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Ballade vom Abendland
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eBook142 Seiten1 Stunde

Ballade vom Abendland

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Über dieses E-Book

Wir kennen alle Details des Ersten Weltkriegs, seinen Beginn, seinen Verlauf, sein Ende. Doch die Wahrheit über diese fundamentale Erschütterung des Abendlandes kennen wir nicht. Vuillard führt uns diese Unkenntnis mit seiner grandiosen literarischen Geschichtsrhapsodie vor Augen. Er vermischt die sonst säuberlich getrennten Perspektiven und fügt sie zu einem neuen Ganzen zusammen. Mit atemberaubenden, musikalisch komponierten Assoziationen verbindet er die große Politik mit dem Elend der Schützengräben, die Detonationen der Gasgranaten mit den gemeinsamen Tänzen der Mächtigen jenseits der Front. In der ›Ballade vom Abendland‹ wird die Geschichte zum Handelnden, erkennbar im Mosaik der Bilder, Vuillard will uns befreien, ernüchtern vom trunkenen Schwelgen in Tod, Opfer, Schlachten, Zerstörung und Heldentum.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. März 2014
ISBN9783882214093
Ballade vom Abendland
Autor

Éric Vuillard

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründete, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu, dem Franz-Hessel-Preis und dem Prix Goncourt ausgezeichnet.  

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    Buchvorschau

    Ballade vom Abendland - Éric Vuillard

    II.

    VORSPIELE

    Zunächst einmal hatte man denselben Geschmack. Eine verfeinerte und stolze Elite. Königin Victorias Enkel besetzten den englischen und deutschen Thron, derselbe Hintern hatte seine Backen auf zwei Stühle verteilt. Alle Dynastien Europas besaßen Vorfahren, die in denselben Laken geschlafen hatten. Die Blutsverwandtschaft gebot überall auf dem Kontinent über eine strenge Moral. Der Kaiser war Dragoneroberst der britischen Armee, und sein Vetter Georg V. gehörte der preußischen Garde an. Es hätte besser nicht sein können. Die Premierminister, Könige, Präsidenten waren schwer voneinander zu unterscheiden. Die Obrigkeit hatte so gut wie überall dasselbe bärtige Aussehen, die Männer trugen sämtlich hübsche Truthahnlappen am Kinn. Jeden Sommer pflegte man gemeinsam einen vornehmen Tourismus an der französischen Küste, spielte Whist, teilte sich dieselben Geliebten. Davon abgesehen waren die einzigen Ausländer, die weitab von Zuhause anzutreffen waren, Seeleute, Dienstboten oder Diebe. Es war eine Welt mit einer stolzen Vorgeschichte, die selbst aus schuppigen Wänden noch Geld machte. Man regierte mit dem Geld von Kopra und Gummi, mit den Schweißtropfen eines ganzen Arbeitsvolkes über seine kleine Spanne Glück. Es war das Frankreich von Feuillade und Mistinguett, von Fallières und Poincaré. Fallières war ein freundlicher Herr, der Präsident wurde. Während des ersten Teils seiner Amtszeit begnadigte er alle zum Tode Verurteilten. In Cherbourg traf er Nikolaus II., sie tranken Tee, um die Triple Entente zu festigen. Im Jahr 1912 erfand er die Wahlkabine – ein kleiner Verschlag, in dem der Mensch hinter einem Vorhang seine Grenzen niederringt und die Faust ballt. Zum Schiffbruch der Titanic sprach er der ganzen Welt sein Beileid aus, vergaß allerdings, es den französischen Familien auszusprechen, und fuhr in Urlaub.

