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Liebe, Sex & Sozialismus: Vom intimen Leben in der DDR
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eBook448 Seiten3 Stunden

Liebe, Sex & Sozialismus: Vom intimen Leben in der DDR

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Über dieses E-Book

Liebe, Sex & Sozialismus ist eine faszinierende Auseinandersetzung mit der stillen sexuellen Revolution in der DDR und ihren Grenzen. Auf packende und unterhaltsame Weise zeigt Josie McLellan, dass im Sozialismus die Scheidungsraten
Rekordwerte erzielten, Abtreibung eine Normalität wurde und die Rate der außerehelichen Geburten zu den höchsten in ganz Europa zählte. FKK entwickelte sich vom verbannten Außenseiterhobby zum staatlich geförderten Boom, und Erotika wurden zu einer beliebten Tauschware sowohl in der offiziellen Ökonomie als auch auf dem Schwarzmarkt. Die öffentliche Diskussion über Sexualität wurde dennoch strikt kontrolliert, und es gab nur eingeschränkte Möglichkeiten, Grenzen traditioneller Geschlechterrollen oder Sexualnormen zu überschreiten. Das vorliegende Buch über "die schönste Nebensache der (DDR-)Welt" stellt eine herausragende Studie dar und leistet einen wegweisenden Beitrag zum Verständnis des emotionalen Alltagslebens in der DDR. Es hinterfragt
liebgewordene Überzeugungen hinsichtlich der Beziehung zwischen Sexualität, Politik und Gesellschaft und veranschaulicht, dass die Einwohner der DDR trotz Repressionen über ein großes Maß an persönlicher Freiheit und Autonomie im sexuellen Bereich verfügten.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Berolina
Erscheinungsdatum21. Juni 2019
ISBN9783958415607
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    Buchvorschau

    Liebe, Sex & Sozialismus - Josie McLellan

    Bildnachweis

    1. Einführung –

    Die sexuelle Revolution in der DDR

    »Wir hatten mehr Sex, und wir hatten mehr zu lachen«, sagte die Schauspielerin Katharina Thalbach im November 2008 rückblickend auf ihr Leben in der DDR.¹ Eine erstaunliche Feststellung, nicht zuletzt deswegen, weil Thalbach, eine Gegnerin des DDR-Regimes, die DDR mitten in einem politischen Aufruhr 1976 verlassen hatte und ihr die Wiedereinreise für die nächsten zehn Jahre untersagt worden war. Dennoch ging in ihrer Erinnerung an das Leben in der DDR die politische Unterdrückung mit der sexuellen Befreiung einher. Das wird auch von Roman­autor Thomas Brussig gespiegelt, der ein neiderregendes Bild menschlicher Beziehungen in der DDR zeichnet, die getragen gewesen seien von Liebe und gegenseitigem Re­spekt. Die Ostdeutschen, so argumentiert er, seien »freigiebig und tolerant«, »freier und kooperativer« sowie weniger »wachsam und misstrauisch« als Westdeutsche gewesen.² Solche Eindrücke beschränken sich nicht auf DDR-Künstler. Normale Ostdeutsche, 2007 und 2008 befragt, äußerten spontan ähnliche Erinnerungen an die »Fröhlichkeit dieser Jahre« und an eine »Sexualität ohne Tabus«. Eine Befragte urteilte: »Nicht alles war gut in der DDR, aber im Prinzip konntest du deine Sexualität frei ausleben.«³

    Diese Aussagen haben etwas Beunruhigendes. Sie widersprechen der Vorstellung, dass das Leben im Ostblock grau und freudlos war und dass es zwischen der Arbeit am Fließband und den Schlangen vor den Geschäften nur wenige Gelegenheiten zum Glücklichsein gab. Sie vermitteln auch einen überraschenden Grad an Autonomie im Privatleben, im Gegensatz zu den Überzeugungen des 20. Jahrhunderts, dass autoritäre Regimes der Sexualität gegenüber grundsätzlich feindselig eingestellt seien. Nicht umsonst brüstet sich O’Brien, der Folterer Winstons Smiths in 1984: »Wir werden den Orgasmus abschaffen. Unsere Neuro­logen arbeiten schon daran, (…), es wird keine Liebe mehr geben, außer der Lieben zum Großen Bruder.«⁴ Orwells Anti-Sex-Liga, so scheint es, wurde in der DDR nicht in die Realität umgesetzt. Aber einige Darstellungen gehen noch deutlich weiter als das und legen sogar nahe, dass das Leben hinter dem Eisernen Vorhang auf manche Weise angenehmer war als das Leben im Westen. Nach Ansicht vieler schuf der ostdeutsche Sozialismus Bedingungen, die die Intimität förderten und verbesserten, beispielsweise durch die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen und den Mangel an Sexspielzeug und Pornographie.⁵ Befreit von ökonomischer und ideologischer Unterdrückung, waren Frauen in der Lage, Beziehungen zu Männern auf der Basis von gegenseitigem Vertrauen und Respekt aufzubauen. Wolfgang Engler schrieb in seinem bekannten Buch Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, »selten war die Liebe sozial unbelasteter«.⁶

