Fetzen: Für eine Philosophie der Entschleierung
Von Marie Rotkopf und Marcus Steinweg
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Über dieses E-Book
So aktivieren sie den Entschleierungsprozess des poetischen wie philosophischen Denkens, um festzustellen, dass der Schleier oft nichts verbirgt, weshalb die Philosophie der Entschleierung feststellt: Die Masken haben ihre Brauchbarkeit verloren. Die Masken sind gefallen.
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Buchvorschau
Fetzen - Marie Rotkopf
Disputation um die Leere
Im Gespräch mit Xavière Gauthier insistiert Marguerite Duras auf der für den Schreibprozess konstitutiven Erfahrung der Leere. Sie setzt das Wort in den Plural. Es gebe da »Leeren, wenn Sie so wollen, die sich durchsetzen. […] da sind Leeren, die plötzlich sichtbar werden.«¹
Vielleicht ist es das, was Duras Schreiben nennt: Öffnung auf die sonst unsichtbaren Leeren, die jede Bedeutungsarchitektur, jedes soziale Gefüge, jede Liebe, jede Freundschaft, jede Grammatik, jeden einzelnen Satz unterminieren. Die Leeren oder Leerstellen in der Realitätstextur wie in der Sprache werden entdeckt. Sie werden nicht aufgerissen, sie sind schon da. Vielleicht verschieben sie sich von hier nach da, vergrößern oder verkleinern sich. Aber sie sind da. Es sind apriorische, nicht leicht lokalisierbare Leeren, auf die die écriture von Duras zielt. Das unterscheidet ihren Begriff und ihre Praxis des écrire von der herkömmlichen Literatur, zumindest von einem großen Teil der literarischen Tradition. Man müsste hinzufügen, dass Maurice Blanchot, mit dem Duras befreundet war, womöglich über den Abstand und die Nähe einer gewaltigen Leere hinweg, kaum weniger mit der Leere befasst war, in ihren Modi des Verschwindens und der Abwesenheit.
Die theologische Resonanz ist eklatant. Die mystischen Traditionen, die negative Theologie, auch Simone Weil, die Gott als Inexistenz begegnet, durch ein Schreiben, das den Charakter der Anrufung annimmt, des aporetischen Gebets. Auch das Schreiben von Duras richtet sich an die Insignifikanz und Inexistenz Gottes. Es ist ein Beten ohne Gott. Aber vielleicht immer noch ein Beten, der Griff ins Leere, den sich kaum ein Mensch versagt.
Duras rührt an die der symbolischen Ordnung inhärente Dimension des Schweigens. Sie tut es in der Materialität der Sprache und Bilder. Im vollen Wissen darum, dass, nur weil Wissen nicht alles ist, das Unwissbare es genauso wenig sein kann, arbeitet Duras noch an der Zerstörung des letzten Rests Theologie. Dennoch gibt es bei ihr eine Art sakraler Dimension der Literatur. Analog zu Bataille wird das Sakrale seiner Vernichtung preisgegeben.
Détruire, dit-elle – ist auch der Imperativ der Duras’schen Schreibpraxis im Allgemeinen. So wie es bei ihr heitere Verzweiflung gibt, die mit der Berührung der Leere koinzidiert. Jedenfalls öffnet Duras sich im Schreiben der ontologischen Inkonsistenz ihrer Welt.
*
Détruire, dit-elle. Ja, alles fängt mit diesem Satz an. Stein Weg, du erleuchtest uns die Welt zu Marguerite Duras. Ich möchte dich mir vorstellen, du über das Buch gebeugt. Ja, alles fängt mit diesem Satz an, für mich auch. Und alles fängt mit unseren gemeinsamen Referenzen an. Ohne Referenzen kein Denken. Das nennt man Wirklichkeit und Zynismus. Du hast mir einmal gesagt, du warst erst einmal schockiert von ihrer Schreibweise. Warum nochmal? Ich denke auch, dass Duras das Sakrale seiner Vernichtung preisgegeben hat, gedacht hat, formuliert hat, geschrieben hat, und das hat mein Glück ausgemacht. Das war eine Offenbarung. Im Gegensatz zu Bataille. Ich verstehe genau, was Michel Foucault meinte, ich folge aber seinen Gedanken nicht. Bataille war un vieux con², ich musste lächeln, ich muss immer noch lächeln, wenn ich ihn lese. Seine Verzweiflung, mehr, sein Schmerz ist nicht glaubwürdig, es sind Posen, die mich zum Lachen reizen. Und ich bin auch nicht mit seiner Anschauung über die Menschheit einverstanden, die aus seinen Sätzen eitert. Ja, es berührt absolut die Leere. Die Leere eines Pariser Kitsches, eine gewisse Inkonsistenz, darüber hinaus Inkonsistenz einer Männlichkeit, an der man die Konsistenz des Todes und des Schmerzes zeigen will; irgendwie ist das traurig, weil ich auch hinter den Zeilen lese, dass er sich Mühe gegeben hat, une bataille³, er hat gelitten, wurde vielleicht tatsächlich von seinem Vater als Kind vergewaltigt, im Keller.
