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Das Recht als Hort der Anarchie: Gesellschaften ohne Herrschaft und Staat
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eBook256 Seiten4 Stunden

Das Recht als Hort der Anarchie: Gesellschaften ohne Herrschaft und Staat

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Über dieses E-Book

Dass sich gesellschaftliches Zusammenleben auch anders als in Form hierarchisch aufgebauter Staaten organisieren ließe, ist für viele Mitglieder westlicher Gesellschaften kaum vorstellbar. Doch auch abgesehen von den Träumereien romantischer Utopisten gibt es heute funktionierende Gesellschaften jenseits staatlicher Einflüsse, die auf Rechtsverfahren und Problemlösungsmechanismen ohne Herrschaft basieren. Anhand empirischer Untersuchungen in nicht-hierarchischen Gesellschaften am Horn von Afrika stellt diese Studie staatliche und herrschaftsfreie Gemeinschaftsordnungen einander gegenüber und analysiert die institutionellen Elemente eines anarchischen Miteinanders, die durch Konsensfindung und ethisch basierten Integrationsmechanismen zur Stabilisierung dieser Gesellschaftsform beitragen, was auch für die westliche Welt Anregungen bietet.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Juni 2016
ISBN9783957573100
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    Buchvorschau

    Das Recht als Hort der Anarchie - Hermann Amborn

    Literatur

    I. Herrschaft ist keine Universalie

    I.1 Problemstellung und Zielsetzung

    »Einmal war bei einer Prügelei zwischen zwei Brüdern der eine der beiden ums Leben gekommen. Der Überlegene wurde beim Klanoberhaupt des Mordes beschuldigt, woraufhin dieser seine Hinrichtung anordnete. Der Beschuldigte erfuhr von diesem Urteil in seinem Versteck. Er rief seine Freunde zusammen und schilderte ihnen den Tathergang: wie ihn sein Bruder zunächst betrogen und dann auch noch verprügelt habe. Während des Handgemenges sei der Bruder dann an seinen Verletzungen gestorben. Daraufhin beschlossen die Zuhörer, ein Gremium zu bilden, das sich jetzt und in Zukunft mit solchen Vorwürfen befassen sollte. Nach Prüfung des Tatbestandes sollte es in gemeinsamer Beratung eine Lösung finden. Sie setzten fest, dass von nun an der Klanälteste nicht mehr allein entscheiden könne, vielmehr solle er fortan sogar von den Zusammenkünften ausgeschlossen sein. Erst nach der Urteilsfindung würde er informiert und müsse dann das Urteil sanktionieren. Das war vor langer, langer Zeit und ist unsere Tradition.«

    Diese Geschichte, die sich einst südlich des Čamo-Sees (in Europa lange unter dem Namen Lake Ruspoli bekannt) in Gollango in Südäthiopien zugetragen haben soll, wurde mir während eines Forschungsaufenthaltes im Horn von Afrika erzählt. Ich unterhielt mich mit meinen Gesprächspartnern über unsere jeweiligen Vorstellungen von Recht und Unrecht und davon, wer zwischen beiden zu entscheiden habe. In nur wenigen Worten wird hier ein fundamentaler gesellschaftlicher Prozess geschildert: die Übertragung der Rechtshoheit von einer Zentralinstanz auf eine Vielzahl von Verantwortungsträgern. Dabei wird der im römischen Recht geltende Grundsatz für eine faire Verhandlung – audiatur et altera pars (von dem in Südäthiopien niemand Kenntnis haben konnte) – noch dahingehend erweitert, dass nicht nur alle Seiten gehört werden, sondern auch die Gemeinschaft der Anwesenden in den Entscheidungsprozess einbezogen sein soll. Die Erzählung enthält als Konzentrat all jene Konstellationen, denen sich die folgende Untersuchung annähern will: Macht und Gegenmacht, Herrschaft versus Herrschaftsvermeidung sowie Kommunikation und Rechtsvorstellungen. Schauplätze der untersuchten Prozesse sind Gemeinschaften, in denen Gegenseitigkeit als gesellschaftliches Prinzip dominiert. Dank ineinandergreifender sozialer Netzwerke und Institutionen bedürfen sie keiner Zentralgewalt. Sie bilden den Gegenpol zu Gesellschaften mit straffen hierarchischen Strukturen. Die Menschen, die diese Form des Zusammenlebens für sich geschaffen haben, sind aktiv handelnde Zeitgenossen.

