Die Formen des Vergessens
Von Marc Augé
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Über dieses E-Book
Marc Augé
Marc Augé, 1935 geboren, lehrte Anthropologie und Ethnologie an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS), deren Präsident er lange Jahre war. Weit über die Fachgrenzen bekannt wurde er mit seinem Essay Nicht-Orte. Er verstarb 2023.
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Buchvorschau
Die Formen des Vergessens - Marc Augé
Fragen.
GEDÄCHTNIS UND VERGESSEN
Ich möchte mir zu Beginn einen kleinen Umweg erlauben, einige Vorüberlegungen, die die Begriffe der Debatte, die ich eröffnen möchte, schrittweise verdeutlichen sollen. Ich muss tatsächlich zunächst ohne weitere Erklärung einige Wörter anführen, die weder selten noch ausgesucht sind, jedoch gefährliche Denkfallen darstellen. Damit will ich sagen, dass sie seit Jahrhunderten viele verschiedene Gedanken in die Falle gelockt haben, die, einmal freigesetzt, bei ihrem kunterbunten, lärmenden und wirbelnden Auffliegen die Sinne und den Intellekt ihres unvorsichtigen Befreiers vernebeln.
In Wirklichkeit werden jeden Tag Gedanken freigesetzt. Professoren, Philosophen, Gymnasiasten oder Studenten, die ihre Aufsätze verfassen, Politiker, Journalisten und noch einige andere verbringen ihre Zeit damit, mit Wörtern zu spielen, und oftmals passiert es ihnen, dass sie durch Zufall oder Kühnheit Gedanken die Freiheit geben. Doch die Gedanken verlangen nach häuslicher Geborgenheit, und selbst bei uns, wo sie seit Langem fast alle domestiziert sind, bewahren sie einen kleinen ungezähmten Kern. Kaum haben sie am Tageslicht ihre Flügel gelockert und sich geschüttelt, eilen sie erneut zu Wörtern, die sie beherbergen, beschützen und verstecken. Vielleicht sind sie doch Nachtvögel. Das ist eine weit verbreitete Meinung, also gut möglich. Jedenfalls lernt der professionelle Denker, dieser Gedankenfänger, der zum Gedankenzüchter wird, als erstes, ihnen zu misstrauen – manche von ihnen beißen. Er lernt, sie aufzustöbern, sie aus dem Nest zu nehmen, ohne ihnen wehzutun, sie zu betäuben, zu beobachten, ihnen mit Blicken zu folgen, wenn er sie freilässt, um zu sehen, in welche Richtung sie davonfliegen, zu welchen anderen Gedanken sie sich gesellen und in welchen Worten sie Zuflucht suchen, denn nicht selten flüchtet ein befreiter Gedanke – irrtümlicherweise, vor Schreck oder vielleicht aus Affinität – in ein anderes Wort als das, in dem er ursprünglich quartierte. Heutzutage schließt man nicht mehr aus, dass die Verlagerungen von Gedanken von einem Wort zum anderen ein häufigeres und älteres Phänomen sind, als man meinte – unabhängig also von den experimentellen Bedingungen, die ich soeben ansprach.
Die Ethnologie hätte uns hier weiterhelfen können, denn die fernen Gesellschaften boten dem Beobachter eine Unzahl an neuen Wörtern. Doch lange Zeit ist sie von einem tückischen Übel gelähmt gewesen und bleibt es heute mehr denn je: vom Ethnozentrismus und, mehr noch, von der Furcht vor dem Ethnozentrismus. Furcht vor dem Ethnozentrismus ist durchaus ehrenhaft. Sie verdient den gleichen Respekt, den sie auch den Anderen entgegenbringt, indem sie postuliert, dass man deren Denken, selbst wenn es Wildes Denken ist, weder in Ketten legen noch es in seiner Originalität geringschätzen und dem unseren angleichen dürfe. Doch manchmal ist sie ein schlechter Ratgeber. Nichts sagt uns nämlich, dass in unserem Klima geborene Ideen nicht in exotischen Wörtern Exil gefunden haben könnten, und im Gegenzug sagt uns auch nichts, dass von weither gekommene Gedanken sich nicht in Wörtern verborgen hätten, die uns vertraut sind. (Trotz einiger allgemeiner Hypothesen sind wir weit davon entfernt, alles über die großen Migrationsbewegungen der Gedanken zu wissen.) Außerdem – und eben darin liegt der interessanteste Aspekt – sagt uns nichts, dass die von den Wörtern der Anderen beherbergten Gedanken, so verschieden sie auch sein mögen und so sehr uns ihr Schillern in Schwarz, Gelb oder Rot auch faszinieren oder belustigen mag, nicht jenen vergleichbar sein könnten, die in unserem Klima gedeihen, oder besser noch, ob sie nicht selbst oder gerade in ihrer Andersartigkeit die Macht dazu haben könnten, die unseren hervorzurufen, sie zu erwecken, sie aus ihren Wörtern fahren zu lassen, so wie man manchmal sagt, dass jemand aus der Haut fährt – was alles in allem für denjenigen eine Art so gut wie jede andere ist, sich zu öffnen und sich anderswo umzuschauen. Wir sollten keine Angst vor den Wörtern haben – unsere Gedanken müssen in Rage versetzt werden und die der Anderen können uns dabei helfen.
