Welt, bleib wach: Das große Buch vom Lesen - eine Anstiftung
Von Verlag Herder
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Über dieses E-Book
Mit Beiträgen u.a. von Sebastian Fitzek, Martin Schulz, Julia Becker, Rüdiger Safranski, Anselm Grün, Philipp Lahm, Joachim Bauer, Claudia Roth, Stefan Aust, Miriam Meckel, Michael Winterhoff, Jürgen Osterhammel, Nina Ruge, Guildo Horn, Manfred Spitzer, Brigitte Mohn und vielen anderen.
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Buchvorschau
Welt, bleib wach - Verlag Herder
Welt, bleib wach
Redaktion: Rudolf Walter
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Satz: post scriptum, Vogtsburg-Burkheim
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN (EPUB) 978-3-451-82004-5
ISBN 978-3-451-38550-6
Inhalt
Warum und wozu Lesen gut ist – Vorwort
Von Michael Busch
Der Weiße Wal der Literatur
Von Stefan Aust
Was das Internet nicht kann
Von Joachim Bauer
Am Anfang war die Zeitung
Von Julia Becker
Lebenshilfe gegen geistige Verdunkelung
Von Norbert Blüm
Schummelei in Waldbreitbach
Von Franz-Josef Brüggemeier
Außer Lesen nichts gewesen?
Von Matthias Deutschmann
Der nüchterne Blick der Wissenschaft
Von Lars P. Feld
Sorge dich nicht, lese!
Von Sebastian Fitzek
Emotionale Wucht – ein neuer Zugang zur Wirklichkeit
Von Ute Frevert
Vorstoßen in andere Räume und Zeiten
Von Peter Frey
Eine Welt ohne Bücher? Unvorstellbar!
Von Sigmar Gabriel
Fensteröffnungen und neue Horizonte
Von Ralph Ghadban
Vom Reichtum der eigenen Seele
Von Anselm Grün
Die Zukunft gehört dem Dialog
Von Armin Grunwald
Weil Nützlichkeit nicht alles ist
Von Gregor Gysi
Wir haben die Wahl!
Von Walter Homolka
Jeder liest so, wie er ist. Und so lese ich
Von Guildo Horn
Der Hund und der Knochen – Facetten der Leselust
Von Hans Joas
Abendländische Weisheiten
Von Ahmad Milad Karimi
»Im Lichte und in der Leichtigkeit sehen wir uns wieder«
Von Christoph Keese
Meine lebenslange Abenteuerreise
Von Walter Kohl
Ein Buch, das auf mich kam
Von Gerd Krumeich
Die Welt hinter den Buchstaben
Von Philipp Lahm
Die Zeichen erkennen. Aufstehen!
Von Mojib Latif
Handeln in der VUKA-Welt
Von Klaus M. Leisinger
Espresso für den Geist?
Von Felicitas von Lovenberg
So bleibt Leben spannend
Von Manfred Lütz
Weltweh und Weltlust. Was will man mehr?
Von Joachim Lux
Vom Zauber der Zeit
Von Stephanie Mair-Huydts
Goldfische im Livestream
Von Miriam Meckel
Lesen gefährdet die Dummheit
Von Jürgen Meffert
Zurück zum Wesentlichen
Von Brigitte Mohn
Deine Geschichte, meine Geschichte
Von Jordi Nadal
Aufmerksamkeitsökonomie: von Largo bis Prestissimo
Von Jürgen Osterhammel
Das Ententeich-Problem
Von Bernhard Pörksen
Blättern oder wischen?
Von Sandra Richter
Lesen wir dagegen an!
Von Claudia Roth
Meine weiße Nacht mit Dostojewskij
Von Patrick Roth
Die Seele liebt Bücher
Von Nina Ruge
»Ihr denkt immer, eure Welt wäre die wahre …«
Von Rüdiger Safranski
Erste Berührungen
Von SAID
Entdeckungen auf dem Weg zu uns selbst
Von Eberhard Schockenhoff
Alle meine Freunde im Regal
Von Friedrich Schorlemmer
Vielfalt schützen, Veränderung gestalten
Von Martin Schulz
Das Tempo wird schneller. Aber wer gewinnt?