    Die Anschauung, dass der Sozialismus die Intimität begünstigte und sogar ermöglichte, ist jedoch höchst umstritten. Es gibt andere Darstellungen, denen zufolge das Leben im Sozialismus in sexuellen Angelegenheiten grundlegend von Repression geprägt war. Briefe, welche die westdeutsche Sexshop-Magnatin Beate Uhse nach dem Fall der Mauer erhielt, enthielten bittere Klagen darüber, wie sehr das Leben im Osten von Prüderie verdorben gewesen sei, und schwärmten von der durch den Zusammenbruch des Sozialismus ermöglichten sexuellen Befreiung Ostdeutschlands.⁷ Das DDR-Regime hatte tatsächlich rigide moralische Standards festgelegt und zögerte nicht, in Beziehungen einzugreifen, die als Gefährdung für die soziale Ordnung angesehen wurden. Überwachungsmaßnahmen der Stasi konnten die Privatsphäre vollständig aufheben, besonders bekannt geworden im Fall von Vera Wollenberger, die von ihrem eigenen Ehemann systematisch ausspioniert wurde.⁸ Auch nach der Entkriminalisierung von Homosexualität blieben gleichgeschlechtliche Beziehungen im öffentlichen Leben so gut wie unsichtbar. Schwule und Lesben waren auf private Netzwerke angewiesen, wenn es um Unterstützung, Beratung und Kontakt mit Gleichgesinnten ging.⁹

    Somit haben wir auf der einen Seite die Darstellung von Unterdrückung, die einen Mangel an Privatsphäre betont und folglich eine hemmende Wirkung auf persönliche Beziehungen. Auf der anderen Seite bekräftigen »verklärende« Rückblicke, dass die staatliche Einmischung ins Privatleben kaum bemerkbar war und dass die obrigkeitlichen Maßnahmen teils sogar begünstigend fürs Intimleben waren. Versucht man nun allerdings, zu erkunden, ob die DDR-Sexualität »gut« oder »schlecht« war, begibt man sich auf ein recht nutzloses Unternehmen.¹⁰ Vordringlicher ist es, die dramatischen Veränderungen zu analysieren, die in den (hetero-)sexuellen DDR-Sitten und -Bräuchen stattfanden. Zwischen der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik 1949 und ihrem Zusammenbruch 1989 stiegen die Scheidungs- und die Abtreibungsrate steil an, ebenso wie die Rate der außerehelichen Geburten. Nacktbaden entwickelte sich vom Hobby einiger weniger zur umfassenden Bewegung. Nacktfotografie, in den frühen Jahren des Kalten Krieges im Osten komplett verboten, wurde zum Thema staatlich geförderter Kurse und großangelegter Ausstellungen. Das zentrale Anliegen des vorliegenden Buches ist es daher, diese Veränderungen zu analysieren und ihre Grenzen auszuloten.

    Wie schon angemerkt, stellen die Veränderungen in den ostdeutschen Haltungen gegenüber Sexualität und Körper einige unserer grundlegenden Annahmen über den Zusammenhang von Sexualität, Politik und Gesellschaft in Frage. Generell wissen wir immer noch viel zu wenig über das alltägliche Gefühlsleben der Europäer nach 1945.¹¹ Wie Dagmar Herzog 2009 in einem brillanten Aufsatz gezeigt hat, ist »eines der Gebiete, das wir bis heute am wenigsten verstehen, die lange sexuelle Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«.¹² Das vorliegende Buch setzt sich zum Ziel, zu dieser im Aufwind befindlichen Historiographie beizutragen, welche, gemäß den Vorstellungen von Herzog, sowohl nationale Besonderheiten als auch transnationale Trends und Einflüsse in den Blick nehmen soll. Die sexuelle Revolution im Westen wird üblicherweise mit den liberalisierenden Tendenzen in Regierung und Zivilgesellschaft in Verbindung gebracht. Als die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts demokratischer wurden, so lautet die Theorie, wurde auch die Haltung zur Sexualität freizügiger. Eine ähnliche Liberalisierung der Sexualität in der DDR jedoch stellt die direkte Verbindung zur Demokratisierung in Frage, zumal angesichts der Tatsache, dass viele der Dinge, von denen angenommen wird, dass sie die sexuelle Revolution im Westen vorantrieben, wie eine freie Presse, die Sexindustrie, die Studentenbewegung, die unabhängige Justiz, im Osten fehlten. War die Nachkriegsgeschichte in West- und Osteuropa trotz der sehr unterschiedlichen politischen Systeme und ihrer spezifischen Sozialgeschichte am Ende etwa ähnlicher verlaufen, als auf den ersten Blick zu erkennen ist? Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs teilten Europäer jedenfalls vergleichbare soziale Erfahrungen zunehmenden Wohlstands, der Urbanisierung, der Säkularisierung und gesteigerter Mobilität. Welche Auswirkungen hatten solche Umwälzungen auf intime Beziehungen? Gas es etwas Besonderes an der ostdeutschen Intimität? Was sagt es uns darüber, wie es wirklich war, im Sozialismus zu leben? Welches Licht wirft es darauf, wie und warum sich die Haltungen zur Sexualität änderten? Die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten zwischen West und Ost auszumachen und im Hinblick auf den Osten Deutschlands zu verstehen, wird uns helfen, die Geschichte des Nachkriegsintimlebens umfassender zu begreifen.