Das beste Mittel zur Öffnung eines Wortes, um aus ihm den oder die von ihm beherbergten Gedanken hervortreten zu lassen (denn ich vergaß darauf hinzuweisen, dass ein einziges Wort durch Paarungen, von denen wir nicht viel wissen und die sich nicht zwangsläufig ähneln müssen, oftmals einen ganzen Wurf von Gedanken in sich trägt), ist der Versuch, es zu übersetzen. Es ist bekannt, dass die Übersetzung große Ähnlichkeit mit einer Übung in Kartographie aufweist. Jede natürliche Sprache hat die Wörter über die Welt verteilt (die äußere wie die innere, psychische Welt); sie ziehen dort Grenzen, doch diese Grenzen stimmen von einer Sprache zur anderen nicht überein. Wenn Sie kurzerhand ein Wort in der einen durch ein Wort in der anderen Sprache ersetzen, müssen Sie sich auf Überraschungen gefasst machen: Die Gedanken, die in dem einen Wort heimisch waren, werden es nicht im zweiten; ihnen ist es dort zu weit oder zu eng. Schlechte Übersetzungen sind voller Gedanken, die mangels adäquater Wörter überborden, umhertreiben oder sich gegenseitig ersticken, und alle guten Übersetzer wissen, dass es entsprechend den jeweiligen Sprachen absolut notwendig ist, Wörter wegzulassen oder hinzuzufügen, um die Gedanken der Anderen aufzunehmen.
Das Provokationsvermögen der Gedanken der Anderen ist sehr direkt mit der Frage der Grenzen verbunden, mit der Frage der semantischen Aufteilung, die jede Sprache der Realität auferlegt. Ein einfaches, vielleicht zu sehr vereinfachendes Beispiel: »Attendre et espérer« – »Warten und hoffen«, lautet die Maxime von Edmond Dantès, dem Grafen von Monte Christo. Im Französischen haben wir gelernt, zwischen Erwartung und Hoffnung zu unterscheiden (auch wenn es vorkommt, dass man einen lange Erwarteten, wenn man ihn endlich kommen sieht, mit »Je t’espérais!« begrüßt, was soviel heißt wie »Ich habe dich erhofft, dich herbeigesehnt!«, mit einer Spur Zuneigung oder Ironie). Das Spanische beispielsweise trifft diese Unterscheidung nicht: Warten ist Hoffen – optimistische Gleichung, die sich freilich umkehrt oder zumindest nuanciert, wenn ich die beiden Termini umstelle: Hoffen ist Warten. Klar, dass in Frankreich, dem Land der klassischen Tragödie, die Gleichsetzung von Erwartung und Hoffnung Schwierigkeiten bereiten musste. Den einen Don Quijote und seine Mühlen, den anderen Phädra und ihr Stiefsohn!
Bestimmte afrikanische Sprachen, in denen ein und dasselbe Wort eine materielle Substanz wie das Blut und – mir werden die Worte fehlen dafür … – eine »Instanz« oder eine psychische Fähigkeit (die im Übrigen im Kopf genau verortet ist und imstande sein soll, dort ein- und auszugehen) bezeichnet, geben unlösbare Übersetzungsprobleme auf. Zugleich ist uns diese Repräsentation gefühlsmäßig und intellektuell weniger gleichgültig oder fremd, als wir aus Bequemlichkeit möglicherweise gern annehmen würden. Man kann sich denken, welches Interesse Freud am Studium der »Topiken« hätte finden