    Damals stellen die Dragonerregimente den Großteil der französischen Kavallerie. Es gibt alle Requisiten eines Historienschinkens: Mähnen, krapprote Hosen, aufwendige Säbelkoppel. Die Österreicher treiben die Kunst des Krieges und des Federschmucks indes noch weiter als die Franzosen. Ihre Regimenter lassen sich an feinen Farbunterschieden erkennen: kirsch-, rosa-, amarant-, karmin-, scharlach- oder hummerrot. Die Engländer und die Deutschen wiederum sind in Kaki und Feldgrün gekleidet, das ist moderner, aber trister. Man stelle sich einmal all diese Armeen voller Litzen und Helmbüsche vor, die mit Tartans, Kilts und Bommeln kombinierte Golfbekleidung, die farbigen Käppis und spitzen Helme, all die pikardischen oder holländischen Schöpfe, die pfeifend durch eine große Sonnenlache marschieren! Ein schöner Krieg, der sich da anbahnt, ein ganzes Arsenal an Dummheiten, eine unerhörte Verspätung, ganz abscheuliche Fortschritte, ein Heldentum, das vom Eisen zerschmettert werden wird. Denn es ist eine seltsame Welt, eine doppelte: zugleich eine sehr alte, eine Welt aus Salpeter und Stockrosen, aus Fächern und schlechten Walzern, aber auch die Welt der ersten Panzer, der Haubitzen, der ersten großen Tötungsmaschinen. Die Absolventen von Saint-Cyr gehen tadellos gekleidet ins Feuer, bald sieht man junge Grünschnäbel mit Helmbüschen und weißen Handschuhen ein paar Tage umherstolzieren, bevor die ersten Maschinengewehre ihre Federn niedermähen.

    Schon 1810 legte sich Preußen eine Kriegsschule zu. Die Wörter »Schule« und »Krieg« nehmen sich merkwürdig nebeneinander aus; man stellt sich Schüler vor in Reih und Glied, mit zu großen Stiefeln; Schlafsäle, in denen man mit der Trompete geweckt wird. Und was lernt man in einer Kriegsschule? Die Hacken zusammenschlagen. Denn man muss noch ein bisschen warten, bis sich eine richtige Kriegsausbildung entwickelt. Die ersten Kriegsschulen sollen Untergebene fabrizieren, spezialisierte Dienstboten, die ihren Herren zur Hand gehen können. Denn lange sollte man die Vorgesetzten der Armee noch auf Empfehlung einer alten Cousine, unter den Söhnen der Familie auswählen. Es gilt unter Freunden zu bleiben, der Krieg wird gespielt wie ein Theaterstück, dessen Text man seit frühester Kindheit kennen sollte, die Hauptrollen sind reserviert, nur die Bajonette warten aufgereiht im Ständer, bis irgendeine Hand nach ihnen greift. Der vernichtende preußische Sieg über Frankreich 1870 sollte diese alten Gewohnheiten verändern. Künftig fabriziert man Offiziere wie Kanonen. Man trichtert ihnen alle nötigen Theorien ein; sie nehmen an Simulationen teil, eine Art Spiel für Erwachsene. Schauen Sie nur, wie diese langen Tölpel durch die kalte Landschaft rennen und ihre Hefte vollkritzeln. Sie zeichnen Kurven, Pfeile, streichen sie wieder durch, skizzieren erst die Einkesselung, dann die Befreiung – und zack! alles ist verloren. Die Übungen werden benotet. Die großen Buben zeichnen, laufen über Brachland, arbeiten zu mehreren, prüfen die Wahrscheinlichkeit zu sterben und zu töten. Es ist ein so gigantisches und aufregendes Spiel, dass man für einen Augenblick meinen könnte, sie würden nie mehr wirklich kämpfen, sondern nur noch daran denken. Man könnte meinen, sie würden von nun an rennen, notieren, ausmalen, planen, korrigieren, die großen Blätter, auf die sie ihre Frontlinien zeichnen, würden alle bevorstehenden Kriege in sich vereinen, und die Wochenendurlaube dieser merkwürdigen Schüler wären die erträumten Waffenstillstände ihrer Armeen aus Rotz und Karton.