    Diese Form der Gemeinschaft, die sich in allen Erdteilen antreffen lässt, ist keine historische Vorstufe des Königtums oder des frühen Staates. Es ist ein Kontrastmodell zum Staat, das heute jedoch nur noch innerhalb von Staatsgrenzen anzufinden ist und sich deshalb mit staatlichen Organisationsstrukturen auseinandersetzen und bisweilen arrangieren muss. Manchmal sind diese Gemeinschaften kleine soziale Einheiten, nicht selten umfassen sie jedoch mehrere Millionen Menschen. Oft totgesagt oder als soziales Auslaufmodell abgetan, existieren sie gleichwohl auch heute noch, allerdings sind sie von innen und außen gefährdet.

    Mit meiner Untersuchung möchte ich gesellschaftliche Ausdrucksformen, Emanationen, Ideen, Handlungen und Institutionen aufzeigen, die sich gegen die Herrschaft von Menschen über Menschen richten oder diese zumindest problematisieren. Auf der Suche nach Gründen für die Stabilität und Stärke dieses herrschaftsfreien Zusammenlebens gilt mein besonderes Interesse der Frage, inwieweit die dort jeweils geltenden Wert- und Rechtsvorstellungen den Fortbestand so beschaffener Gesellschaften stützen, indem sie z. B. Tendenzen zur Machtakkumulation entgegenwirken.

    Meine Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei kurzen grundlegenden Betrachtungen zu den verschiedenen menschlichen Gesellungsformen. Im Verlauf ihrer Geschichte haben die Menschen vielfältige Arten des Zusammenlebens entwickelt; der Staat ist nur eine der Möglichkeiten des sozialen Miteinanders. Den Staatsgebilden stelle ich herrschaftsfreie Gesellschaften gegenüber, wie sie gegenwärtig in vielen Teilen der Welt existieren, insbesondere gehe ich in diesem Zusammenhang auf nichthierarchische Gesellschaften im Osthorn Afrikas ein.

    Seitdem britische Ethnologen in den Vierzigerjahren »geregelte anarchische« afrikanische Gesellschaften bekannt machten, wurde immer wieder versucht, die sozialen und politischen Leistungen dieser Gemeinschaften herabzusetzen. Das sei hier nur erwähnt, doch werde ich auf diese interne ethnologische Diskussion nicht eingehen.¹ Allerdings mutet die sture Skepsis gegenüber der Herrschaftsfreiheit umso merkwürdiger an, als auch in westlichen Gesellschaften regelmäßig Kritik an hierarchischen Strukturen aufkommt und diesen bisweilen eine grundlegende Krise attestiert wird. Dies betrifft politische Strukturen (z. B. in Form von Protestbewegungen) wie auch das gesamtgesellschaftliche Miteinander (z. B. die geforderten »schlanken Hierarchien« und das 2012 in Kraft getretene Mediationsgesetz), weshalb hier auch Tendenzen zur Egalität beleuchtet werden sollen, die sich gegenwärtig in Industrienationen abzeichnen und die Relevanz der Problematik unterstreichen.

    In einem nächsten Schritt untersuche ich, welcher Art jene Gemeinschaften sind, für die das Recht keine Erzwingungsgewalt hat und in denen keine Instanz ein Gewaltmonopol besitzt, wo jedoch von ihnen selbst entwickelte Regelwerke Anerkennung finden.² Nur auf der Grundlage einer detaillierten Darstellung dieser Gesellschaften werden die komplexen historischen und soziopolitischen Beziehungen sichtbar, mit denen dieses speziell ausgeformte Recht in herrschaftsfreien Gesellschaften verknüpft ist. Da die Wirkmöglichkeit des Rechts auch hier bestimmten Machtverhältnissen unterliegt – die jedoch weder Herrschafts- noch Gewaltverhältnisse sind –, scheint es aussichtsreich, zur begrifflichen Klärung auf Untersuchungen von westlichen Wissenschaftlern und Philosophen zu diesem Thema zurückzugreifen. Sie können dazu zahlreiche Anregungen bieten, wenn sie sich auch nicht direkt übertragen lassen.

