Proflexionen
Von Marcus Steinweg
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Buchvorschau
Proflexionen - Marcus Steinweg
Marcus Steinweg
PROFLEXIONEN
INHALT
1. Kritzeln
2. Immanenzdichtung
3. Notiz zu Handke
4. Schreiben
5. Ausweglos
6. Notiz zu Pessoa
7. Exzesse der Hellsichtigkeit
8. Träumen
9. Qui suis-je?
10. Überflug
11. Schwimmen
12. Sekunde
13. Gier
14. Lesen
15. Schaukel
16. Problem
17. Notiz zu Wittgenstein
18. Schwelle
19. Hunger
20. Selbstverausgabung
21. Schwarz
22. Unterwegs
23. Ungerettet
24. Spiel
25. Notiz zu Musil
26. Denkraum
27. Aporien
28. Hotelzimmer
29. Indifferenz
30. Traurig
31. Notiz zu Robert Walser
32. Null
33. Brennpunkt
34. Schulden
35. Ein Kartesianer des Dunklen
36. Feuer
37. Kunstwerk
38. Angst
39. Notiz zu Kierkegaard
40. Stein
41. Strumpf
42. Brief
43. Gewährenlassen
44. Wüste
45. Wasser
46. Unbestimmtheitsgleichung
47. Absolution
48. Existenz
49. Beatitudo
50. Notiz zu Jaspers
51. Versuchung
52. Geiz
53. Puppen
54. Notiz zu Cavell
55. Kafka an Felice
56. D.
57. Sprachmüll
58. Tränen
59. Frau
60. Märchenstunde
61. Komplexe Realität
62. Notiz zu John Berger
63. Lektion
64. Autofahren mit Lacan
65. Perlen
66. Notiz zu Genet
67. Unterschied
68. Manhattan
69. Schwert
70. Appell
71. Kaninchen
72. Gras
73. Glückliche Tiere
74. Ozean
75. Müdigkeit
76. Notiz zu Adorno
77. Wille
78. Come on!
79. Geschwister
80. Begriff
81. Sieben Tropfen Glück
82. Kreativität
83. Antigone
84. Linie
85. Neues Licht
86. Notiz zu Ingeborg Bachmann
87. Ressentiment
88. Nacht
89. Crazy
90. Journal
91. Liebe
92. Fucked up
93. Ja
94. Notiz zu einer Notiz
95. Was kann Literatur?
96. Schmerz
97. Ergriffen
98. Notiz zu Trakl
99. Grotesk
100. Form
101. Sentimentalität
102. Subjekt
103. Notiz zu Heiner Müller
104. Dichter
105. Bühne
106. Nein
107. Manchmal
108. Gespensterphilosophen
109. Ermutigung
110. Linien, Löcher, Knoten
111. Beten
112. Schraube
113. Nichtidentität
114. Tiere
115. Notiz zu Nancy
116. Postkarte
117. Paraphrase
118. Schreiben
119. Leid der Transparenz
120. Gewöhnung
121. Unterschied
122. Rettung
123. Professorenphilosophie
124. Mutter
125. Notiz zu Kafka
126. Ideologiekritik
127. Daedalus ohne Ikarus
128. Inexistenz
129. Mond
130. Baustelle
131. Notiz zu Hegel
132. Komik
133. Lob des Losers
134. Differenzidiotie
135. Freundschaft
136. Diätetik
137. Vor der Tür
138. Insel
139. Pretty?
140. Erschöpft
141. Dummheit
142. Scheu
143. Aussichtslos
144. S. W.
145. Glück
146. Trottel
147. Haargenau
148. Es kostet mehr, als es kostet
149. Liebestheologie
150. Idiot
151. Lawine
152. Nackt bei offenem Fenster
153. Summen
154. Diätetik 2
155. Molotowcocktail
156. Boden
157. Analyse
158. Kind
159. Streuner
160. Notiz zu Zwetajewa
161. Faszination
162. Monotonie = Anorexie?
163. Vereinigung
164. Kritizismus
165. Traum
166. Magie
Anmerkungen
KRITZELN
Von Friederike Mayröcker kann man lernen, dass Schreiben Kritzeln heißt. Das gilt auch für die Philosophie. So konsistent sie auft ritt, so sehr bleibt sie Experiment. Ohne Beiläufigkeit ist sie nichts. Statt Bälle wirft sie Wörter in die Luft. Kritzeln heißt Krakeln. Spuren zeichnen in den Wind. Es geht um Kontingenzvertrauen, ums Zerreißen der vertrauten Sprache und um ihre Rekomposition. Wie Karten werden die Gedanken neu gemischt. Man darf nicht zu behutsam mit ihnen umgehen. Man soll sein Denken nicht schonen. Wer nicht mit hohem Einsatz spielt, denkt nicht. Das kritzelnde Denken ist ein ποιεῖν = ein Hervorbringen des Unbekannten im Akt des Schreibens. Auch der Schreibgrund bleibt nicht unangetastet. Das Schreiben ist die Dynamik seiner Durchlöcherung. Wie Vögel oder Insekten schwirren die Wörter durch den Raum. Das heißt nicht, dass sie keiner Regel folgen, aber regelmäßig mit den Regeln brechen. Darin liegt ihre Regelhaftigkeit. Zum kritzelnden Denken gehört Unbekümmertheit. Nie geht es darum, Fehler zu vermeiden. Es geht darum, mit ihnen zu spielen. Sich von ihnen kitzeln zu lassen. Wer kritzelt, tut es im Abseits der Bedeutung. Von hier aus rührt er an den Sinn. Sinn, der dem Nichtsinn verbunden bleibt, dem Loch in der Matrix, der ontologischen Inkonsistenz, die der Inexistenz Gottes korreliert. Kritzeln heißt, mit der Präzision der Dichtung denken, indem man Zeichen nahezu blind koagieren lässt, bis sie eine Wahrheit generieren, die den Schleier der Bedeutung zerreißt. Das Ergebnis ist eine neu erschlossene Wüste: »wo? befindest, du, dich?«¹
IMMANENZDICHTUNG