    Sex und Liebe im Ostdeutschland der

    Nachkriegszeit

    Es ist unmöglich, das Ausmaß der Veränderungen nachzuvollziehen, wenn man die Lebensbedingungen in der Frühphase der DDR nicht berücksichtigt. Die ersten Jahre des ostdeutschen Sozialismus waren nicht besonders vorteilhaft für Sex und Intimität. Das Ende des Zweiten Weltkriegs wurde begleitet von sexueller Gewalt und familiären Umbrüchen von bis zu diesem Zeitpunkt ungekannten Ausmaßen.¹³ Unzählige deutsche Frauen und Mädchen wurden von Soldaten der Roten Armee während der letzten Kriegsmonate und den ersten Jahren der Besatzungszeit vergewaltigt.¹⁴ Millionen Familien befanden sich auf der Flucht, zwangsumgesiedelt aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten oder weil sie ihre Wohnungen durch die alliierten Bombardements verloren hatten. Millionen deutscher Männer befanden sich in Kriegsgefangenenlagern in der Sowjetunion und kamen erst Jahre nach dem Kriegsende zurück.¹⁵ Millionen von Frauen, im Unklaren, ob ihre Männer zurückkehren würden, waren jahrelang auf sich allein gestellt.¹⁶ Für einige von ihnen blieb Pros­titution die einzige Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen.¹⁷ Aber auch Familien, die wieder vereint worden waren, kämpften damit, sich erneut zusammenzufinden: Ehemänner und Ehefrauen hatten sich oft während der Trennung durch die Kriegsjahre auseinandergelebt, und die beengten Wohnverhältnisse machten es schwierig, wieder eine gemeinsame Intimität aufzubauen. Auch der Staat half solchen Paaren nur wenig. Der Nachdruck, den das DDR-Regime vor allem anderen auf ideologischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau legte, war schon in den ersten Zeilen der neuen Nationalhymne angelegt: »Auf­erstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt …« Die Etablierung des Sozialismus würde, so legte es die orthodoxe marxistische Lehre nahe, unweigerlich zu privatem Glück führen; bis dahin wurde von den Bürgern erwartet, individuelle Vergnügungen aufzuschieben und sich der gewaltigen Aufgabe des Aufbaus eines »besseren Deutschlands« zu widmen.

    Das Thema Sex wurde zusätzlich von den Ereignissen der Vergangenheit überschattet. Die einzigartige Sexualkultur der Weimarer Republik war teilweise von deutschen Kommunisten toleriert oder sogar unterstützt worden, die sich für eine Gesetzesreform im Hinblick auf damals vorhandene Straftatbestände, wie Abtreibung und Homosexualität, einsetzten.¹⁸ Es gab also gewisse Schnittmengen zwischen der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sexualreformbewegung der Weimarer Republik, mit dem linken Flügel der Nudistenbewegung waren allerdings besonders Sozialdemokraten eng verbunden gewesen.¹⁹ Solche Aktivitäten hatten jedoch immer auch Unruhe hervorgerufen, und vielen Kommunisten waren die Themen Sexualität und Körper unangenehm. Diese Tendenz wurde durch die reaktionäre Wendung in der sowjetischen Politik Mitte der 1930er Jahre verstärkt, als die liberalen Reformen, die im Gefolge der Russischen Revolution eingeführt worden waren, wieder zurückgenommen wurden. Abtreibung und Homosexualität wurden wieder kriminalisiert, die Zeit der offenen Diskussion über alternative Formen des Familien- und Sexuallebens war vorbei.²⁰ Da viele Personen aus der Führungsschicht der DDR während der NS-Zeit überwiegend in der Sowjetunion im Exil gewesen waren, war es unvermeidlich, dass einige von ihnen mit diesen Haltungen 1945 nach Deutschland zurückkehrten.