Von Thomas Schulz
Wie eine Schwäche zur Stärke wurde
Von Manfred Spitzer
Vorlesen macht fürs Leben fit
Von Michael Winterhoff
Die Mitwirkenden
Ansteckungsgefahr
Wie wunderbar, im Buch zu lesen
Was einst in Dichters Kopf gewesen
Und nun in meinen rüber will
Ich bin gespannt und halte still
Da, jetzt, jetzt ist es angekommen
Oder war es schon vorher da?
Dem Dichter bleibt es unbenommen
Kunst steckt uns an wie Cholera
JOCHEN JUNG
Warum und wozu Lesen gut ist – Vorwort
Von Michael Busch
»Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen – Erwachsenen, damit sie aufwachen« (Jorge Bucay). Eigentlich ist das schon eine Antwort auf die Frage: »Warum ist Lesen gut?«, die mich seit Längerem umtreibt und mich – anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Thalia – zu der Branchenkampagne »Welt, bleib wach« angestiftet hat.
Eine Fähigkeit, die wir nicht verlernen dürfen
Kultur ist lebenswichtig, und zu einem guten Leben gehören Bücher, gehören Geschichten. Daran erinnert auch dieses Jubiläum: Die Erfahrung eines verheerenden Krieges, der erste große Kulturbruch des Jahrhunderts, saß noch tief in den Menschen, als 1919 in Hamburg, im Eckgebäude des Thalia-Theaters, eine Buchhandlung gegründet wurde. Nicht nur große Schauspieler wie Fritz Kortner, Elisabeth Bergner oder Alexander Moissi, auch viele kulturbegeisterte Hamburger gehörten zu den Stammkunden. Thalia, die Muse der Dichtung und Unterhaltung, ist bis heute in die DNA von Thalia eingeschrieben.
Eine andere Erinnerung gehört untrennbar dazu: Kultur ist immer auch gefährdet. Die Barbarei der Bücherverbrennung – in Hamburg am 15. Mai 1933 und am 30. Mai am Lübeckertordamm, nur zwei Kilometer Luftlinie vom Thalia-Theater und der Buchhandlung entfernt – bleibt in unserem Langzeitgedächtnis. Die Büchervernichter haben ihr Ziel nicht erreicht. Die inkriminierten Bücher haben die Diktatur überlebt.
Wer liest, bleibt wach – und kann wachsam auch auf die aktuellen Herausforderungen unserer komplexen, turbulenten und risikobehafteten Gesellschaft reagieren. Darin liegt auch der ideelle Sinn von Buchhandlungen: Sie stiften Gemeinschaft, indem sie im Zentrum unserer Städte bis heute kulturell wache, engagierte und interessierte Menschen zusammenbringen. Hier liegt – ausgewählt und als breites Angebot – der Stoff an Wissen und Inspiration bereit, der diese Welt weiterbringen und menschlich halten kann: »Synapsen der Gesellschaft« hat der Verleger Metzler Buchhandlungen einmal genannt; Helmut Schmidt sprach von »geistigen Tankstellen« einer Nation: Bücher als Teil unserer hochvernetzten Kultur und Bildung und vertieftes Lesen sind in Zeiten der Digitalisierung notwendiger denn je. Aber man muss – auch mit den Möglichkeiten von heute – etwas tun, damit wir das Bücherlesen nicht verlernen.
Wir ermüden unseren Geist mit hoch dosierten Nichtigkeiten.
