eBook87 Seiten1 Stunde
Müdigkeitsgesellschaft Burnoutgesellschaft Hoch-Zeit
Von Byung-Chul Han
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Über dieses E-Book
Vor 5 Jahren erschien einer der wichtigsten zeitdiagnostischen Essays der letzten Jahre : Die Müdigkeitsgesellschaft hat sich bis heute weltweit über 300 000 mal verkauft. Byung-Chul Han konstatiert darin knapp und präzise einen entscheidenden Paradigmenwechsel : Die Gesellschaft der Negativität weicht einer Gesellschaft, die von einem Übermaß an Positivität beherrscht ist. Davon ausgehend zeichnet Han die pathologische Landschaft der heutigen Gesellschaft, zu der neuronale Erkrankungen wie Depression, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Borderline oder Burnout gehören. Sie sind keine Infektionen, sondern Infarkte, die nicht durch die Negativität des immunologisch Anderen, sondern durch ein Übermaß an Positivität bedingt sind. So entziehen sie sich jeder immunologischen Technik der Prophylaxe und Abwehr. Hans Analyse mündet am Ende in die Vision einer Gesellschaft, die er in beabsichtigter Ambivalenz Müdigkeitsgesellschaft nennt. Die Neuauflage ergänzt den Essay um zwei weitere Texte, in denen er seine These weiterführt: "Burnoutgesellschaft" und "Hoch-Zeit".
SpracheDeutsch
HerausgeberMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsdatum1. Aug. 2016
ISBN9783957573711
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Buchvorschau
Müdigkeitsgesellschaft Burnoutgesellschaft Hoch-Zeit - Byung-Chul Han
Byung-Chul Han
Müdigkeitsgesellschaft
Burnoutgesellschaft
Hoch-Zeit
Inhaltsverzeichnis
Müdigkeitsgesellschaft
Der müde Prometheus
Die neuronale Gewalt
Jenseits der Disziplinargesellschaft
Die tiefe Langeweile
Vita activa
Pädagogik des Sehens
Der Fall Bartleby
Müdigkeitsgesellschaft
Anhang
Burnoutgesellschaft
Hoch-Zeit
Anmerkungen
Impressum
Müdigkeitsgesellschaft
Der müde Prometheus
Vorwort
Der Mythos des Prometheus lässt sich zu einer Szene des psychischen Apparats des heutigen Leistungssubjekts umdeuten, das sich selbst Gewalt antut, das mit sich selbst Krieg führt. Das Leistungssubjekt, das sich in Freiheit wähnt, ist in Wirklichkeit gefesselt wie Prometheus. Der Adler, der an seiner ständig nachwachsenden Leber frisst, ist sein Alter Ego, mit dem es Krieg führt. So gesehen, ist das Verhältnis von Prometheus und Adler ein Selbstverhältnis, ein Verhältnis der Selbstausbeutung. Der Schmerz der an sich schmerzlosen Leber ist die Müdigkeit. So wird Prometheus als Subjekt der Selbstausbeutung von einer endlosen Müdigkeit erfasst sein. Er ist die Urfigur der Müdigkeitsgesellschaft.
In der sehr kryptischen Erzählung »Prometheus« unternimmt Kafka eine interessante Umdeutung des Mythos: »Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde.« Kafka schwebt hier eine heilende Müdigkeit vor, eine Müdigkeit, die nicht Wunden aufreißt, sondern sie schließt. Die Wunde schloss sich müde. Auch der vorliegende Essay mündet in die Betrachtung einer heilenden Müdigkeit. Sie ist jene Müdigkeit, die nicht von einer hemmungslosen Aufrüstung, sondern von einer freundlichen Abrüstung des Ich herrührt.
Die neuronale Gewalt
Jedes Zeitalter hat seine Leitkrankheiten. So gibt es ein bakterielles Zeitalter, das aber spätestens mit der Erfindung der Antibiotika zu Ende gegangen ist. Trotz unübersehbarer Angst vor grippaler Pandemie leben wir heute nicht im viralen Zeitalter. Wir haben es dank immunologischer Technik bereits hinter uns gelassen. Das beginnende 21. Jahrhundert ist, pathologisch gesehen, weder bakteriell noch viral, sondern neuronal bestimmt. Neuronale Erkrankungen wie Depression, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsyndrom (ADHS), Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) oder Burnout-Syndrom (BS) bestimmen die pathologische Landschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts. Sie sind keine Infektionen, sondern Infarkte, die nicht durch die Negativität des immunologisch Anderen, sondern durch ein Übermaß an Positivität bedingt sind. So entziehen sie sich jeder immunologischen Technik, die darauf angelegt ist, die Negativität des Fremden abzuwehren.