In seinem Fragment zu Friederike Mayröcker sagt Handke vom Lesen, dass es ein »Mitbuchstabieren, Entdecken, Welt- und Selbsterforschen sei.«² Statt in ihm ein Entschlüsseln auszumachen, Hermeneutik, plündernde Exegese, definiert Handke es als ein Begleiten, Sichüberraschenlassen, erwartungsloses Herausfinden. Lesen heißt Mitlesen. Das Lesen assistiert dem gelesenen Text, ohne ihn zu maßregeln. Es gibt ihm Zeit und Raum. Der Text selbst ist ein Raum-Zeit-Gebilde, eine »Konstruktion«³, die sich als solche ausstellt. Er verstellt sich nicht zum πνεῦμα, zum flüsternden Spiritus, Geist oder Lufthauch. Es reicht nicht aus zu sagen, dass Dichtung Fiktion sei und lüge. Wenn sie etwas taugt, dann ist sie wahr im Sinne einer Wahrheitskonstruktion, die ganz in diese Welt gehört. Vielleicht lässt sich von Immanenzdichtung sprechen. Ihre Transzendenzpunkte sind »Wortspalt[e]«⁴. Durch sie strömt ein Gespensteratem, der das Bekannte und Erklärte ebenso auseinander- wie zusammenhält. Das Mitbuchstabieren, von dem Handke spricht, impliziert die Bereitschaft, sich auf die Risse im Textgewebe einzulassen. Ein Text ist kein geschlossenes Gefüge. Er darf nicht verfugt sein, wie Handke einmal, Heidegger kritisierend, sagt: »Die dichte Fügung. Da ist alles richtig – und nichts.«⁵ Der Text besteht aus Löchern, durch die Luft geht, die ihrer Metaphorisierung widersteht. Nur Idioten machen aus ihr einen Götteratem. Dabei liegt die Leistung der Dichtung darin, die Ritzen im Text nicht zu schließen. Fürs Gedicht sind sie unverzichtbar. Ihr Geltenlassen betrifft das Lesen wie das Schreiben. Von Mayröcker sagt Handke, dass sie »die einzige deutschsprachige Dichterin« sei, »die weint. Und sie weint sachlich, mit den Sachen, den Dingen, den Menschen – in sachlicher Liebe.«⁶ Im Vorbeigehen gelingt ihm dabei eine Definition der Liebe: Sie muss sachlich sein, noch wenn sie zu Tränen führt. Sie ist Mitgehen mit dem Geliebten, nicht in ein Außerhalb, sondern in alternativloser Immanenz.
NOTIZ ZU HANDKE
Handke sagt, es ginge darum, dem »Aufsteigen der Leere«⁷ beizuwohnen. Im Schreiben tut sie sich auf. Es öffnen sich Zwischenräume. Der Raum der Bedeutungen und Sprachen erweist sich als rissig. In die Risse schlüpft das Subjekt. »Diese Momente, wo die Leere sich auftut, das sind Dauermomente, mit denen man – wie man in der Umgangssprache sagt – etwas anfangen kann.«⁸ Mit ihnen fängt der Schreibmoment an. In der Erfahrung gesteigerter Insignifikanz. Schreibend entzieht sich der Schreibende der Autorität der Rhetoriken und Zeichen. Er verlängert die Sprache in ihr Jenseits, lässt sie mit sich brechen, reibt sie gegen sich auf. Nicht indem er ihr Außenelemente einträgt, sondern indem er sie mit dem ihr inhärenten Außen vernäht. Erst in den Zwischenräumen der Sprache ist Sprache möglich, die sich der Wiederholung des Bekannten entzieht. Wie Rilke und Heidegger spricht Handke vom Offenen, das die Leere ist oder der Zwischenraum. Giorgio Agamben schreibt von der Notwendigkeit, sich dem »Mysterium«, auf dessen Kontaktverlust wir mit Sprache reagieren, nicht zu entziehen. Das Mysterium, das er, im Verweis auf Gershom Scholem, mit dem Feuer konnotiert, muss kein theologisches sein.⁹ Als Index seiner ontologischen Inkonsistenz ist es Bruch des Bekannten mit sich selbst, weshalb angesichts des Mysteriums »die künstlerische Schöpfung nur zu einer Karikatur werden«¹⁰ kann. Dass sich inmitten der Sprache Leere auftut, heißt, dass die Sprache über die Fähigkeit verfügt, inmitten der Immanenz aus sich herauszutreten. Statt um die Reaktivierung religiöser Transzendenz geht es um Resistenz gegenüber dem Immanentismus des Kausalen und Historischen, der seine Brüche ignoriert. Dies nennt Handke Erzählen ohne Dramaturgie und Plot. Daher die Nähe zu Cézanne.¹¹ Es ist ein Realisieren. Eine Verdopplung des Bestehenden, um es aus sich heraus ins Element des Textes oder der Farbe zu überführen. Statt Übersetzungsarbeit zu sein, erschafft es neue Realität inmitten der bestehenden. Dies ist die schöpferische Dimension der Kunst: ohne aus dem Bestehenden herauszutreten, es in etwas Neues zu verwandeln, das von ihm zeugt. Erst im Austritt aus der Geschichte tritt das Subjekt in sie ein. Die Dialektik von Mysterium und Historie erweist sich als komplex. Ein Name der Anerkennung dieser Komplexität, die sich sämtlichen Erlösungsversprechen sperrt, ist Literatur. Ein anderer Philosophie.