Denn diese Fähigkeit ist mittlerweile stark gefährdet. Die Gründe dafür sind vielfältig, die Folgen aber offensichtlich: Jeder Vierte hierzulande liest nicht mehr. Ungeduldige, schnelle Impulse zerren an unserer Aufmerksamkeit, die in immer kürzere Intervalle »zerhäckselt« wird. Irgendwo zwischen Serien-Marathon und dem Springen von Screen zu Screen haben die Menschen verlernt, tiefer in einen Inhalt einzutauchen, geduldig auch an längeren Texten zu bleiben, die Faszination und Kraft von Geschichten für sich zu entdecken und in neue Fantasien umzusetzen, aber auch kritisch zu bleiben gegenüber jeglicher Indoktrination. Wir ermüden unseren Geist, wenn wir ihn immer schneller mit hoch dosierten Nichtigkeiten füllen.
Aber es gibt nun einmal mehr Gefühle als Emojis. Die Welt hat mehr Geheimnisse, als Siri kennt. Fantasie – und damit Zukunftsfähigkeit – lernt man nicht alleine bei Youtube. Und der soziale Kitt unserer Gesellschaft wird nicht automatisch durch den schnellen Druck auf »Like«-Buttons hergestellt.
Vertieftes Lesen dagegen fördert Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen, Erinnerung, Wahrnehmungsfähigkeit, Konzentration, Imagination, Geduld, Unterscheidungsvermögen – all das, was wir heute dringend brauchen. Es ist nicht nur eine Schule der Selbsterkenntnis, es fördert auch die demokratische Kultur und die Toleranz, wenn man die Meinungen und Argumente anderer wahrnimmt, sich relevante Informationen aneignet, sich in den fremden Blick versetzt, sich in Gedanken austauscht.
»Erkenne dich selbst«: Lesen in Zeiten des Internet
Zweifellos hat das Internet – hinter das wir nicht zurückkönnen – auch die Welt der Medien und unser Leseverhalten revolutioniert. Zwischen 150 und 190 Mal am Tag schauen Jugendliche am Tag auf ihr Handy. Junge Menschen schalten nach einer amerikanischen Studie bis zu 27 Mal pro Stunde zwischen verschiedenen Medien hin und her. Und im Durchschnitt konsumieren Amerikaner täglich 34 Gigabyte an Informationen. Die Leseforscherin und Kognitionswissenschaftlerin Maryanne Wolf nennt in einer Studie diese Zahlen, die nicht nur für Amerika einen Trend zeigen. Ist die Schlacht geschlagen? Haben Bücher und somit Geschichten ausgedient?
Ich glaube es nicht. Ich glaube fest daran, dass geistige Nahrung Menschen und Gesellschaft nicht nur ein bisschen besser macht, sondern auch zukunftstauglicher: diskurs-kompetenter und resistenter gegen die Feinde der Demokratie und der offenen Gesellschaft (deren Vorzüge uns heute selbstverständlich erscheinen oder sogar oft gar nicht mehr bewusst sind) und zugleich sozial kommunikativer und emotional intelligenter.
Als der Historiker Yuval Noah Harari, dessen zeitdiagnostische Geschichtsbücher zu Weltbestsellern wurden, im September 2018 eine 15-Minuten-Begegnung mit Angela Merkel hatte, fragte ihn die Kanzlerin, was seiner Einschätzung nach heute die größten Herausforderungen für die Menschheit seien. Er resümierte kurz und nüchtern: ein Nuklearkrieg, der Klimawandel und disruptive Technologien …
Ein Szenario, das nicht nur Bücherfreunde um den Schlaf bringen kann.
Aber auf die Frage von Journalisten, wie man damit umgehen könne, erzählte Harari von seiner persönlichen Lösung: Er meditiert täglich zwei Stunden. Sein Rat: »Fang bei dir an. Erkenne dich selbst!«
Nicht jeder wird zwei Stunden am Tag meditieren wollen oder können. Aber eine gute Möglichkeit des Innehaltens, der Klärung, der Stärkung des Selbst, der wachen Aufmerksamkeit und des Verstehens ist sicher auch das Lesen.