Das vergangene Jahrhundert ist ein immunologisches Zeitalter. Es ist eine Epoche, in der eine klare Trennung von Innen und Außen, von Freund und Feind oder von Eigenem und Fremdem vorgenommen wurde. Auch der Kalte Krieg folgt diesem immunologischen Schema. Ja das immunologische Paradigma des vergangenen Jahrhunderts ist selbst durchgehend vom Vokabular des Kalten Krieges, von einem regelrecht militärischen Dispositiv beherrscht. Angriff und Abwehr bestimmen das immunologische Handeln. Diesem immunologischen Dispositiv, das über das Biologische hinaus auf das Soziale, auf die gesamtgesellschaftliche Ebene übergreift, ist eine Blindheit eingeschrieben: Abgewehrt wird alles, was fremd ist. Der Gegenstand der Immunabwehr ist die Fremdheit als solche. Selbst wenn der Fremde keine feindliche Absicht hat, selbst wenn von ihm keine Gefahr ausgeht, wird er aufgrund seiner Andersheit eliminiert.
In letzter Zeit erschienen diverse Gesellschaftsdiskurse, die sich ausdrücklich immunologischer Erklärungsmuster bedienen. Die Aktualität des immunologischen Diskurses lässt sich jedoch nicht als Zeichen dafür deuten, dass die Gesellschaft von heute mehr denn je immunologisch organisiert ist. Dass ein Paradigma eigens zum Gegenstand der Reflexion erhoben wird, ist oft ein Zeichen seines Unterganges. Unbemerkt vollzieht sich seit einiger Zeit ein Paradigmenwechsel. Das Ende des Kalten Krieges fand gerade im Zuge dieses Paradigmenwechsels statt.¹ Die Gesellschaft gerät heute zunehmend in eine Konstellation, die sich dem immunologischen Organisations- und Abwehrschema ganz entzieht. Sie zeichnet sich durch das Verschwinden der Andersheit und Fremdheit aus. Die Andersheit ist die Grundkategorie der Immunologie. Jede Immunreaktion ist eine Reaktion auf die Andersheit. Heutzutage aber tritt an die Stelle der Andersheit die Differenz, die keine Immunreaktion hervorruft. Die postimmunologische, ja postmoderne Differenz macht nicht mehr krank. Auf der immunologischen Ebene ist sie das Gleiche.² Der Differenz fehlt gleichsam der Stachel der Fremdheit, der eine heftige Immunreaktion auslösen würde. Auch die Fremdheit entschärft sich zu einer Konsumformel. Das Fremde weicht dem Exotischen. Der Tourist bereist es. Der Tourist oder der Konsument ist kein immunologisches Subjekt mehr.
So legt auch Roberto Esposito seiner Theorie der Immunitas eine falsche Annahme zugrunde, wenn er feststellt: »An jedem beliebigen Tag der letzten Jahre konnte es vorkommen, dass in den Zeitungen, vielleicht sogar auf ein und derselben Seite, über dem Anschein nach verschiedenartige Ereignisse berichtet wurde. Was haben Phänomene untereinander gemein, wie der Kampf gegen das Aufflammen einer neuen Epidemie, der Widerstand gegen das Gesuch auf Auslieferung eines fremden Staatsoberhaupts, das der Verletzung der Menschenrechte beschuldigt wird, die Verstärkung der Bollwerke gegen die illegale Einwanderung und die Strategien, die auf die Neutralisierung des neuesten Computervirus abzielen? Nichts, solange man sie innerhalb ihrer jeweiligen, voneinander getrennten Bereiche liest, der Medizin, dem Recht, der Gesellschaftspolitik und der Computertechnologie. Die Dinge ändern sich allerdings, wenn man sie auf eine Interpretationskategorie bezieht, deren ureigene Besonderheit gerade in der Fähigkeit liegt, jene Partikularsprachen transversal zu durchschneiden und auf ein und denselben Sinnhorizont zu beziehen. Wie aus dem Titel dieses Bandes ersichtlich, setze ich diese Kategorie als die der ›Immunisierung‹. (...) Die oben angesprochenen Ereignisse lassen sich, ungeachtet ihrer lexikalischen Dishomogenität, sämtlich auf eine Schutzreaktion gegenüber einem Risiko zurückführen.«³ Keines der Ereignisse, die Esposito erwähnt, deutet darauf hin, dass wir uns mitten im immunologischen Zeitalter befinden. Auch der sogenannte »Einwanderer« ist heute kein immunologisch Anderer, kein Fremder im emphatischen Sinne, von dem eine wirkliche Gefahr ausginge oder vor dem man Angst hätte. Einwanderer oder Flüchtlinge werden eher als Belastung denn Bedrohung empfunden. Auch dem Problem
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