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Die Moralfalle: Für eine Befreiung linker Politik
Die Moralfalle: Für eine Befreiung linker Politik
Die Moralfalle: Für eine Befreiung linker Politik
eBook234 Seiten3 Stunden

Die Moralfalle: Für eine Befreiung linker Politik

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Über dieses E-Book

Bernd Stegemann, Mitinitiator und Stratege der linken Sammlungsbewegung "Aufstehen", analysiert scharfsinnig die fatalen Sackgassen linker Politik, die eine realistische Betrachtung der Welt durch aggressives Moralisieren ersetzt hat, und zeigt auf, dass die Kritik an sozialer Ungleichheit wieder ins Zentrum der Debatte gestellt werden muss.

Angesichts einer polarisierten Gesellschaft wird stets Kommunikation und gegenseitiges Zuhören angemahnt. Doch wenn Ängste und Probleme angesprochen werden, wird schnell mit dem erhobenen Zeigefinger der Moral gedroht und der Ton wird schriller - jede misslungene Talkshow zeigt das ein ums andere Mal. Doch eine Moral, die fast immer nur bei Verstößen gegen Political Correctness zum Einsatz kommt und so gut wie nie Probleme mit dem Neoliberalismus hat, wird für die Linke zur Falle. Nur wenn die Linke sich von Sprechverboten verabschiedet, wird sie es schaffen, der Rechten die Diskurshoheit wieder zu entziehen.

"In seiner klarsichtigen Analyse zeigt Bernd Stegemann, wie sich linke Politik durch den inflationären Gebrauch der Waffe abstrakter Moral von der Bevölkerungsmehrheit entfernt und sich in einer selbstgerechten Position isoliert. Sein Aufruf zur Abrüstung ist ein dringend notwendiges Plädoyer für eine neue linke Bewegung." - Sahra Wagenknecht
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Nov. 2018
ISBN9783957577481
Die Moralfalle: Für eine Befreiung linker Politik
Autor

Bernd Stegemann

Bernd Stegemann ist Vorsitzender der Erich Maria Remarque-Gesellschaft e.V.

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    Buchvorschau

    Die Moralfalle - Bernd Stegemann

    hat.

    Was ist moralisch?

    »Ich gehe ohne weitere Erläuterung davon aus, daß die akademische Ethik gescheitert ist.«

    Niklas Luhmann

    Der blinde Fleck der Moral

    Moral kommt immer dann ins Spiel, wenn es um die Zuteilung von Achtung oder Missachtung geht. Die Achtung, die ein Mensch erfährt, ist also keine Eigenschaft, über die er verfügt, sondern sie muss ihm durch andere Menschen entgegengebracht werden. Heute wird in diesem Zusammenhang auch gerne von Respekt oder Anerkennung gesprochen. Wer Respekt erwartet, darf nicht immer damit rechnen, dass ihm ein solcher auch gezollt wird, und wer auf Anerkennung hofft, wird nicht selten enttäuscht. Die Achtung umfasst alle diese Bereiche und stellt darum ein kompliziertes soziales Feld dar. Besonders auffällig ist an der Achtung, dass ihr Gegenbegriff, die Missachtung, nicht einfach die Abwesenheit von Achtung meint, sondern eine verschärfte Form der Ablehnung bedeutet.

    Die Verteilung von Achtung oder die Androhung von Missachtung folgt historischen Entwicklungen. Was gestern als achtbar galt, kann schon heute Unverständnis oder sogar Missachtung hervorrufen. Die sorgende Mutter der 1950er Jahre muss sich heute den Vorwurf anhören, sie verkörpere ein veraltetes Frauenbild, und der zum Duell bereite Offizier des 19. Jahrhunderts würde heute im Gefängnis sitzen. Wessen Einsatz für den Artenschutz der Natur noch gerade gelobt wurde, muss sich in einer sich radikalisierenden Gesellschaft den Vorwurf gefallen lassen, unpolitisch zu sein. Da die Veränderungen immer schneller getaktet sind und die meisten Menschen es kaum schaffen, ihr Leben immer wieder neu auszurichten, gibt es eine wachsende Spaltung in diejenigen, die mit der Achtungszuteilung konform gehen, und diejenigen, die sich hiervon ausgeschlossen fühlen. Da die Achtung der Mitmenschen eines der wesentlichen Kriterien für das Selbstbild ist und die Missachtung existenzielle Ängste vor dem Ausschluss wachruft, gehören beide Affekte zu den wichtigsten Bedingungen des sozialen Lebens. Die Kriterien, nach denen sie zugestanden oder angedroht werden, entscheiden über den Zusammenhalt oder das Auseinanderbrechen von sozialen Räumen.