    Das »Dritte Reich« hatte auch eine unangenehme Erbschaft hinterlassen im Hinblick auf das Thema Sexualität. Die dort praktizierte spezielle Mischung von Freizügigkeit und Unterdrückung hatte den männlichen nackten Körper verherrlicht und eine gewisse Duldung unehelichen Geschlechtsverkehrs zwischen Deutschen herbeigeführt.²¹ Sex ohne Fortpflanzungsvorhaben und zwischen unterschiedlichen »Rassen« wurde allerdings mit massiver Brutalität bestraft.²² Es gibt wenig direkte Hinweise darauf, wie die Erinnerung hieran in der DDR weiterlebte. Zweifel­los machte der Umstand, dass der Nationalsozialismus dort rückblickend streng marxistisch beurteilt wurde, als Produkt des Monopolkapitalismus, es den Ostdeutschen leichter, seine anderen Aspekte zu ignorieren oder zu vergessen. Bezeichnend ist der Unwille der DDR-Behörden, die Gesetzgebung auf diesen Gebieten einer Reform zu unterziehen. Obwohl das Abtreibungsverbot zeitweise aufgehoben worden war während der Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten, ließ das Gesetz über den Schutz von Mutter und Kind aus dem Jahr 1950 Abtreibung nur in solchen Fällen zu, wo die Gesundheit der Mutter ernsthaft bedroht war oder wo in eugenischer Hinsicht absehbare Behinderungen des Kindes eine Beendigung der Schwangerschaft begründeten.²³ Homosexualität blieb illegal, da der Paragraph 175a des Strafgesetzbuchs, wie er von den Nationalsozialisten eingeführt worden war, auch unter den DDR-Auspizien gültig blieb. Homosexualität wurde zwar nicht in einem vergleichbaren Maße wie unter den Nazis verfolgt, aber durch die Beibehaltung dieses Paragraphen wurden bewusst alle Initiativen, dieses Gesetz zu ändern, ignoriert und die Kriminalisierung schwuler Männer fortgesetzt.²⁴

    Die 1950er Jahre waren jedoch keine Zeit ungebroche­­-n­er Unterdrückung.²⁵ Die DDR begann damit, die Rechte der Frau in Gesetzgebung und Alltagsleben zu stärken (mit wechselndem Erfolg).²⁶ Die Sexualreformbewegung behielt gleichzeitig einen unterschwelligen Einfluss, so etwa im Verlagswesen besonders in den Programmen des

    Beifall der Delegierten nach dem Referat von Walter Ulbricht (Mitte), Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, am 10. Juli 1958 auf dem V. Parteitag der SED in Berlin, wo der Parteichef die »Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik« postulierte. Links Nikita Chruschtschow, Erster Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, und rechts Ministerpräsident Otto Grotewohl, Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED.

    Greifenverlags (Rudolstadt).²⁷ Eine neue Zeitschrift, Das Magazin, wurde 1954 gestartet, mit einem anregenden Mix aus Literatur, Reportagen und Erotika, welcher dazu beitragen sollte, die Haltung der Ostdeutschen gegenüber ­Sexualität sowohl weiterzuentwickeln als auch zu reflektieren. Alles in allem tendierte die DDR dazu, moralisch repressiv zu agieren. Versuche, die in der Weimarer Republik populäre Freikörperkultur (FKK) wiederzubeleben, stießen auf Unverständnis und moralische Empörung. »Schont die Augen der Nation«, erklärte Johannes R. Becher (1891–1958), Schriftsteller und erster DDR-Kulturminister.²⁸ Reproduktive Heterosexualität wurde dagegen auf höchster Ebene propagiert. Die »Zehn Gebote der sozia­listischen Moral und Ethik«, von Staatschef Walter Ulbricht 1958 verkündet, ließen wenig Zweifel darüber, auf welche Art und Weise die DDR-Bürgerinnen und Bürger ihr Leben leben sollten. »Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten«, hieß es in Gebot 9.²⁹

    Auf einigen Gebieten lagen Bevölkerung und Regierung nicht sehr weit auseinander. Alles in allem tendierte auch die Mehrzahl der Ostdeutschen dazu, »sauber« und »anständig« zu leben und diejenigen abzulehnen, die das nicht taten. Aber was mit diesen Begriffen gemeint war, das sollte sich in den kommenden dreißig Jahren grundlegend ändern und dabei den Bereich der Intimität in ungeahnter Weise weiterentwickeln.

    Die sexuelle Revolution in der DDR

    Auf den ersten Blick scheinen die Begriffe »DDR« und »sexuelle Revolution« unvereinbar. Viele der wesent­lichen Zutaten westlicher sexueller Revolutionen waren in der DDR nicht vorhanden oder sehr rar. Speziell traf dies auf die Erzeugnisse von Erotikunternehmern wie Beate Uhse oder Hugh Hefner, radikalfeministische Ansätze wie zum »Mythos vom vaginalen Orgasmus« oder eine breitge­fächerte öffentliche Diskussion über Sex zu. Daher kommt Dagmar Herzog kurzerhand zu dem Schluss, dass es in der DDR – im Gegensatz zu Westdeutschland – keine ­sexuelle Revolution gegeben habe.³⁰ Ihr Alternativvorschlag, von »sexueller Evolution« im Osten zu sprechen, betont den schrittweisen, undramatischen Charakter der Veränderung und impliziert somit, dass diese Entwicklungen sich grundlegend von den plötzlichen und in aller Öffentlichkeit vor sich gehenden Veränderungen im Westen unterschieden. Obwohl Herzog anerkennt, dass die Ostdeutschen »sich ihre eigenen Freiräume schufen«, legt ihre Darstellung den Schwerpunkt auf die evolutionären Veränderungen der staatlichen Haltung zur Sexualität in der DDR, speziell was die Rolle fortschrittlicher Sexualwissenschaftler und die staatlich geförderte Stärkung der Frauenrechte angeht.³¹ Zweifelsohne hat sich das Verhältnis des Staates zur Sexualität im Osten während der vier Jahrzehnte DDR-Geschichte verändert, und Sexualwissenschaftler haben dabei eine wichtige Rolle gespielt. Aber die Sozial­geschichte der Sexualität zeigt, dass Veränderungen auch von unten angestoßen werden, aus der Bevölkerung heraus, und dass solche Graswurzelveränderungen der westlichen sexuellen Revolution ähnelten oder diese teilweise sogar übertrafen. Die sexuelle Evolution von staat­licher Seite und die sexuelle Revolution an der Basis müssen also zusammen gesehen werden. Beide Entwicklungen waren eng miteinander verbunden und beförderten einander.

