tieren umgeben ist, die in seiner Gegenwart jedoch zahm wie Schoßhündchen sind. Wieder muss man an schamanistische Mischwesen aus Mensch und Tier denken, genauso wie bei der Tatsache, dass die Jagd und der Fleischverzehr der Bakchen eine so zentrale Rolle spielen – laut der Ethnologie entstand der Schamanismus ja als eine Art Jagdzauber.
Fraglich ist, welche Rolle die sexuelle Komponente spielt. Sexualität ist eine Art Grundierung des Stücks. König Pentheus beschuldigt den viril-jungenhaften Dionysos nicht nur, ein Schürzenjäger zu sein. Es ist sein eigener Voyeurismus, der ihn schließlich in den Tod reißt. Bleibt die Frage, wieso es nur Frauen sind, die Dionysos in Ekstase versetzt, wieso im Wald keine gemischtgeschlechtlichen Orgien stattfinden. Geht es