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Traurigkeit der Erde: Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody
Traurigkeit der Erde: Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody
Traurigkeit der Erde: Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody
eBook100 Seiten1 Stunde

Traurigkeit der Erde: Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody

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Über dieses E-Book

Indianer zu Hunderten, Horden von Bisons und ihre Jäger, Hitze und Spannung, Staub und das unentwegte Knallen von Schüssen – Éric Vuillards Erzählung strotzt vor Abenteuer. Doch die Spur verläuft im Kreis, die Männer bewegen sich vor einer riesigen Leinwand, die Rufe der Menge überdecken alle Geräusche : Billy Cody alias Buffalo Bill tobt im Zentrum eines Spektakels, das als Wildwest-Show über zwei Jahrzehnte in der ganzen Welt bekannt war und eine Geschichte von Heldentum und gerechtem Zorn konstruierte. Doch die Schlachten der Sieger, der heroische Gründungsmythos eines vermeintlich freien Landes, waren das Massaker an Amerikas Ureinwohnern, deren Überlebende nun gezwungen sind, im Kostüm des Besiegten zu posieren und ihre Erniedrigung bei jeder Darbietung abermals zu durchleben. Éric Vuillard konfrontiert in dieser fesselnden historischen Rhapsodie den amerikanischen Mythos der Eroberung des Westens mit den vergessenen Gesichtern ihrer Opfer und entlarvt das erste große Massenvergnügen der Neuzeit als lügenhafte Umerzählung der brutalen Ausrottung eines Volkes in ein gigantisches, von den Siegern zu Markte getragenes Spektakel.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Juni 2017
ISBN9783957574305
Traurigkeit der Erde: Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody
Autor

Éric Vuillard

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründete, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu, dem Franz-Hessel-Preis und dem Prix Goncourt ausgezeichnet.  

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    Buchvorschau

    Traurigkeit der Erde - Éric Vuillard

    Gala

    Das Museum des Menschen

    Das Spektakel ist der Ursprung der Welt. Dort verharrt das Tragische, reglos, merkwürdig unzeitgemäß. Auf der Weltausstellung 1893 in Chicago, die den vierhundertsten Jahrestag der Reise Kolumbus’ feierte, zeigte ein im Mittelgang postierter Reliquienstand den vertrockneten Leichnam eines indianischen Neugeborenen. Es gab einundzwanzig Millionen Besucher. Sie spazierten über die Holzbalkone des Idaho Buildings, bestaunten die Wunder der Technik, wie jene kolossale Venus von Milo aus Schokolade am Eingang des Landwirtschaftspavillons, und dann leisteten sie sich eine Tüte Würstchen zu zehn cent. Man hatte zahllose Bauten errichtet, und das Ganze ähnelte einer schlechten Sankt-Petersburg-Kopie, deren Gipsbögen und -obelisken aus allen Epochen und Ländern stammten. Die Schwarz-Weiß-Fotos davon vermitteln die Illusion einer außergewöhnlichen Stadt mit statuen- und springbrunnengesäumten Palästen, mit Wasserbecken, zu denen die Steintreppen sanft abfielen.Und doch ist alles falsch.

    Der Glanzpunkt der Weltausstellung aber, die Krönung, der größte Zuschauermagnet, waren die Vorstellungen der Wild West Show. Alle wollten sie sehen. Und auch Charles Bristol – der Inhaber des indianischen Reliquienstands, der den Kinderleichnam zur Schau stellte – wollte alles stehen und liegen lassen, um hinzugehen! Dabei kannte er dieses Schauspiel, weil er zu Beginn seiner Karriere manager und Kostümbildner für die Wild West Show gewesen war. Aber das hatte sich geändert, mittlerweile war es ein gigantisches Unternehmen. Pro Tag fanden zwei Vorstellungen statt, bei achtzehntausend Plätzen. Die Pferde galoppierten vor riesigen bemalten Leinwänden. Es handelte sich nicht mehr um die ihm vertraute vage Abfolge von Rodeos und Scharfschützen, sondern um eine regelrechte Inszenierung der Geschichte. Und während die Weltausstellung die industrielle Revolution zelebrierte, verherrlichte Buffalo Bill die Eroberung.

    Später, sehr viel später arbeitete Charles Bristol für die Kickapoo Indian Medicine Company, die ungefähr achthundert Indianer und etwa fünfzig Weiße beschäftigte, um ihren Kram zu verkaufen. Ihr Spitzenmedikament war Sagwa, eine Mischung aus Kräutern und Alkohol gegen Rheuma oder Verdauungsbeschwerden. Vor allem die Cowboys hatten anscheinend ganz besonders unter Blähungen und geräuschvollen Störungen der Verdauung zu leiden, da man überall im Land auf der Suche nach einem Heilmittel war. Schließlich gab Charles Bristol den Medikamentenverkauf auf und begab sich mit seiner Kunstsammlung auf ausgedehnte Rundreisen. Zwei Winnebago-Indianer der Medicine Company schlossen sich ihm an. Das Museum machte Station im mittleren Westen, und die kleinen sketchs, in denen die Indianer tanzend die Rolle jedes einzelnen Kunstobjekts veranschaulichten, waren so unterhaltsam wie lehrreich.