Vorbilder, die begeistern
»Welt, bleib wach« will Menschen wieder neu für Geschichten und das Potenzial des Bücherlesens begeistern. Wie das geht? Ich meine: Am besten durch überzeugende Vorbilder. Der Verlag Herder hat diese Idee dankenswerterweise aufgegriffen. Für dieses Buch haben wir daher Frauen und Männer aus allen Bereichen der Gesellschaft eingeladen, Autoren mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und ganz unterschiedlichen Positionen, denen Bücher geholfen haben, klarer zu sehen, worauf es ankommt. Allen, die mitgeschrieben haben, bin ich sehr dankbar. Sie sind gleichsam prominente Paten für die Idee der Leseförderung: Indem sie erzählen, was es ihnen selber gebracht hat, geben sie überzeugende Antworten auf die Frage, warum Lesen elementar ist – und bleibt. Auch in Zeiten des Internet.
»Schlage die Trommel und fürchte dich nicht!«
Es genüge nicht, die Welt zu interpretieren, es komme darauf an, sie zu verändern, hat Karl Marx gesagt. Kann Lesen das? Oder heißt es am Ende: »Außer Lesen nichts gewesen?« Solche Resignation teile ich nicht. Handeln und Verändern setzt Wissen, Verstehen und Fantasie voraus. Deshalb »trommeln« wir für das Lesen. Ich bin Düsseldorfer und halte es mit dem Düsseldorfer Heinrich Heine:
Schlage die Trommel und fürchte dich nicht
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.
Lesen ist gut für den Kopf und macht Mut. Es kann das Verhältnis des Einzelnen zur Welt, ja die Welt selbst verändern. Das Schönste aber ist: Es vermittelt auch Lebensenergie. Ja, Lesen ist Leben. Wunderbar hat das Martin Walser das ausgedrückt. Auf die Frage, warum er liest, antwortet er: »… einfach aus einem Bedürfnis, für das ich keine Gründe mehr anzugeben weiß, keine Gründe auf jeden Fall, die von anderer Art wären als die, die uns veranlassen zu atmen oder zu essen, trotzdem macht mir das Lesen, dieses Herumgraben in mir selbst, oft mehr Vergnügen als das Atmen, ja es macht mir zuweilen sogar das Atmen wieder vergnüglicher.«
Lesen ist Leben. Deswegen brauchen wir sie weiter: die Geschichten für Kinder und die Geschichten für Erwachsene. Solange wir uns Geschichten erzählen, ist die Welt nicht verloren. Und auch das wissen wir schließlich aus einer Erzählung, aus 1001 Nacht.
Der Weiße Wal der Literatur
Von Stefan Aust
Jeder durstet nach Geschichten. Und so begann es bei mir, das Lesen.
Manche Bücher liest man, und wann man sie durchhat, ist man durch mit ihnen. Andere bleiben hängen, als kollektive Erinnerung übertragen auf das Individuum. Jeder Mensch durstet nach Geschichten, deswegen wird das Lesen auch so bald nicht aussterben – ob die Buchstaben nun am Bildschirm erscheinen oder auf Papier gedruckt sind. Deswegen haben wir auch keine Krise des Lesens: Es gibt noch immer so viele Geschichten, und die Welt wird nicht langweiliger. Im Gegenteil, sie verändert sich rasend schnell, und deswegen brauchen wir Orientierung – und finden sie in Zeitungen, in Büchern, digital und analog. Manchmal wollen wir aber auch nur unterhalten werden, und so begann es auch bei mir, das Lesen: Meine Kindheit habe ich mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn von Mark Twain verbracht, dann folgten die Abenteuerromane von Jack London – und später ein weiterer Abenteuerroman, zugleich ein Sachbuch und ein historisches und philosophisches Werk, auf das ich – leicht verspätet – erst stieß, als ich selbst für ein Buch recherchierte.