    Machtbeziehungen sind für meine Betrachtungen in zwei Feldern von Bedeutung, zum einen allgemeiner als stützende oder störende Elemente innerhalb herrschaftsfreier Gesellschaften und zum anderen im Speziellen in Bezug auf die Rechtsordnung. Nach Betrachtungen der Rechtsauffassung als einem konstitutiven Bestandteil der umfassenden Lebenswirklichkeit behandle ich verschiedene konkrete Rechtsfälle und untersuche ausführlich, wie durch gemeinsames kommunikatives Handeln konsensuale Lösungen erreicht und Beschlüsse ohne Gewaltanwendung akzeptiert werden.

    Mit meiner Analyse möchte ich klären, inwieweit sich herrschaftsfreie Gesinnung, das Streben nach autonomen Formen von Gesellung und die Ablehnung zentraler Autorität im Recht niederschlagen. Doch v. a. geht es mir darum zu verstehen, weshalb anarchische Gesellungsformen trotz massiver und mannigfaltiger äußerer Beeinflussung und Bedrohung existieren können. Wie sich am Osthorn von Afrika beobachten lässt, trägt die eigene Rechtshoheit, und mag sie auch nur in begrenzten Bereichen wirksam sein, entgegen der destruktiven Einflüsse von außen erstaunlicherweise zur Stabilität dieser Gesellungsformen bei, obwohl oder gerade weil das in der Gemeinschaft entwickelte und ausgeübte Recht eine Gegenmacht zur Herrschaftsgewalt darstellt.

    I.2 Gesellung. Staat versus regulierte Anarchie

    Der Mensch ist ein soziales Wesen, wobei Menschen nicht aus Tugend oder aufgrund von Interessen in der Gesellschaft leben, sondern weil es für sie keine andere mögliche Daseinsform gibt.³ Nur innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft vermag der Mensch seine Persönlichkeit zu entwickeln, dem kann selbst ein Robinson Crusoe nicht entgehen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass zwischen Ego und Gemeinschaftsbezogenheit ein Spannungsverhältnis besteht. Kooperation, Hilfeleistung und Anpassung sowie Egoismus, Dominanzstreben und Expansion stehen sich als Pole gesellschaftlicher Beziehungen gegenüber, und es gehört zu den Kulturleistungen des Menschen, im Lauf der Geschichte im Austesten der zwischen diesen Extremen liegenden Möglichkeiten unterschiedliche soziale Beziehungen und Ordnungen konstituiert und strukturiert zu haben.

    Aus westlicher Sicht erfolgreich erwies sich eine mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung verbundene Hierarchisierung der Gesellschaft, deren Evolutionskette von der Neolithischen Revolution über Häuptlings- und Königtum zur Despotie und schließlich zum modernen Staatswesen führt. Westliche Denker konnten sich die Zeit vor dem Staat nur als Chaos vorstellen. Ganz in diesem Sinn sowie unter dem Eindruck des Englischen Bürgerkriegs zeichnete Thomas Hobbes, einer der Begründer der neuzeitlichen politischen Philosophie, in seinem Leviathan ein entsprechendes Bild von barbarischbestialischen, urmenschlichen Verhältnissen, in denen der Mensch des Menschen Wolf sei und der Krieg aller gegen alle um Besitz und Ansehen herrsche. Aus diesem Zustand könnten sich die Menschen nur mithilfe eines Vertrags befreien, in dem der Wille aller Einzelnen zu einem gemeinsamen Willen vereinigt werde. Des Weiteren folgert er, eine Vertragserfüllung und die Durchsetzung des Rechts seien ohne Zwangsgewalt nicht möglich. Demgemäß übertragen die Bürger ihre »natürlichen« Rechte dem Souverän, der mit uneingeschränkter Gewalt regiert und der sich alle zu unterwerfen haben.⁴ Dafür garantiert der im Souverän verkörperte Staat dem Bürger ein friedliches Zusammenleben: Der Staat wird somit zur Voraussetzung einer harmonischen Gesellschaft. Mit dem Leviathan begründete Hobbes ideengeschichtlich das bis heute geltende Gewaltmonopol des Staates, und seine Betonung der Notwendigkeit des Staates prägt nach wie vor das Orientierungssystem und die Bewertungsraster der Politikwissenschaft und Soziologie. So schrieb Karl Jaspers nur zwei Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft, dass Gemeinsamkeit »nicht möglich ohne einen führenden Willen« sei und »Herrschaft und Unterordnung« erzwinge.⁵