SCHREIBEN
Mit Kafka und Handke – vielleicht mit allen Schriftstellern und Dichtern – stellt sich Marguerite Duras die Frage, was Schreiben sei. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass zum Écrire Selbstentmächtigung gehört. Hier liegt seine Souveränität. Nicht im Gelingen, nicht in Könnerschaft, sondern in der Bereitschaft, sich im Schreibprozess verloren zu gehen. Schreiben bedeutet, sich auf diese Verlorenheit einzulassen. Schreibend umzirkelt Duras das Loch im Herzen der Realität.
AUSWEGLOS
Fernando Pessoa spricht vom »inneren Schlaf«¹², Duras vom »inneren Schatten«¹³. Es geht ums Nichts, ums Außen und um die Leere ohne Trost. Zuletzt ist eine Traurigkeit gemeint, die jedes Wort zerreißt. Jeder Satz ist von ihr heimgesucht, noch die Syntax wird von ihr zerstört. Zerstörung, die vom Leben handelt, vom Verlust, den es darstellt, vom Vergehen ohne Sinn. Nichts kann Pessoa vor diesem Schlaf retten, der noch die äußerste Wachheit kontrolliert. Im Traum zerfallen alle Konsistenzen. Liebe und Freundschaft erweisen sich als Chimären. Selbst die Gespenster sind nicht mehr gespenstisch. Sie sind Phantome, von denen der Träumende sich Exil erhofft, und dieser Hoffnung wird entsprochen, indem ihm jeder Ausweg genommen wird, das erträumte Jenseits, die Transzendenz: »ich will nicht einmal vor irgendetwas entfliehen.«¹⁴
NOTIZ ZU PESSOA
Im Buch der Unruhe stößt der Leser auf eine Passage, die »Ästhetik der Gleichgültigkeit«¹⁵ betitelt ist. Der Protagonist des Buchs, der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, öffnet sich dem Gewaltcharakter der Realität. Was wir Wirklichkeit nennen, greift in die Substanz des Subjekts ein. Zur künstlerischen Existenz gehört spielerischer Umgang mit ihr. Nie beugt sie sich dem Imperialismus des Bestehenden. Zugleich darf sie seine Wirksamkeit nicht bestreiten. Kunst spielt keine Kinderspiele, aber sie spielt, d. h. sie öffnet sich der Kontingenz. Wie Friedrich Nietzsche wusste, beruht diese Öffnung auf leidenschaftlicher Indifferenz. Nietzsche kennt das Spiel mit dem Zufall, das nur diejenigen zu spielen wagen, die bereit sind, ins Unbestimmte zu gehen. Nietzsches amor fati hat nichts mit Determinismus zu tun. Es beschreibt eine an Gleichgültigkeit grenzende Offenheit fürs Nichtvorhersehbare. Pessoa schreibt vom »inneren Taktgefühl«, das die Neutralisierung subjektiver Empfindungen verlangt = rationale Noblesse = Widerstand gegenüber dem Pathos des Sentiments = Resistenz gegenüber der Versuchung, sich als Gefühlstier aufzuwerfen, das sich seinen Pathologien/Neigungen beugt. Zur künstlerischen Existenz gehört Gleichgültigkeit. Nie folgt sie dem Geschmack. Zugleich misstraut sie den Objektivierungen der Wissenschaft und folgt anderen Vorstellungen. Spiel und Ernsthaftigkeit verbinden sich in ihr. Im Übersehenen und Hässlichen entdeckt sie Schönheit. Ihre Gleichgültigkeit muss wörtlich genommen werden. Sie wertet nicht. Sie blickt. So widersteht sie ihrer eigenen Kultur, die das Dispositiv politischer, ästhetischer,