In den Zellen der RAF-Gründer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof war – neben reichlich politischen Traktaten – der Roman Moby-Dick von Herman Melville gefunden worden. Schon in Briefen, die sich die Gefangenen geschrieben hatten, tauchte immer wieder der Weiße Wal auf. Einmal hatte Gudrun Ensslin sogar die Decknamen der Gruppenmitglieder aus Moby-Dick übernommen. Ich las das Buch – und seitdem immer wieder.
Herman Melvilles Epos Moby-Dick oder Der Wal
Moby-Dick oder Der Wal hieß Herman Melvilles Epos über die Jagd auf den Leviathan, den Weißen Wal, den weißen Geist der Tiefe, ein lebendes Symbol für den Kampf des Menschen gegen die Natur, die Nutzbarmachung der Natur, die Ausbeutung der Welt durch den Menschen – und für die Rache der Natur.
Es waren Eroberer, die damals, Anfang des 19. Jahrhunderts, von der amerikanischen Atlantik-Insel Nantucket aus in See stachen, um den Wal zu jagen, der die Weltmeere bevölkerte und keine Feinde hatte außer den Menschen. Sie waren streng und gottesfürchtig, die Freibeuter, die das Blut des Leviathans vergossen, um sein Öl zu Geld zu machen. Puritanische Wikinger.
Bei Jesaja in der Bibel ist der Leviathan die Verkörperung des Bösen. Der Drache, den Gott der Herr mit seinem Schwert zerteilen oder im Meer erwürgen wird. Es ist der ewige Kampf gegen den Urfeind. Bei Herman Melville ist es der Kapitän des Walfangschiffes Pequod, der diesen fanatischen Kampf führt:
»Plötzlich stand Kapitän Ahab auf seinem Achterdeck. Wie eine bronzene Galionsfigur ragte er empor, kerzengerade und unerschütterlich. Seine hohe Gestalt ruhte auf einem barbarischen, weißen Bein, das aus dem Kieferknochen eines Pottwals geschnitten war. Er spürte weder den Wind noch roch er die salzige Luft. Er stand nur da und starrte auf die Kimm.«
Herman Melville beschreibt, wie Ahab seinen wahnsinnigen Kampfgeist auf die Besatzung überträgt, und der Erzähler bekennt: »Ich, Ismael, war einer in dieser Mannschaft, mein Racheschrei war mit den anderen aufgestiegen, um des Grauens in meiner Seele willen. Mit gierigem Ohr vernahm ich die Geschichte von dem Ungeheuer, dem ich und alle anderen Rache und Verderben gelobt.«
Das könnte von einem fanatischen Kommunisten stammen, einem Nazi, einem Terroristen oder einem Dschihadisten. Bei Melville heißt es: »Wahnwitzig erhob er den verhassten weißen Wal zum Sinnbild des Bösen, und verstümmelt, wie er war, stand er dagegen auf und forderte es heraus zum Kampf.«
Das Walfangschiff ist bei Melville, dem Zeitgenossen von Karl Marx, ein Abbild des Kapitalismus: die Mannschaft im Auftrag der Schiffseigner unterwegs, angetrieben von der Knute des Kapitäns am Werkzeug und an den Maschinen, auf der Jagd nach den Rohstoffen der Erde.
Der biblische Befehl »Macht Euch die Erde untertan« wird auf den Mikrokosmos eines Walfangschiffes heruntergebrochen. Mit allen Begleiterscheinungen. Kein Wunder, dass Moby Dick als Blaupause für alle Übel der Welt diente.
Doch manchmal schlug die Natur zurück. Eines der Vorbilder für Melvilles Geschichte vom Weißen Wal, der am Ende den fanatischen Kapitän Ahab, sein Schiff und seine Mannschaft zerstört, war das Schicksal des Walfängers »Essex« aus Nantucket. Die Reise ist im Detail belegt. Melville nahm sie als Vorbild für seinen Roman.