Duras, ja, es ist das Alpha und Omega der Leere, ihre Konsistenz. Es ist spürbar, durch ihre Worte, hinter ihren Worten versteckt, aber trotzdem sensibel. Die heitere Verzweiflung, der sakrale Schmerz, ja. Bei Duras herrscht die existenzielle Angst der Abwesenheit. Ohne die sensiblerie von Bataille.
Ist es möglich, dass viele Männer die Erfahrung der Leere als Angst vor der Leere empfinden und viele Frauen diese als Angst vor der Abwesenheit?
Ich verachte Essenzialismus, und dies frage ich nur im Sinne des sozialen Geschlechts, der Gender. Ich frage mich, ob es mit der Erfahrung des Frau-sein-Müssens oder/und auch mit der Liebe in der Mutter- oder Vaterschaft zu tun hat. Ich finde es wichtig, diese-Liebe-da zu thematisieren, weil ich denke, dass sie uns am effizientesten helfen kann, um die Leere und die Abwesenheit zu erläutern, da sie auch als langweilig und trivial angesehen wird. Ich frage mich seit Langem, ob diese Angst vor der Abwesenheit nicht mit diese-Liebe-da und ihrer Verlustangst zu tun hat. Ich schließe also die Augen- und Bettgeschichten von Bataille aus.
Liebe und Opfergabe, dass man so viel liebt, dass man lieber selbst verschwinden würde, als die oder den anderen nicht mehr sehen zu können.
Der Schmerz der Abwesenheit ist bei Duras spürbar.
Ihr Schreiben verkörpert die Existenzangst, diese Verlustangst, die Tiefe des Seins. Darüber hinaus gibt es eine Phänomenologie der Tiefgründigkeit des Seins durch diese Frage der Abwesenheit, die aus ihren Zeilen springt und einem an die Kehle geht.
Heute genieße ich auch sehr die Duras’sche Ironie. Das ist Sakralität. Ich denke auch, dass dies mit dem Alter, mit der Distanz kommt.
Le bleu du ciel est plutôt noir
à l’œil⁴
Das Blau des Himmels ist eher
das blaue Auge
Leere versus Abwesenheit. Ich weiß nicht, was Leere bedeutet. Ich weiß nur, was Abwesenheit bedeutet.
ROTER STEIN
Strand mit blutigem Sand
Sand aus ovalen Gedanken
Gedanken aus Sand
Die dicke Gertrude Stein
geschützt von einem Kollaborateur
weil sie Reden von Maréchal Pétain
ins Nordamerikanische übersetzte
Blasen und Blasen
fallen ins Meer
wie tausende Sanduhren
Die Zeit verging
Keine Leere
Wir würden gerne Gedichte
zur Diplomatie lesen
Beispielsweise zur internationalen
Libyen-Konferenz
vom 19. Januar 2020 in Berlin
eingeladen von Angela Merkel
Nicht in meinem Namen
Waffenstillstand
Keine Interventionen
Kommunikation
Heute Morgen in der U-Bahn
auf dem Weg zurück
aus der französischen Schule
die nur noch französisch zur Dekoration ist
meine deutschen Söhne hingebracht
in Hamburg
in Hamburg neben Lübeck
neben der Lübecker Bucht
Aïda, Cap Arcona, Kreuzfahrtschiffe
Rote Steine
neben Neuengamme
neben Finkenwerder
neben Airbus Defense and Space
und umgekehrt
Oval
in der U-Bahn
Linie U2
lese ich auf dem Bildschirm
wie Deutschland als Chef der Diplomatie
das Gute propagiert
wie das Coronavirus
Keine weiteren Unterstützungsleistungen
Keine ausländischen Militäreinsätze mehr
haben die europäischen Verantwortlichen
beschlossen
Schatten
Kleine Bilder
Kleine Souvenirs
so wie es keine Leere gibt, gibt es keine Bilder
sondern Fotografien
gleitende Schatten
schleichende
Schatten
Es geht nur darum
Das ist das Einzige
das zählt
Umgeben von Schatten
Eingekreist
sind wir
in der Europäischen Union.