    Ein frappierendes Beispiel dafür, wie die zeitgenössische Politologie nichtstaatliche Organisationsformen beurteilt, sind Somaliland und Puntland, die im Norden von Somalia entstanden sind: Sie werden als »failed states« abqualifiziert. Dort existiert kein klassischer Nationalstaat mit zentralisiertem Herrschaftsgebiet, Gewaltmonopol und bürokratischem Herrschaftsapparat, sondern aus Ältestenräten entwickelte Strukturen regeln die politischen Belange. Allerdings konnte man auch das koloniale und postkoloniale Gebilde Somalia selbst in besseren Tagen höchstens als einen unvollständigen Staat bezeichnen. Die Leistung der Menschen, die in Somaliland und Puntland funktionierende Gemeinwesen jenseits des Staates schufen, wird negiert. Vielmehr bemüht sich die internationale Gemeinschaft in Somalia, erneut einen traditionellen Staat mit Regierungsmonopol aufzubauen, und glaubt auf diese Weise, innere und äußere Sicherheit herzustellen.

    Michel Foucault analysierte, wie der Staat das Individuum habitualisiert und die sozialen Praktiken des Alltagslebens prägt. Doch dies bedeutet nicht, dass es keine Alternative gäbe. Der Nationalstaat wird zwar nach wie vor weltweit als die dominante politische Form angesehen, doch gibt es Anzeichen dafür, dass er seinen Zenit überschritten hat: Staaten scheinen mit den Herausforderungen der Gegenwart zunehmend überfordert, sie verringern ihre sozialen Verantwortlichkeiten, Privatisierungen sowie der Einfluss von Lobbyisten und internationalen Institutionen nehmen zu. In seinen vergleichenden Arbeiten zeigt Trutz von Trotha, dass die Entwicklung hin zum Staat auch in komplexen Gesellschaften nicht der historische Normalfall und seine Übertragung auf andere Gesellschaften allein schon wegen der Vielzahl seiner Voraussetzungen – Gewaltmonopol, bürokratischer Apparat etc. – eine Utopie ist.⁶ Versuche, staatliche Herrschaft global durchzusetzen, sind aber nicht nur eine Utopie, sondern haben in der Praxis für postkoloniale »Staaten« fatale Auswirkungen, so z. B. für Afghanistan, wo ein neoliberaler »demokratischer« Staat mit militärischer Gewalt durchgesetzt werden soll.

    Die Herausbildung des Staats mit dessen Herrschaftsanspruch ist also nur eine von zahlreichen Optionen für die Gestaltung menschlichen Zusammenlebens. Zudem gibt es auch keine zwangsläufig universale Entwicklungskette, die von einfachen Familienverbänden, so es diese denn gab, zu jener politischen Macht führt, die sich im Staat in einem Gewaltverhältnis ausdrückt. Letztlich entspringen derartige Vorstellungen dem Evolutionismus des 19. Jahrhunderts. Und wie uns die Ethnologie lehrt, ist der Nationalstaat mit seinem Gewaltmonopol keineswegs das differenzierteste bestehende soziopolitische Ordnungsmodell.