Am 12. August 1819 hatte die »Essex« den Hafen von Nantucket verlassen. Im Dezember segelte sie um Kap Hoorn und erreichte zehn Monate später die Galapagos-Inseln, im Laderaum bereits 900 Barrel Pottwal-Öl. Bis dahin eine erfolgreiche Reise. Doch dann, am 16. November 1820, etwa auf der Mitte zwischen Südamerika und den Marquesa-Inseln, geschah plötzlich etwas, das in der Geschichte des Walfangs noch nie passiert war.
Getroffen von Harpunen hatten Wale sich gewehrt, hatten mit ihrer gewaltigen Schwanzflosse die Jäger und deren Boote zerschmettert oder sie, durch Harpune und Seil an den fliehenden Wal gekettet, unter Wasser gezogen. Einen anscheinend kalkulierten Angriff auf das Mutterschiff der Walfangflotte hatte es noch niemals gegeben – außer beim Exodus in der Bibel: »In deiner erhabenen Größe wirfst du die Gegner zu Boden. Du schnaubst vor Zorn, da türmt sich Wasser, da standen Wogen als Wall, Fluten erstarrten im Herzen der See.«
Es ist eine universelle Geschichte, das deutet Herman Melville schon im Vortext seines Buches an, in dem er die Jagd auf den Wal mystifiziert. Er zitiert den englischen Philosophen Thomas Hobbes, der den Krieg »aller gegen alle« durch einen aufgeklärt-absolutistischen Staat ersetzen wollte, den er nach dem biblischen Meerungeheuer »Leviathan« nannte: »Künstlich erschaffen ist jener gewaltige Leviathan, den man Gemeinwesen oder Staat nennt und der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch.«
Das staatliche Ungeheuer als Zielscheibe: ein Roman als Standardlektüre der RAF-Spitze
Und dieses staatliche Ungeheuer wurde immer wieder zur Zielscheibe moderner, hasserfüllter politischer Waljäger – etwa der RAF (Rote Armee Fraktion). Tatsächlich gehörte Herman Melvilles Roman zur gemeinschaftlichen Standardlektüre der in Stammheim gefangenen RAF-Spitze: Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Sie alle hatten das Buch gelesen wie eine philosophische Blaupause für ihren Feldzug gegen den Kapitalismus, den Imperialismus, das Bundeskriminalamt, die Bundesanwaltschaft. Bei Melville heißt es dazu passend: »Eine solche Mannschaft schien von einem höllischen Verhängnis gewählt und gestählt, um Ahab bei seiner wahnsinnigen Rache beizustehen.«
Es war die Pastorentochter Gudrun Ensslin, die die Decknamen für die Gruppenmitglieder aus Moby-Dick entnahm. Andreas Baader erhielt den Namen Ahab, und sie zitiert in einem Brief an Ulrike Meinhof aus Moby-Dick: »Und sollte von Geburt an oder durch besondere Umstände hervorgerufen tief auf dem Grunde seiner Natur etwas Krankhaftes sein eigensinnig grillenhaftes Wesen treiben, so tut das seinem dramatischen Charakter nicht den geringsten Eintrag.« Im Buch heißt es weiter: »Alle tragische Größe beruht auf einem Bruch in der gesunden Natur, des kannst du gewiss sein.«
Jan-Carl Raspe, technisch versierter Bastler der Gruppe, erhielt den Decknamen Zimmermann. Über diesen heißt es in Moby-Dick: »Er glich den nicht selbst denkenden, aber höchst sinnreich erdachten und vielseitig verwendbaren Werkzeugen, die wie ein gewöhnliches Taschenmesser aussehen … Wollten seine Vorgesetzten den Zimmermann als Schraubenzieher benutzen, so brauchten sie nur diesen Teil seiner Person aufzuklappen, und die Schraube saß fest.«
Der Steuermann auf dem Walfänger »Pequod« hieß Starbuck. Nach ihm benannte Gudrun Ensslin das Gruppenmitglied Holger Meins, einen treuen Weggefährten im Untergrund – aber offenbar voll von verdeckten Zweifeln am Sinn des Untergrundkampfes –, wie Melville hundert Jahre zuvor geschrieben hatte: »Starbucks Leib und Starbucks unterjochter Wille gehörten Ahab, solange Ahab die magnetische Kraft seines Geistes auf Starbucks Hirn ausstrahlen ließ; allein ihm war bewusst, dass der Steuermann trotz allem den Kriegszug seines Kapitäns in tiefster Seele verabscheute.«
Und doch ging Starbuck alias Holger Meins für den Feldzug seines Kapitäns in den Tod. Kurz bevor er sich im Hungerstreik zu Tode gefastet hatte, schrieb ihm Gudrun Ensslin: »Du bestimmst, wann du stirbst. Freiheit oder Tod.« Holger Meins wählte den Tod.