    Ein weiterer Aspekt ist ebenfalls von Bedeutung. Denn mit der Annahme, es habe keine sexuelle Revolution in der DDR gegeben, riskieren wir, eine falsche Dichotomie zwischen Ost und West zu etablieren. Es ist richtig, dass die öffentliche Diskussion über Sexualität im Gegensatz zum Westen hier eher umschreibenden Charakter hatte, und wie wir sehen werden, hatte das für die Art und Weise der ostdeutschen Intimität wichtige Auswirkungen. Aber aus anderem Blickwinkel stellen sich die sexuellen Revolutionen im Osten wie im Westen überraschend ähnlich dar. Es ist beispielsweise unbestreitbar, dass Entscheidungen, welche die Menschen im Osten hinsichtlich ihres Privat­lebens trafen, einem fundamentalen Wandel unterzogen waren, und dies in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum. Und in bestimmter Hinsicht waren die Veränderungen im ­sexuellen Verhalten der DDR-Bevölkerung radikaler als diejenigen, die sich in der BRD und anderen industrialisierten Ländern des Westens abspielten.

    Wenn man den Entwicklungen in der DDR die Bezeichnung »sexuelle Revolution« verweigert, weist man im ­Übrigen der westlichen sexuellen Revolution eine Bedeutung zu, die sie nie hatte. Die Veränderungen waren auf beiden Seiten sprunghaft und oftmals stark von lokalen Gegebenheiten beeinflusst. Die Hauptentwicklungen der sexuellen Revolution fanden in den Metropolen statt, die Land­bevölkerung erfuhr davon nur aus zweiter Hand. Leicester war nicht London, Poitiers nicht Paris, Braunschweig nicht Berlin. Beth Baileys Studie über den Ort Lawrence (Kansas, USA) zeigt, dass die meisten Amerikaner weit weg von den Hotspots der sexuellen Revolution lebten, in Städten und Dörfern ohne schwule Saunen, Rotlichtbezirke oder Singleclubs.³² Das hieß allerdings nicht, dass die sexuelle Revolution dort überhaupt nicht stattfand; gerade der Wandel auf dem Land und in der Provinz war ein integraler Bestandteil davon. Wie Bailey zeigt, hätten die Radikalen in den Großstädten und die Unternehmer des Sex-Business allein nicht das Sexualverhalten derart grundlegend verändern können. Es wurde auch und gerade von Menschen geprägt, die absolut nicht die Absicht hatten, eine sexuelle Revolution auszulösen.³³

    Baileys Befunde verweisen auf einen entscheidenden Punkt, was den Grund für den sexuellen Wandel angeht, und der gleichzeitig die Darstellungen der bisherigen wissenschaftlichen Literatur bezüglich der öffentlichen Diskussion und der eingetretenen Veränderungen in Frage stellt. Herzog, die über Westdeutschland schreibt, betont die Kombination von kommerzialisierter Sexualität, Gesetzesreformen und das Interesse der neuen Linken an der Sexualität und deren obsessive Diskussion darüber.³⁴ Jeffrey Weeks argumentiert in seiner Untersuchung über den Sachverhalt in Großbritannien, dass zunehmende Zuwanderung die existierenden Sexualnormen untergrub und den Erfolg einer eher marktgetriebenen Sexualität beförderte.³⁵ Sheila Jeffreys dagegen stellt die patriarchalische Konterrevolution auf der Basis der sexuellen Dominierung von Frauen in den Mittelpunkt. Basierend auf empirischen Befunden, hauptsächlich aus Großbritannien, entwirft sie das Bild einer Elite sexueller Radikaler, deren Tätigkeit die männliche Vorherrschaft zementierte.³⁶ Diese Forscher sind sich nicht einig über die Ursachen der sexuellen Revolution; sie konzentrieren sich jedoch alle auf Diskurse und Diskussionen über Sexualität.