    Aber es ist kein Spiel. Die Auswahl ist streng. Die Auszubildenden werden selektiert wie heute die Charolais-Rinder. Eine ganze Wissenschaft des Einstellens entsteht. Man rekrutiert gewissenhafte und intelligente Schüler, nichts von furor oder impetus. Der Krieg löst sich fast vollständig von der alten Ordnung. Es regiert die Vernunft, das heißt: die Zeit, die Zahl und die kühle Summe der Kräfte. Man braucht gute Hauptmänner, gute Oberleutnants, man braucht Erdbauarbeiter, Hufschmiede, Kantinenpersonal, Pferde, Feldküchen, Uniformen und Trompeten. All das gehört nun an die Spitze einer Kolonne oder einer Zahlenreihe. Man muss planen, einteilen, kombinieren. Alles wird zum Beruf, und der Krieg ist ein riesiges Unternehmen, das pausenlos vorbereitet werden will. Man kann nicht leben, ohne über ihn nachzudenken, man kann nicht eine Nacht lang leben, ohne eine Granate auszubrüten. Und der große Ameisenhaufen voll grauer Eier ist nichts weiter als das Ergebnis einer präzisen, kontinuierlichen, erschütternden Berechnung, die – mehr als alles andere, mehr als ihr Ergebnis, mehr als ihr abstraktes Ziel zu siegen und zu zerstören –, die entsetzliche Verschwörung des Nichts zu sein scheint. Denn in gewisser Weise wirkt niemand, wirkt nicht die kleinste Seele an der tatsächlichen Umsetzung all dessen mit. Doch Millionen Hände tragen, ziehen, polieren, schneiden, lagern, stapeln die Patronen, das Pulver, die Stahlklingen, Millionen Augen schauen und sehen doch nichts. Herrlicher Wahn des Menschen, so sanft, so wirkungsvoll. Der Vorarbeiter, der Arbeiter, der Kaufmann, alle – mit Ausnahme einiger argwöhnischer Patrizier –, alle gehen mit verbundenen Augen in den Krieg, alle schreiten sie, die Hand auf dem Herz, dem Unbegreiflichen entgegen. Sicher, es gibt das Sinnen auf Revanche, diese Gründe, die genannt werden. Aber es reicht nicht, es reicht nie, um zu erklären, weshalb eines Tages Millionen von Männern gemeinsam singend aufbrechend, einander gegenüber Stellung beziehen und plötzlich zu schießen beginnen. Es gibt einen Kalender der Seele, den niemand wirklich kennt, und den kein Bündel aus Gründen, keine noch so überzeugende Erklärung erschöpfend begreift.

    Da hätten wir also junge, gut ausgebildete Offiziere, wunderbare Kostüme, aber es braucht noch jemanden zum Herumkommandieren, es fehlt noch ein Volk aus Armen und Beinen, um die Gewehre zu schultern und die Kanonen zu laden. Wenn die Dolmane übergezogen, die Knopflöcher geschlossen, die Schulterstücke angenäht sind, braucht man noch die Frontschweine, die Landser, Grashopper, Muschkoten; man braucht noch Fleisch und Blut. Im Jahre II gab es die Levée en masse, dann 1798 das Jourdan-Gesetz zur Wehrpflicht. Die Wehrpflicht hielt im Rahmen der Befreiungskriege 1814 ihren Einzug in Preußen. Sie hatte in der ganzen Welt Erfolg und wurde für die Staaten Europas zum Mittel für eine neue Art von Krieg, in dem Industrie und Fleisch gemeinsam eine fantastische Lektion in Sachen Verschwendung erteilten. Moloch wollte trinken, wollte essen. Die gutgläubigen Nationen schickten ihm ihre Jugend. Es war ein Gemetzel. Die Wehrpflicht ist der Name für diese Entfesselung, für diese furchtbare Freigiebigkeit der Körper, als man die Jugend zum Sterben auf die Zuckerrübenfelder schickte.

    DIE WELT ZU PFERDE DURCHQUEREN

    Die Osterglocken hatten schon Mitte März geblüht. Dann war die Reihe an den Kirschbäumen, den Magnolien, all die weißen und rosafarbenen Büschel, die verwaist auf schwarzen Ästen wachsen. In diesem Jahr hatte man schöne weiße Blüten auf den Büschen gesehen, besonders dichte Blütenzöpfe, ungleich dichter als gewöhnlich. Es war ziemlich lange kalt gewesen und ganz plötzlich hatte wohl das mildere Wetter zu diesem dichten und seltenen Aufblühen aller Blumen gleichzeitig geführt. Auch der Ginster war in diesem Jahr besonders gelb gewesen, ein leuchtendes und frisches Gelb. Schon im April

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