Gudrun Ensslin selbst gab sich einen eher bescheidenen Namen aus der Mannschaftsliste des Walfangschiffes. Sie war der Smutje, der Küchenboy. Zur Erklärung schrieb sie an Ulrike Meinhof: »Smutje (wenn Du noch weißt: der Koch hält Pfannen spiegelblank und predigt gegen die Haie).« Und: »An Bord ist der Koch ja eine Art Offizier.«
So war es auf der Pequod, und so war es auch bei der RAF.
»Das Drama ist zu Ende«, so beginnt der Epilog von Moby-Dick. Der Erzähler Ismael, der sich an einen Sarg geklammert hat, wird als Einziger gerettet. Und wie das Walfangschiff »Pequod« unterging, so ging auch der Walfang unter.
Warum Moby Dick keine Chance mehr hatte
Doch es waren nicht die Walfänger aus Nantucket, die den Meeressäuger beinahe ausrotteten. Es war der industriell betriebene Walfang des 20. Jahrhunderts, der die Pottwale und Blauwale, die Grauwale und Buckelwale, die seit Jahrmillionen die Ozeane bevölkerten, systematisch vernichteten. Da hatte Moby Dick keine Chance mehr.
Das Buch Moby-Dick setzt ihm ein Denkmal, aber nicht nur ihm. Es ist vor allem eine Parabel für die Eroberung der Welt durch den Menschen – und dafür, dass die Natur auch zurückschlagen kann. Bald 170 Jahre alt – und doch ein Protokoll der Gegenwart.
Was das Internet nicht kann
Von Joachim Bauer
Bücher zu lesen hatte in meinem Leben vor allem drei Bedeutungen – in dieser Reihenfolge: Trost, das Versprechen eines Minimums an Welt-Konstanz und Selbst-Vergewisserung. Die über zwei Jahrzehnte Erfahrung, die ich inzwischen mit den volatilen und nervös-unruhigen Räumen des Internets machen konnte, haben mir Erfahrungen dieser Art nicht geben können. Doch der Reihe nach.
Trost – auch in der Erfahrung geteilten Leids
Trost war mir das Lesen nicht nur in den Jahren der Kindheit, sondern auch in der Adoleszenz. Als es in den letzten Jahren des Gymnasiums für mich darum ging, einen verlässlichen Begriff der eigenen Existenz und einen Zugriff auf die mich umgebende Welt zu finden, verbrachte ich nach den vormittäglichen Schulstunden, die ich in einem Stuttgarter Gymnasium erlebte, oft noch mehrere Stunden im Lesebereich einer großen, mit philosophischen und psychologischen Büchern hervorragend ausgestatteten Buchhandlung im Stadtzentrum. Wolfgang Borchert, André Gide, Albert Camus, Jean-Paul Sartre und einige psychoanalytische Autorinnen (einen besonders tiefen Eindruck hinterließ damals bei mir Beluah Parker) boten mir damals nicht weniger Trost, als es die Kinderbücher der frühen Jahre getan hatten, obwohl beide, sowohl die Kindheits- als