    Bailey andererseits beschreibt, welch wichtige Rolle individuelle Entscheidungen hinsichtlich des eigenen sexuellen Verhaltens spielen. Auf ähnliche Weise betont Hera Cooks Bericht über die »lange sexuelle Revolution« im Zusammenhang mit dem Kampf britischer Frauen für die Kontrolle ihrer Fruchtbarkeit, die in der Einführung der »Pille« gipfelte, die technologischen und sozialen Faktoren, denen sie größere Bedeutung als den kulturellen einräumt.³⁷ Statt nur von Sexualradikalen der Revolution geprägt, führt sie für die Änderungen des Lebenswandels von »normalen Zeitgenossen« eher private oder praktische Gründe an. Aus beidem zusammen entstand auf diese Weise – unbeabsichtigt – eine Massenbewegung.

    Die Idee, dass sexuelle Revolutionen zumindest teilweise »von unten« in Gang gesetzt werden können, statt nur von Abgeordneten, Unternehmern, Radikalen und Sexualtheoretikern, ist im Hinblick auf die DDR entscheidend. Obwohl hier die fehlende Redefreiheit eine offene Diskussion über Sexualität verhinderte, war der Druck der Bevölkerung immer wieder ein wichtiger Antrieb für Veränderungen. Ein solches Modell basiszentrierter sexueller Revolutionen erlaubt es uns darüber hinaus, die Rolle sozioökonomischer Einflüsse genauer zu bestimmen. Die grundlegende Verbesserung der Wohnsituation und die zunehmende Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln hatten wesentlichen Einfluss auf das individuelle Sexualverhalten. Kürzere Arbeitswochen und ein höheres verfügbares Einkommen veränderten die Art und Weise, wie die Menschen ihre Freizeit verbrachten. Insgesamt hatten Individuen, die in der Nachkriegszeit aufwuchsen, mehr Wahlmöglichkeiten im Hinblick darauf, wen sie treffen wollten, und mehr Privatsphäre für solche Treffen sowie mehr Kontrolle über die Frage der Verhütung. Diese Erfahrungen waren – in unterschiedlichen Abstufungen – in Ost- und Westeuropa vergleichbar.

    Ebenso bedeutsam wie das Wann und Warum der ­sexuellen Revolution in der DDR ist die Frage nach ihren Grenzen. Auch wenn sich Verhaltensweisen drastisch änderten, so sollten wir daraus nicht den Schluss ziehen, dass die DDR zum Ende hin zu einer sexualliberalen Gesellschaft wurde. Die immer populärer gewordene Akt­fotografie beispielsweise konnte konservative Überzeugungen hinsichtlich des Geschlechts und der Familie ebenso unterstreichen wie untergraben. Auch das Tauwetter in der offiziellen Haltung zur Homosexualität führte keineswegs zu einer verbreiteten Toleranz oder Akzeptanz. Das Anderssein der sexuellen Revolution in der DDR beleuchtet somit nicht nur die Funktionsweisen einer sozialistischen Gesellschaft, sondern kann auch als wichtiger Vergleichsmaßstab mit dem Westen dienen. Von besonderer Bedeutung ist hier der Umstand, dass die sexuelle Revolution in der DDR stattfand, ohne dass es Rede- oder Handlungsfreiheit gab. Beide Faktoren hatten, wie wir sehen werden, wichtigen Einfluss auf Form und Ablauf des sexuellen Wandels in der DDR.

    Mein Gebrauch des Begriffs »Revolution« sollte nicht dahingehend missverstanden werden, dass Haltungen sich grundsätzlich änderten oder dass die DDR eine liberale Gesellschaft in sexueller Hinsicht geworden wäre. Aber das war auch nicht in jedem westlichen Land der Fall. Wie alle Sexualrevolutionen enthielt auch die DDR-Version Elemente an Evolution, und wie alle Revolutionen blieb auch sie unvollendet, ungleich verteilt und stellenweise völlig aus. Der Wandel wies in unterschiedlichen Gegenden unterschiedliche Geschwindigkeiten auf. Wie Bailey betont, müssen wir uns über die verschiedenen Bestandteile klarwerden, um den tieferen Sinn einer sexuellen Revolution zu erkennen. Diese Bestandteile treten nicht immer gleichzeitig auf.³⁸ Dabei ist es wichtig, nicht immer nur die Unterschiede zwischen den 1950er und den 1980er Jahren zu betonen, sondern ebenso die Wegemarken dazwischen, an denen sich Dinge veränderten. Auf den ersten Blick scheinen die späten 1960er und die frühen 1970er Jahre Schlüsselstellen der Entwicklung in der DDR zu sein. Dies betraf die Entkriminalisierung von Homosexualität und Abtreibung (beides früher als in vielen westeuropäischen Ländern) ebenso wie den deutlichen Anstieg in der Verfügbarkeit von Nacktfotografien und der Etablierung von FKK als Massenbewegung. Teilweise war dies das Ergebnis von politischen Veränderungen in den höchsten Ebenen der DDR-Regierung: so etwa der Absetzung Walter Ulbrichts als Generalsekretär der SED und der Inthronisierung Erich Honeckers an dessen Stelle 1971. Nach den wirtschaftlichen und sozialen Experimenten der vorangegangenen Jahrzehnte begann Honeckers Machtperiode als weniger ideologisch dominierte Epoche der SED-Herrschaft. Dazu gehörten das teilweise Tauwetter in kultureller Hinsicht, aber auch die zunehmenden Konzessionen der Partei im Hinblick auf den Individualismus ihrer Bürgerinnen und Bürger.³⁹ Dennoch sollten wir dem Wechsel an der Staatsspitze nicht zu viel Bedeutung beimessen. Viele Trends hatten schon in den 1960er oder gar in den 1950er Jahren begonnen. Zudem kulminierte der Wandel keineswegs in den 1970er Jahren. So hatte beispielsweise die Entkriminalisierung zunächst wenig Auswirkungen auf das Alltagsleben der meisten Lesben und Schwulen, und Homosexualität wurde erst gegen Mitte oder Ende der 1980er Jahre öffentlich sichtbar. Auch viele Trends im