    Es führt an dieser Stelle zu weit, über die historische Entstehung gegenwärtiger Staaten zu referieren. Ich möchte jedoch betonen, dass die hier vorgestellten Gemeinschaften keine vor-staatlichen Gebilde sind, die, würden sie sich nur entwickeln, quasi von einem politischen Embryonalstadium in einen Staat übergehen würden. An einer solchen unilinear-evolutionistischen Auffassung sind jedoch Ethnologen nicht unschuldig, beschrieben sie doch jahrzehntelang unter den herrschaftsfreien Gesellschaften vornehmlich kleinere Gruppen, insbesondere sogenannte Jäger-Sammler-Horden, die keine größer dimensionierte Vergesellschaftung vorstellbar machen.

    Auf theoretischer, weitgehend noch hypothetischer Ebene wurden die nicht-staatlichen Formen des Zusammenlebens dagegen bereits von Émile Durkheim und Max Weber behandelt. Durkheim war es auch, der den Begriff »segmentäre Gesellschaften« für Gesellschaften prägte, die aus gleichwertigen sozialen Elementen bestehen.⁷ Der Begriff wurde von der Ethnologie aufgegriffen und verbreitet.

    Intensiver wurde dieser Gesellschaftstyp erst erforscht, als die Briten in den Dreißigerjahren in Afrika daran scheiterten, bei bevölkerungsreichen, nicht hierarchisch aufgebauten Ethnien ihr übliches koloniales Regierungssystem der indirect rule einzuführen. Im Rahmen dieser »indirekten Herrschaft« ernannten sie einheimische Autoritäten zu Regierungshäuptlingen, die auf Befehl der Kolonialmacht Anordnungen ausführen und durchsetzen sollten. Doch weder fanden diese Häuptlinge in der Bevölkerung Anerkennung, noch wurden ihre Anordnung befolgt – ein für die Verwaltung unerklärliches Phänomen, das schließlich von der Regierung eingesetzte Ethnologen klären sollten. Zu diesen gehörten Jack Goody, Meyer Fortes und E. E. Evans-Pritchard, der bei den Nuer im Sudan forschte und deren Gesellschaftsform als »regulierte Anarchie« bezeichnete.⁸ Die Arbeiten der britischen Social Anthropologists lösten damals heftige Diskussionen aus. Auf diesen Forschungen bauen meine Überlegungen zur stützenden Funktion des Recht in solch herrschaftsfreien Gesellschaften auf. Dabei bleibt aber weiterhin die Frage, ob Gesellschaften dieses Typs nicht doch auch Hierarchien ausbilden. Hierzu hat Harold Barclay⁹ soziale Bereiche untersucht, von denen eine Tendenz zur Staatsbildung ausgehen könnte. So gewähren z. B. viele Gesellschaften älteren Männern erhebliche Machtbefugnisse. Wo es zu einer Gerontokratie kommt, kann gewiss nicht mehr von einer egalitären Gesellschaft gesprochen werden. Doch selbst eine Herrschaft alter Männer ist für den Einzelnen von der Natur zeitlich begrenzt. Da ihre Mitglieder ständig wechseln, bringt diese Form der institutionalisierten Machtelite zumindest keine erbliche Dynastie hervor.

    Ein wenig anders ist die Situation bei sogenannten Big Men – einflussreichen Männer, die sich mit Hilfe von Protektion, wirtschaftlicher Unterstützung und eventuell durch Heldentaten eine ergebene Klientel schaffen. In dem Fall dass es ihnen gelingen sollte, eine Gewaltherrschaft aufzubauen, scheitern doch viele daran, diese dauerhaft zu etablieren, wenn die Gemeinschaft ihnen entgegentritt und dabei möglicherweise auch nicht vor Tyrannenmord zurückschreckt. Wenn Big Men dennoch ihre Machtstellung zu einer Monarchie ausbauen konnten, stand dies oft in Zusammenhang mit dem Vordringen imperialer Mächte.