    Der Überbegriff der Moral versammelt alle diese Eigenarten, indem er eine Verbindung zwischen einem Wertegerüst und dem konkreten Verhalten herstellt. Damit gehört die Moral vor allem in vormodernen Gesellschaften zu den mächtigsten Instanzen in einer Gesellschaft. Die Hüter der Moral konnten Leben zerstören und Fortschritt verhindern. Sie konnten aber auch das Alltagsverhalten zivilisieren und davor bewahren, dass Konflikte in Gewalt und Krieg mündeten. Die Organisation der Moral gehört darum zu den zentralen Fundamenten von Herrschaft. In diesem Zentrum ist mit dem Übergang von der modernen zur postmodernen Gesellschaft einiges durcheinandergeraten. Eine Untersuchung der alltäglichen Anwendung von moralischer Kommunikation kann helfen, die Auswirkungen dieser Entwicklung besser zu begreifen.

    Die Kommunikation, in der Moral eingesetzt wird, teilt also Achtung oder Missachtung zu. Im Alltag kommt dieses häufig als Lob und Tadel vor, es zeigt sich aber auch darin, wer zum Beispiel zu einem Fest eingeladen wird und wer nicht, wem in einer öffentlichen Ansprache gedankt wird und wem nicht, oder wessen Texte von anderen Autoren zitiert werden und wessen Gedanken ohne Nennung kopiert werden. Überall wird Achtung zugeteilt oder entzogen. Diese Funktion ist durchaus vergleichbar mit anderen zweiwertigen Codierungen. So gibt es im System der Wirtschaft die Zahlung oder die Nichtzahlung, in der Wissenschaft die Wahrheit oder die Unwahrheit und in der Religion den Glauben oder den Unglauben. Solche und andere Codierungen in unserer Gesellschaft lassen sich nicht ohne Probleme miteinander in Beziehung setzen. Ist die Wahrheit besonders gut verkäuflich oder ist der Unglaube wahrer als der Glaube? Die Besonderheit der moralischen Kommunikation besteht nun darin, dass sie sich in alle anderen Systeme hineindrängen kann. Dafür verwendet sie ihre Codierung von Achtung und Missachtung und verbindet sie mit der Wertung von Gut und Böse.

    Wird moralisch kommuniziert, so können zum Beispiel Zahlungen, Glaube oder Wahrheit als gut und ihre jeweiligen Gegenbegriffe als böse bezeichnet werden. Sofort fällt auf, dass durch eine solche Verdopplung der ursprünglichen Codierungen deren Funktion verändert wird. Wenn Zahler gut und Nichtzahler böse sein sollen, so führt das zu unberechenbaren Rückwirkungen auf das System der Wirtschaft. Denn wie reagiert man etwa darauf, dass der Zahler gut ist? Gewährt man ihm einen Rabatt, während der böse Nichtzahler in die Hölle kommt? Dort mag er zwar bestraft werden, aber zahlt immer noch nicht, was wiederum der Wirtschaft schadet. So setzt die Wirtschaft das Mittel der Moral zwar ein, um der Notwendigkeit der Zahlung Nachdruck zu verleihen, ihr System käme aber zum Einsturz, wenn die moralische Wertung ihre eigene Codierung dominieren würde. In der Konsequenz wäre dann der moralisch gute Mensch von Zahlungen befreit, da seine Güte wichtiger ist als seine Zahlungsfähigkeit. Besonders raffinierte Teilnehmer des Wirtschaftssystems versuchen genau diese Balance zu ihren Gunsten zu beeinflussen, indem sie eine hohe Zahlungsmoral für sich reklamieren, um daraus Vorteile für ihre Zahlungen zu ziehen. Die schwarze Null der deutschen Regierung ist genau ein solches Mittel. Da ihr Haushalt besonders solide wirkt, sind die Kosten der Refinanzierung gerade bei null oder sogar darunter.

    Die Moral unterscheidet sich von anderen zweiwertigen Codierungen nicht nur darin, dass sie sich selbst aufdrängt, um andere Codierungen zu überlagern, sondern auch darin, dass ihr zweiter Wert, die Missachtung, nicht einfach das Gegenteil von Achtung bedeutet. Die Ablehnung, die sich in der Missachtung ausdrückt, gehört zu den schärfsten Waffen, die eingesetzt werden können, bevor es zur Anwendung von Gewalt kommt. Die soziale Ausgrenzung greift tief in das Selbstbild des Menschen ein. Zwar führt eine Ausgrenzung nicht mehr wie in vormodernen Gesellschaften zum wahrscheinlichen Tod, aber die Stigmatisierung erfüllt in der symbolischen Ordnung die gleiche Funktion, wie sie in der realen Welt die körperliche Disziplinierung hat. Der Einzelne wird stark geschädigt, die strukturellen Ursachen bleiben aber davon unberührt.