    heterosexuellen Verhalten kamen erst in den 1980er Jahren wirklich zum Tragen. Dennoch werden bisher die 1960er und 1970er Jahre als Schlüsselepochen in der Entwicklung der DDR-Gesellschaft angesehen: Das wechselnde Tempo des sexuellen Wandels stellt jedoch die Universalität dieser These in Frage.⁴⁰

    Sex, Gesellschaft und der Staat

    Unlängst publizierte Forschungen haben den Mythos monolithischer kommunistischer Diktaturen in Frage gestellt, indem sie nachwiesen, dass die Prioritäten dieser Regime oft unklar waren, häufig wechselten und sowohl im Staatsapparat als auch in der Bevölkerung sehr umstritten waren.⁴¹ Das betrifft insbesondere auch sexuelle Themata, wo moralische Haltungen oft von der Notwendigkeit, die Bevölkerung zu überzeugen, Versuchen, ein progressives Image auf die Welt jenseits der DDR-Grenzen zu projizieren, oder schlicht von pragmatischen wirtschaftlichen oder sozialen Erwägungen überspielt wurden. Trotz aller moralischen Fensterreden, besonders der 1950er und 1960er Jahre, waren die Hauptsorgen der SED-Führung praktischer Natur: Geburtenrate, die Einbeziehung und Entwicklung von Frauen im Arbeitsleben sowie das heimische und internationale Ansehen der DDR.

    Wie in den übrigen industrialisierten Ländern war auch in der DDR die Geburtenrate im Sinkflug begriffen, ein Trend, der sich in den 1960er und 1970er Jahren beschleunigte. Das war ein besonders drängendes Problem in einem Land, das die bedeutenden Bevölkerungsverluste der 1950er Jahre (durch massenweise Ausreise in die BRD) noch zu verkraften hatte und das nicht auf substantielle Zuwanderung hoffen konnte. Ein weiteres Absinken der Geburtenrate zu verhindern, war von ganz entscheidender Bedeutung: Es ging darum, den Staat mit ausreichend Arbeitskräften für die Zukunft zu versorgen. Aber dies war auch ein wichtiges Schlachtfeld des Kalten Krieges, wie Annette Timm gezeigt hat. Sie betont, es sei für die DDR von besonderer Bedeutung gewesen, zu belegen, dass ihre Einwohner willens waren, mehr Kinder in die Welt zu setzen als ihre westdeutschen Widerparts, da man auf diese Art beweisen konnte, dass die Menschen dort mehr Vertrauen in die Zukunft hatten, in einer sozial gerechteren Gesellschaft lebten und durch ein Gesundheitswesen unterstützt wurden, das sie in die Lage versetzte, ihren Kinderwunsch rational umzusetzen.⁴² Frauen zu ermutigen, bezahlte Arbeit aufzunehmen und weiterzuarbeiten, auch wenn sie Kinder bekamen, war ein fundamentaler Baustein der DDR-Arbeitsmarktpolitik. Die beiden Ziele, Steigerung der Geburtenrate und Steigerung des Anteils weiblicher Arbeitskräfte am Gesamtarbeitsmarkt, waren entscheidend für die Entwicklung von Familien- und Sozialpolitik in der DDR. Nicht zuletzt ging es der SED auch um ihr in- und ausländisches Renommee. Als der ideologische Furor der frühen Jahre nachließ, wurden die verstärkte sexuelle Autonomie und die wachsende Bedeutung der Privatsphäre zu einem zentralen Bestandteil des »Sozialvertrags« zwischen Staat und Bevölkerung.⁴³ Der SED lag viel daran, das Image einer modernen, zukunftsgewandten DDR zu verbreiten, die an führender Stelle innerhalb der progressiven Politikgestaltung lag. Das Verlangen danach, »weltweit führend« zu sein – oder zumindest mit den weltweiten Entwicklungen mithalten zu können –, spielte eine bedeutende Rolle bei der Entkriminalisierung von Abtreibung und Homosexualität und trug entscheidend zur veränderten Haltung des Staates gegenüber der FKK und der Sexualität junger Menschen bei, wie wir noch sehen werden.