    Ende 1890, knapp drei Jahre vor Eröffnung der Weltausstellung, hatte sich Charles Bristol mit einem Armleuchter namens Riley Miller zusammengetan. Nachdem Bristol sich mit Riley eingelassen hatte, ist der Legende nicht mehr zu glauben. Bis dato verdankten sich die von Bristol zusammengetragenen Schätze ihm zufolge seinen Bekanntschaften mit Indianern – eine ganze Reihe von kleinen Geschenken. Aber Riley Miller war ein Mörder und ein Dieb. Er skalpierte und entkleidete die toten Indianer, ermordete sie und nahm ihnen dann ihre Mokassins weg, ihre Waffen, ihre Tuniken, alles. Männern, Frauen oder Kindern. Ein Teil der von Bristol auf der Messe in Chicago ausgestellten Reliquien stammte daher. Später sollte das Historische Museum in Nebraska Charles Bristols Sammlungen kaufen; und heutzutage befindet sich womöglich irgendwo im Museumsfundus das vertrocknete Indianerkind der Weltausstellung. Daran sieht man, dass das Schauspiel und die Wissenschaften vom Menschen in denselben Vitrinen ihren Anfang nahmen, mit Toten abgenommenen Kuriosa. In den Regalen der Museen auf der ganzen Welt finden sich bis zum heutigen Tag derartige Beutestücke, Trophäen. Und das, was wir dort als Ausstellungsobjekte von Negern, Indianern oder Asiaten bewundern, sind den Leichen geraubte Gegenstände.

    Was ist das Wesen des Spektakels?

    Blicken wir kurz auf die Jahre vor der Weltausstellung in Chicago zurück, und untersuchen wir diese fabelhafte Wild West Show etwas genauer. Was bringt täglich vierzigtausend Menschen dazu, sich dieses Schauspiel anzuschauen? Welche Schräglage ihres verfliegenden Lebens lässt sie bis in die große Manege rutschen, in der zwischen Pappkulissen galoppierende Reiter brüllen? Buffalo Bill hatte zehn Jahre vor der Ausstellung sein Spektakel auf die Beine gestellt; das Ganze war durch die Verknüpfung der unterschiedlichen Nummern langsam gewachsen. Die erste Fassung bestand lediglich aus einer eintönigen Abfolge von Rodeos, aber Buffalo Bill beließ es nicht dabei. Der ehemalige ranger sollte die Kunst der Unterhaltung auf der Bühne revolutionieren, sollte etwas anderes daraus machen. Buffalo Bill zog mit seinem Zirkus von Stadt zu Stadt, feilte an den Nummern, engagierte immer neue Stars; und die Wild West Show verwandelte sich erfolgreich: Es war kein einfacher Zirkus mehr, nicht mehr nur eine Schaustellertruppe, die auf die Bretter stieg, nein, es war etwas völlig Neues. Dabei war all das bei näherer Betrachtung ziemlich unzusammenhängend, eine Abfolge kurzer Szenen; und es gab keine Sensation, keine Monster, keine Schreckgestalten; was aber dann?

    Bewegung und Aktion. Die pure Wirklichkeit. Ja, einfach ein paar galoppierende Pferde, nachgestellte Schlachten, Spannung, Typen, die tot umfallen und wieder aufstehen. Es fehlte an nichts. Und das Publikum kam immer zahlreicher, klatschte, lachte, schrie, war gebannt, fasziniert; als sei die Welt in einem Trommelwirbel erschaffen worden.

    Doch der entscheidende Funke lag in etwas anderem. Die zentrale Idee der Wild West Show war eine andere. Das Publikum musste durch eine Ahnung von Leid und Tod, die es fortan nicht mehr loswürde, in Staunen versetzt werden. Es musste aus sich herausgeholt werden, wie kleine silberne Fische aus den Keschern. Vor seinen Augen mussten menschliche Gestalten schreiend in einer Blutlache zusammenbrechen. Es mussten Bestürzung her und Schrecken, Hoffnung und so etwas wie eine über das gesamte Leben geworfene Klarheit, äußerste Wahrheit. Ja, die Leute mussten schockiert werden – das Schauspiel muss alles, was wir wissen, erschüttern, es schleudert uns aus uns selbst heraus, nimmt uns alle Gewissheiten und verbrennt uns. Ja, das Spektakel verbrennt, ob es seinen Gegnern passt oder nicht. Das Spektakel beraubt und belügt und berauscht uns, es zeigt uns die Welt in all ihren Facetten. Und bisweilen scheint die Bühne weltlicher zu sein als die Welt, lebendiger

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