    Auch in Häuptlingstümern führt die Entwicklung nicht unbedingt zu zentralen Befehlsstrukturen, selbst wenn die ökonomischen und demografischen Bedingungen diese ermöglichten. So zeigt Christopher Boehm anhand zahlreicher Beispiele, wie die Macht der Häuptlinge kontrolliert wird,¹⁰ und Christian Sigrist konstatiert: »Gegen Prominente (wie reiche Männer und Instanzen) besteht in segmentären Gesellschaften eine ambivalente Einstellung, die ihre Funktionen auf die Repräsentation zu reduzieren tendiert.«¹¹ Und nicht zuletzt hat Pierre Clastres mit seinen Untersuchungen bei Indianern des Amazonasgebiets schlüssig bewiesen, dass deren Form des Häuptlingstums und die damit verbundene Ethik einem Übergang zur Staatenbildung entgegenstehen: Dort gilt es als moralisch anstößig, jemandem zu erlauben, allen anderen Befehle zu erteilen, die nicht infrage gestellt werden können.¹²

    ***

    Auch wenn u. a. Ralf Dahrendorf noch 1964¹³ die Unmöglichkeit herrschaftsloser Gesellschaften behauptete, so zeigen diese Beispiele doch, dass Herrschaft keine menschliche Konstante ist, selbst wenn zur Begründung von Hierarchie und Herrschaft häufig auf die biologischen – körperlichen und mentalen – Unterschiede der Menschen verwiesen und soziale Ungleichheit deshalb als etwas ebenso »Natürliches« postuliert wird. Ethnologische Beispiele zeigen, dass es, wie Sigrist betont, »keine anthropologische Notwendigkeit für zentrale Herrschaft, Hierarchie, Ausbeutung und strukturelle Ungleichheit gibt«.¹⁴ Alternativen sind nicht nur denkbar, sondern real.

    Von einer anderen Warte aus näherten sich die klassischen Theoretiker des Anarchismus der Idee der Herrschaftsfreiheit. Während Ethnologen bestehende herrschaftsfreie Gesellschaften beschreiben und analysieren sowie deren gegenwärtige und zukünftige Bedrohungen untersuchen, wurde von Anarchisten das Bild einer zukünftigen staatenlosen Gesellschaft entworfen. Dabei kannten sie in der Regel Beschreibungen egalitärer Gesellungsformen nordamerikanischer Indianer, z. B. des nicht zentralistisch organisierten Irokesenbundes. So hält Kropotkin Hobbes’ Forderung nach staatlicher Autorität 1896 sarkastisch entgegen, dass Herrschende im Staat nicht frei von Fehlern sein könnten, wenn doch Menschen Fehler haben und zu antisozialen Akten fähig seien. »Eine Minderung antisozialer Akte davon zu erwarten, dass man ein Staatswesen mit organisierten Herrschaftsstrukturen aufrichtet, ist der Utopie verfallen, die Herrschenden seien fehlerlose, gute Menschen. Die gesamte geschichtliche Erfahrung lehrt das Gegenteil.«¹⁵

    Für Kropotkin bildet das Gesetz gegenseitiger Hilfe die treibende Kraft für den evolutionären Fortschritt, und sein Gesellschaftskonzept beruht auf dem Grundprinzip völliger Gleichheit. Für ihn kann sich nur in der herrschaftsfreien Gesellschaft das natürliche Bestreben des Menschen entfalten, sich in Gemeinschaften zu organisieren. Dabei werde zwar die Freiheit des Einzelnen durch die Freiheit und die Rechte des anderen eingeschränkt, aber die Achtung des anderen nicht durch Zwang, sondern auf der Basis freiwilliger Übereinstimmung erreicht.

    Darüber hinausgehend stellt Karl Marx heraus: Der andere ist nicht lediglich die Grenze individueller Freiheit; vielmehr kann ein Individuum erst in der Gemeinschaft mit anderen seine Anlagen entfalten. Somit ist der andere Bedingung des Überlebens und der Existenz.¹⁶

    I.3 Herrschaftsfrei

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