    Die staatliche Politik war zudem in einem bemerkenswerten Grad einem Druck von »unten« ausgesetzt, in Form von Eingaben, Beschwerden und Resonanz auf das Verhalten örtlicher Funktionäre. Dieser Aspekt sozialistischer Staatsherrschaft ist zum Ende der 1990er und zum Beginn der 2000er Jahre Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Beschäftigung gewesen. Dabei ist es besonders interessant, zu beobachten, wie sich das wissenschaftliche Interesse von den vertrauten Bereichen der Arbeitsplätze, der Wohnraumverwaltung und der Geschäftswelt wegverlagerte.⁴⁴ Sexualität (im Gegensatz zum Geschlechtsverkehr) betrifft gleichermaßen den privaten Bereich der Körper und Gefühle wie den öffentlichen Bereich der Verwaltung, der Wirtschafts- und der Sozialpolitik. Wie wir sehen werden, waren diese beiden Welten keineswegs streng voneinander getrennt. Auch sollten wir nicht der Versuchung erliegen, anzunehmen, dass die Bedürfnisse der Regierung und die Bedürfnisse der Bevölkerung sich immer gegenseitig ausschlossen. Zwar lagen sie zeitweise ziemlich weit auseinander, aber die populärsten und dauerhaftesten Veränderungen entstanden, wo staatliche und individuelle Interessen in großem Maße deckungsgleich waren. Die Entkriminalisierung der Abtreibung und die Einführung des bezahlten Mutterschaftsurlaubs von zwölf Monaten waren Politikentwicklungen, die sich großer Popularität bei Frauen erfreuten, welche die gestiegene Kontrolle über ihre eigene Fruchtbarkeit und die Gelegenheit, Zeit mit ihren neugeborenen Kindern zu verbringen, sehr begrüßten. Aber die beiden Gesetzesvorhaben dienten zugleich der Absicht des Regimes, Frauen als Teil des ­Arbeitskräftepotentials zu erhalten und dennoch die Geburtenrate zu stützen. Die Marginalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen kann ebenfalls als Ergebnis identischer Prioritäten seitens der Regierung und der heterosexuellen Mehrheit im Lande angesehen werden. Keiner der beiden Gruppen lag etwas an der Lebensqualität homosexueller Staatsbürger, beide teilten nicht selten homophobe Einstellungen. Zudem drohte eine offene Diskussion über Homosexualität viele der Geschlechternormen zu destabilisieren, auf denen die ostdeutsche Gesellschaft beruhte.

    Der DDR-Sozialismus sorgte für ziemlich fundamentale Verhaltensänderungen bei Frauen und – zu einem geringeren Teil – bei Männern, überging dabei allerdings nahezu vollständig, was das für die Geschlechteridentität bedeutete. Die sich verändernde Rolle der Frau in der Gesellschaft wurde endlos diskutiert – angesichts der weltweit höchsten Anteile von Frauen in bezahlter Beschäftigung konnte das auch nicht anders sein.⁴⁵ Vor- und Nachteile der Versuche, zwischen Arbeit, Kindern und politischem Engagement eine neue Balance herzustellen, waren Gegenstand dezidierter Diskussionen. Nur die Rolle der Männer bei alldem wurde wenig thematisiert, obwohl die DDR-Männer immerhin mehr im Haushalt taten als ihre Väter oder gar ihre Gegenparts in der BRD.⁴⁶ Besonders bemerkenswert ist das Ausmaß, in dem die öffentliche Debatte solcher Themata jegliche Diskussion darüber vermied, wie sich ändernde Geschlechterrollen die traditionellen Begriffe von »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« zunehmend in Frage stellten. Dies galt besonders für Männer: Darstellungen von Männern, die Windeln wechselten, standen zwar nun gleichberechtigt neben den üblichen Darstellungen männlicher Arbeiter und Sportler, aber inwieweit dies traditionelle Bilder von »Männlichkeit« untergrub, wurde nur selten debattiert.

    Der Fortbestand traditioneller Geschlechterrollen in einer sich wandelnden Gesellschaft beschränkte sich natürlich nicht nur auf die DDR. In ganz Europa stimmten die Medien, die Politiker und die Mehrheit der Bevölkerungen darin überein, dass die Arbeit geschlechtsspezifisch aufgeteilt werden sollte und dass die Kernfamilie von zentraler Bedeutung war.⁴⁷ In engem Zusammenhang damit stand die Annahme, dass Heterosexualität der einzige »natürliche« Ausdruck von Sexualität war. Heteronormativität, wie dieser Komplex von Überzeugungen zu Geschlecht und Sexualität genannt wurde, schloss nicht nur Schwule und Lesben aus, sondern auch Heterosexuelle, die außerhalb traditioneller Familienstrukturen lebten. In Westeuropa spielten nach 1968 neue Initiativen, wie der Feminismus und die Schwulenbewegung, eine entscheidende Rolle dabei,

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