Kein Gedanke
kein schönes ovales Gesicht
ganz nach Botticellis Geschmack
keine ovalen Gedanken
nur ein Kreis
Unmögliche Leere
Kreis eines Puzzles
das wir konstruieren müssen,
wenn wir das Denken wollen
Aufhören mit Details zu denken
um das Puzzle nicht zu legen
aus Angst vor Leere
um das Ganze nicht zu sehen:
die kommende Katastrophe
Die Leere ist die des Menschen,
der die Zeit leugnet:
hier gibt es nur einen Weg zur Freiheit –
der, welcher durch die Schornsteine führt
Kopf weg
Kopf ab
*
Und wenn der Essenzialismus seine Selbstverachtung in sich trüge, wie jeder philosophische Begriff den Keim seiner Zersetzung in sich trägt?
In-sich-trägt und fort-trägt: ins Nirgendwo seiner Unbestimmtheit, an den einzigen Ort, an dem er sich legitimieren kann, den Schauplatz seiner Zerstörung, den das Denken – solange es Denken ist = mehr als Rekapitulation etablierter Meinungen –, statt ihn bloß aufzusuchen, offenzuhalten versucht.
… wenn also Kopflosigkeit zum Begriff gehört, azephale Orientierungslosigkeit, konzeptuelle Schwebe und Ohnmacht, aus der es seine Kraft bezieht. Wäre diese Kraft dann etwas, was das Denken ins Ungewisse lenkt, ohne dass es sich verloren gäbe, um alles dafür zu tun, Affirmation einer gelenkten Ablenkung zu sein, gegen sich selbst lenkendes Denken …, doch immer noch ein Denken, immer noch eine Kraft, immer noch ein Vermögen, der Versuchung zur Selbstzerstörung zu widerstehen?
Das détruire, von dem Duras schreibt, ist der Begriffsdynamik inhärent. Es gibt keine Begriffe, die nicht zerstörerisch und kopflos sind. Noch die Systeme, die man hierarchisch nennt, streben ihre Selbstzerstörung an.
Am Punkt ihrer äußersten Spitze zeigen sie ins Nichts. Wie die Türme einer Kathedrale, die sich in den leeren Himmel bohren.
Duras weiß, dass die Zerstörung primordial ist. Sie hat längst stattgefunden und findet weiterhin statt. Ihr Lieblingswort: le mot-trou, das Loch-Wort. Sie sagt auch mot-absence.
Ich stelle es mir als eine Senke oder Kuhle vor, die den Fluss der Sprache unterbricht. Es gibt Texte von Duras, die sind aus Sätzen wie Perlenketten gemacht. Nur reiht sie nicht Perle an Perle, sondern Loch an Loch. Der Satz ist der Faden, der die Löcher zusammenhält.
Dass es Löcher gibt heißt, dass der Faden reißen kann.
Schreiben bedeutet, aus der Ebene des Sinns auszurücken, um sich der Erfahrung seiner Löchrigkeit zu exponieren, seiner Leere oder Absenz.
Das gilt auch für die Philosophie: Statt Selbstbegründungspraxis zu sein, bohrt sie Löcher in ihre Prinzipien und Begriffe. Sie öffnet sich dem Limes des Evidenztheaters, das wir Wirklichkeit nennen.
Manchmal muss sie dafür selbst Theater spielen. Sie erfindet Requisiten und Masken. Ihre Bühne ist brüchig, sie ist Schauplatz ontologischer Instabilität.
Vielleicht ist sie der Reif, durch den die Löwen im Zirkus springen. Jedenfalls gibt es kein Denken, das aufs Spektakel und den Zirkus verzichten kann.
Immer bewegt es sich am Rand