    Die moralische Wertung eignet sich also für die Verbindung mit anderen Systemen, ihre Anwendung erfordert jedoch ein bestimmtes Geschick, denn hat man ihr einmal Zugang gewährt, so entwickelt sie ein Eigenleben, das weder vom Wirtssystem noch von der Moral selber wieder einzufangen ist. Im Falle der Wirtschaft erfolgt dieser Umschlag zum Beispiel dann, wenn das Gewinnstreben eines Einzelnen als böse verurteilt wird oder einzelne Zahlungen als unmoralisch gebrandmarkt werden. Dadurch wird die Fehlentwicklung dem moralisch verwerflichen Handeln einzelner Akteure zugeschrieben, statt auf die systemischen Ursachen zu schauen. Der Einzelne mag dann böse sein, das System bleibt davon aber unbeeindruckt. So dient Moral der Entlastung von unangenehmen Fragen, indem sie Sündenböcke findet.

    Moralische Kritik hat also einen blinden Fleck. Sie sieht nicht die tatsächlichen Ursachen, sondern behauptet eine Fehlerhaftigkeit des Individuums. So ersetzen moralische Urteile die konkrete Analyse. Ein solcher Weg ist häufig nicht nur einfacher, sondern er verspricht auch schnellen Erfolg in der öffentlichen Kommunikation. Hat man einen vermeintlich Schuldigen dingfest gemacht, scheint das Problem gelöst. Dass in komplexen Systemen die Handlungsmacht des Einzelnen beschränkt ist und es eines Zusammenspiels zahlreicher Faktoren bedarf, damit Entwicklungen positiv oder negativ beeinflusst werden, gerät so aus dem Blick. Um beim Beispiel der Wirtschaft zu bleiben, so sind die Struktur von Anreizen, die Auswahl der Mitarbeiter, das Selbstbild des Unternehmens, seine Geschichte und Arbeitsorganisation und vieles mehr wesentliche Faktoren, die von einem einzelnen Schuldigen nur unzureichend verkörpert oder beeinflusst werden können. Die Vorliebe für Sündenböcke ist also eine notwendige Folge des blinden Flecks, der durch moralische Kommunikation entsteht.

    Die moralische Kommunikation, die zwischen Gut und Böse unterscheidet, kann zu Problemen führen, die sie selber nicht mehr lösen kann. Die zunehmende Gereiztheit in öffentlichen Auseinandersetzungen, ein Argwohn gegenüber Informationen, der ans Paranoide grenzt, und die Spielarten populistischer Kommunikation gehören zu den wesentlichen Folgen. Um der Gefahr von Bruchlinien, die innerhalb der Gesellschaft nicht mehr gekittet werden können, entgegenzuarbeiten, wurde der Moral immer eine Aufsicht zur Seite gestellt, die den blinden Fleck der moralischen Unterscheidung bedenken soll. Der blinde Fleck der Moral besteht darin, dass sie selbst nicht entscheiden kann, ob ihre Unterscheidung zwischen Gut und Böse selbst gut oder böse ist. Im Fall der Wirtschaft scheint es evident, dass eine Unterscheidung der Zahler und Nichtzahler in Gut und Böse nicht gut ist.¹⁰ Das heißt, es braucht eine Reflexionsinstanz, die darüber entscheidet, wo die moralische Unterscheidung überhaupt angewendet werden soll und wo gerade nicht. Diese Aufgabe hat seit der Antike die Ethik übernommen. Doch spätestens seit der frühen Neuzeit ist die Ethik zusehends von dieser Aufgabe überfordert und ihre Autorität ist in der Moderne weitestgehend zerstört.

    Die antike Ethik konnte noch davon ausgehen, dass das Gute selbstmotivierend ist. Der Mensch will von Natur aus das Gute, und wenn er es dennoch nicht tut, so muss es sich um einen Fehler handeln. Er hat dann zum Beispiel das Richtige noch nicht erkannt oder seine Sinne unterliegen einer Täuschung. Das Gute rechtfertigt sich selbst und muss darum nicht besonders begründet werden. Die Ethik steht daher nicht in der Verpflichtung, durch besondere logische Operationen zu beweisen, warum etwas als gut oder böse bewertet werden muss, sondern sie kann sich auf die Gewohnheiten eines begrenzten Kulturraums stützen. Ihre Wirkung ist darum beschränkt auf die Gemeinschaft, die über dieselben Regeln verfügt, weil sie denselben Ethos, das heißt dieselben Gewohnheiten

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